Читать книгу Das Königreich aus Kupfer - Daevabad Band 2 - S. A. Chakraborty - Страница 14
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NAHRI
»Au! Beim Schöpfer, macht Ihr das etwa mit Absicht? Beim letzten Mal hat es nicht ansatzweise so wehgetan!«
Nahri ignorierte die Beschwerden ihres Patienten und konzentrierte sich ganz auf seinen offenen Unterbauch. Die Haut wurde mit Metallklammern offen gehalten, die zudem weißglühten, um die Wunde nicht zu infizieren. Das Innere des Gestaltwandlers schimmerte in einem blasssilbrigen Ton – oder hätte das zumindest getan, wäre es nicht mit hartnäckigen steinernen Wucherungen übersät gewesen.
Sie holte tief Luft und riss sich zusammen. Es war stickig in der Krankenstube, und sie arbeitete jetzt schon seit wenigstens zwei zermürbenden Stunden an diesem Patienten. Dabei presste sie eine Hand auf seine erhitzte Haut, um den von der Prozedur verursachten Schmerz zu lindern und ihn nicht umzubringen. Mit der anderen bewegte sie eine Stahlpinzette zur nächsten Wucherung. Es war eine komplizierte, langwierige Operation, und ihr stand der Schweiß auf der Stirn.
»Verdammt!«
Sie ließ den Stein in eine Schüssel fallen. »Hört auf, Euch in eine Statue zu verwandeln, dann müsst Ihr das auch nicht ertragen.« Bei diesen Worten hielt sie kurz inne und starrte ihn wütend an. »Das ist jetzt das dritte Mal, dass ich Euch behandeln muss … Wir sind nun mal nicht dazu gedacht, uns in Felsen zu verwandeln.«
Er wirkte ein wenig schuldbewusst. »Es ist aber so friedlich.«
Nahri warf ihm einen verzweifelten Blick zu. »Dann sucht Euch eine andere Entspannungsmethode. Bitte! Nähen!«, rief sie laut. Als sie keine Antwort bekam, schaute sie über die Schulter. »Nisreen?«
»Einen Moment!«
Auf der anderen Seite der voll besetzten Krankenstube erspähte sie Nisreen, zwischen einem hoch mit pharmazeutischen Präparaten bedeckten Tisch und einem anderen, auf dem Instrumente zur Behandlung einer magischen Verbrühung bereitlagen. Nisreen hob ein Silbertablett hoch über den Kopf und bahnte sich einen Weg an den dicht an dicht stehenden Pritschen und Besuchern vorbei. In der Krankenstube gab es nur noch Stehplätze, und auch im Garten davor warteten noch zahlreiche Leute.
Nahri seufzte, als sich Nisreen an einem herumhüpfenden Ayaanle-Artisten, der mit Überschwang verhext worden war, und einem Sahrayn-Metallarbeiter, dessen Haut rauchende Pusteln zierten, vorbeidrängte. »Stell dir nur vor, wir hätten ein Krankenhaus, Nisreen. Ein riesiges Krankenhaus mit Platz zum Atmen und Angestellten, die einem Arbeit abnehmen können.«
»Das ist ein schöner Traum«, erwiderte Nisreen und stellte ihr Tablett ab. »Das Nähzeug.« Sie hielt inne, um Nahris Arbeit zu bewundern. »Hervorragend. Ich staune immer wieder, wie weit du dich entwickelt hast.«
»Ich darf die Krankenstube so gut wie nie verlassen und arbeite den ganzen Tag. Da will ich doch hoffen, dass ich mich weiterentwickle.« Aber sie konnte sich ein Lächeln dennoch nicht verkneifen. Trotz der vielen Stunden und der anstrengenden Arbeit fand Nahri eine tiefe Befriedigung in ihrer Rolle als Heilerin, die wenigstens den Patienten helfen konnte, wenn sie schon nicht in der Lage war, die unzähligen anderen Probleme in ihrem Leben zu lösen.
Sie nähte die Wunde des Gestaltwandlers rasch mit dem verzauberten Faden zu und verband sie, um ihm dann einen Becher mit Opium versetztem Tee in die Hände zu drücken. »Trinkt das, und ruht Euch aus.«
»Banu Nahida?«
Nahri blickte auf. Ein Kammerdiener in den Farben des Königs spähte durch die Tür, die in den Garten führte, und riss die Augen auf, als er sie entdeckte. In der feuchten Hitze innerhalb der Krankenstation sahen Nahris Haare wild aus, und die schwarzen Locken lugten unter ihrem Kopftuch hervor. Ihre Schürze war mit Blut und den Flecken diverser Tränke bedeckt. Ihr fehlte nur noch ein brennendes Skalpell in einer Hand, um wie eine der verrückten, mörderischen Nahid aus den Dschinn-Geschichten auszusehen.
»Was ist?«, fragte sie und versuchte, sich ihre Gereiztheit nicht anmerken zu lassen.
Der Diener verbeugte sich. »Der Emir möchte Euch sprechen.«
Nahri deutete auf das Chaos um sich herum. »Jetzt?«
»Er wartet im Garten.«
Natürlich tut er das. Muntadhir kannte das Protokoll gut genug, um zu wissen, dass sie ihn nicht direkt brüskieren würde, wenn er persönlich erschien. »Na gut«, brummelte sie, wusch sich die Hände und nahm die Schürze ab, bevor sie dem Diener ins Freie folgte.
Im hellen Sonnenlicht musste Nahri erst einmal blinzeln. Der wilde Haremsgarten – der eigentlich eher einem Dschungel glich – war auf dem an die Krankenstube angrenzenden Land von einer Gruppe engagierter Daeva-Gärtner gestutzt und gezähmt worden. Sie hatten sich sehr über diesen Auftrag gefreut und sich begeistert ans Werk gemacht, um die glorreichen Palastlandschaften, für die die Nahid derart berühmt gewesen waren, zumindest im Kleinen wiederherzustellen. Rings um die Krankenstation befanden sich nun silbrig-blau glitzernde Teiche, und die Gehwege säumten perfekt zurechtgestutzte Pistazien- und Aprikosenbäume sowie üppige Rosenbüsche, deren zarte Blütenpracht von einem blassen sonnigen Gelb bis hin zu tiefdunklem Indigo reichte. Zwar wurden die meisten der Kräuter und Pflanzen, die sie bei ihrer Arbeit verwendete, auf dem Familienanwesen der Pramukhs in Zariaspa angebaut, doch alles was bei der Anwendung frisch sein musste, wuchs hier in ordentlich geharkten Eckbeeten voller bebender Teufelsapfelbüsche und fleckig gelbem Becherkraut. Ein Marmorpavillon überragte alles, und darin standen geschnitzte Bänke und einladende weiche Kissen bereit.
Dort wartete Muntadhir auf sie und wandte ihr den Rücken zu. Er musste direkt vom Hof hergekommen sein, da er noch immer die rauchige schwarze Robe mit Goldrand trug, die er bei zeremoniellen Anlässen anhatte, und sein in hellen Farben erstrahlender Seidenturban leuchtete im Sonnenlicht. Er stützte die Hände leicht auf die Balustrade, und seine Körperhaltung strahlte Dominanz aus, als er in ihren Garten hinausblickte.
»Ja?«, fragte sie brüsk und betrat den Pavillon.
Er schaute über die Schulter und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Wie siehst du denn aus?«
»Ich arbeite.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was willst du, Muntadhir?«
Nun drehte er sich ganz zu ihr um und lehnte sich mit dem Rücken ans Geländer. »Du bist letzte Nacht nicht zu mir gekommen.«
Deswegen war er jetzt hier? »Ich war mit meinen Patienten beschäftigt. Außerdem bezweifle ich, dass dein Bett lange kalt geblieben ist.« Sie konnte einfach nicht anders, als diese spitze Bemerkung anzubringen.
Seine Lippen zuckten. »Das ist das dritte Mal nacheinander, dass du so etwas machst, Nahri«, beharrte er. »Du könntest mir wenigstens eine Nachricht schicken, statt mich warten zu lassen.«
Nahri holte tief Luft, und ihre Geduld für Muntadhir – die ohnehin sehr begrenzt war – schwand von Sekunde zu Sekunde. »Es tut mir leid. Beim nächsten Mal lasse ich es dich wissen, damit du direkt zu dem weingeschwängerten Salon eilen kannst, den du momentan frequentierst. Sind wir jetzt fertig?«
Muntadhir verschränkte die Arme. »Du hast ja heute gute Laune. Aber nein, wir sind nicht fertig. Könnten wir uns vielleicht irgendwo ungestört unterhalten?« Er zeigte auf die hellen Zitronenbäume in einiger Entfernung. »Vielleicht in deinem Orangenhain?«
Instinktiv wollte Nahri ablehnen. Der Orangenhain war vor langer Zeit von ihrem Onkel Rustam angelegt worden und lag ihr sehr am Herzen. Rustam war kein so begabter Heiler wie Nahris Mutter Manizheh gewesen, hatte sich jedoch einen hervorragenden Ruf als Botaniker und Apotheker erworben. Selbst Jahrzehnte nach seinem Tod wuchsen die sorgsam für seinen Hain ausgewählten Pflanzen weiter als kräftige, gesunde Bäume, die starke Heilkräfte besaßen und einen betörenden Duft verströmten. Nahri hatte darum gebeten, dass der Hain seinen ursprünglichen Glanz zurückerlangte, da sie die Privatsphäre und den Schatten unter dem dichten Blätterdach der Bäume ebenso genoss wie das Gefühl, auf einem Stück Erde zu stehen, das einst die Hände eines Verwandten bearbeitet hatten.
»Ich lasse dort niemanden hinein«, rief sie ihm in Erinnerung. »Und das weißt du genau.«
Muntadhir schüttelte ob ihrer Dickköpfigkeit den Kopf. »Dann lass uns einfach ein paar Schritte gehen.« Er lief die Stufen hinunter, ohne auf sie zu warten.
Nahri folgte ihm. »Was ist aus der Daeva-Familie geworden, von der ich dir erzählt habe?«, erkundigte sie sich, während sie den gewundenen Weg entlangschlenderten. Wenn Muntadhir sie schon von der Arbeit abhielt, gedachte sie, diesen Umstand auch auszunutzen. »Die, die von der Königsgarde misshandelt wurde.«
»Ich kümmere mich darum.«
Sie blieb stehen. »Noch immer? Du hast mir letzte Woche schon versprochen, mit deinem Vater darüber zu reden.«
»Und das habe ich auch getan«, entgegnete Muntadhir gereizt. »Ich kann nicht einfach losziehen und gegen den Befehl des Königs Verbrecher auf freien Fuß setzen, nur weil du und Jamshid deswegen aufgebracht seid. Die Sache ist viel komplizierter.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Und je mehr du dich einmischst, desto schwerer machst du es. Du weißt doch, was mein Vater davon hält, wenn du in politischen Angelegenheiten mitreden willst.«
Die Worte trafen Nahri schwer, und sie straffte die Schultern. »Ist ja gut«, knurrte sie verbittert. »Du kannst ihm ausrichten, dass seine Warnung angekommen ist.«
Muntadhir nahm ihre Hand, bevor sie sich abwenden konnte. »Ich bin nicht hier, weil er es mir befohlen hat, Nahri«, sagte er. »Ich bin hier, weil ich dein Mann bin. Und unabhängig von dem, was wir beide darüber denken, möchte ich nicht, dass du verletzt wirst.«
Er führte sie zu einer schattigen Bank am Kanal, die hinter einem altersschwachen Neembaum stand, dessen Äste in einer dichten Kaskade aus smaragdgrünen Blättern hinunterhingen und sie vor neugierigen Blicken schützten.
Als er sich setzte, zog er sie neben sich auf die Bank. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du letztens mit meiner Schwester ein ziemliches Abenteuer erlebt hast.«
Sofort verspannte sich Nahri. »Hat dein Vater …«
»Nein«, versicherte Muntadhir ihr rasch. »Zaynab hat mir davon erzählt. Ja«, bestätigte er, als er ihr überraschtes Gesicht sah, »ich weiß von ihren kleinen Ausflügen ins Geziri-Viertel. Davon habe ich schon vor Jahren erfahren. Sie ist schlau genug, um auf sich aufzupassen, und ihre Wache weiß, dass sie zu mir kommen kann, falls es Probleme gibt.«
»Oh!« Das verblüffte Nahri und machte sie seltsamerweise auch ein bisschen eifersüchtig. Die Qahtanis mochten ihre Erzfeinde und ein Haufen hinterlistiger Opportunisten sein, aber diese stillschweigende Loyalität unter den Geschwistern – die auf einer Art von familiärer Liebe beruhte, die Nahri nie kennengelernt hatte –, ließ Neid in ihr aufkeimen.
Sie verdrängte das Gefühl. »Dann hat sie dir auch von dem Krankenhaus erzählt?«
»Sie meinte, sie hätte dich noch nie so aufgeregt erlebt.«
Nahri achtete sorgsam auf eine ausdruckslose Miene. »Es war interessant.«
»Es war interessant?«, wiederholte Muntadhir ungläubig. »Du, die kaum aufhören kann, über die Arbeit in der Krankenstube zu reden, entdeckst das alte Krankenhaus deiner Vorfahren und einige befreite Ifrit-Sklaven, und dein einziger Kommentar lautet ›Es war interessant‹?«
Nahri kaute auf ihrer Unterlippe und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Das Krankenhaus war selbstverständlich sehr viel mehr als nur interessant gewesen, aber die Tagträume, denen sie seit ihrem Besuch dort nachhing, waren zerbrechlich, daher hielt sie es für klüger, diese für sich zu behalten.
Offensichtlich ließ sich Muntadhir nicht so leicht hinters Licht führen. Er nahm wieder ihre Hand. »Ich wünschte, du würdest mit mir reden«, sagte er leise. »Mir ist bewusst, dass keiner von uns diese Ehe gewollt hat, Nahri, aber wir könnten wenigstens versuchen, etwas daraus zu machen. Aber meist habe ich nicht die geringste Ahnung, was dir durch den Kopf geht.« Sein Tonfall klang flehend, doch es schwang auch ein Hauch von Verzweiflung darin mit. »Du bestehst aus mehr Mauern als ein Labyrinth.«
Nahri sagte nichts. Natürlich hatte sie Mauern um sich herum errichtet. So gut wie jeder, den sie kannte, hatte sie mindestens einmal verraten.
Er rieb mit dem Daumen über ihre Handfläche. Ihre Finger zuckten, und sie verzog das Gesicht. »Ich musste heute viele Wunden nähen, und ich glaube, meine inneren Heilkräfte erkennen schmerzende Muskeln nicht länger als ungewöhnlich.«
»Lass mich dir helfen.« Muntadhir nahm ihre Hand in seine Hände und massierte sie, als hätte er jahrelange Erfahrung darin.
Nahri stieß die Luft aus, da augenblicklich ein Teil der Anspannung von ihr abfiel und der Schmerz in ihren Fingern nachließ. »Wer hat dir das beigebracht?«
Er zog an ihren Fingern und dehnte sie, was sich himmlisch anfühlte. »Eine Freundin.«
»Waren du und diese Freundin während dieser Lektion bekleidet?«
»Wenn du es wirklich wissen willst … Das ist eher unwahrscheinlich.« Er grinste verschmitzt. »Würdest du gern wissen, was sie mir noch beigebracht hat?«
Nahri verdrehte die Augen. »Ich wollte mich dir nicht anvertrauen, und jetzt versuchst du, mich mithilfe der Kenntnisse, die du von einer anderen Frau gelernt hast, zu verführen?«
Sein Grinsen wurde breiter. »In der Politik musste ich lernen, wie man kreativ an die Dinge herangeht.« Er strich mit den Fingern leicht über ihr Handgelenk, und Nahri erschauerte unwillkürlich bei seiner Berührung. »Du bist offensichtlich zu beschäftigt, um mein Bett aufzusuchen. Wie soll ich den Frieden, der durch unsere Heiratsallianz begründet werden sollte, denn sonst erhalten?«
»Du bist wirklich schamlos, weißt du das?« Aber ihre Stimme klang nun deutlich entspannter. Muntadhir war wirklich gut in dem, was er tat.
Er malte mit den Fingern zarte Muster auf ihr Handgelenk und sah sie amüsiert an. »Darüber hast du dich noch nie beschwert, wenn du mal den Weg in mein Bett findest.«
Ihre Wangen brannten – und nicht nur vor Scham. »Du hast mit halb Daevabad geschlafen, da solltest du doch wohl auch einiges gelernt haben.«
»Das klingt wie eine Herausforderung.«
Seine schelmische Miene ließ die verräterische Hitze in ihrer Mitte noch intensiver werden. »Ich muss arbeiten«, protestierte sie, als er sie auf seinen Schoß zog. »Auf mich warten wenigstens ein Dutzend Patienten. Und wir sind im Garten. Jemand könnte …« Sie brach ab, als er die Lippen auf ihren Hals drückte und ihre Kehle mit Küssen bedeckte.
»Hier kann uns niemand sehen«, murmelte Muntadhir, dessen Atem warm über ihre Haut wehte. »Und du musst dich ganz eindeutig entspannen. Betrachte es als deine professionelle Pflicht.« Er schob die Hände unter ihre Tunika. »Deine Patienten haben doch viel mehr von einer Banu Nahida, die nicht länger so schnippisch ist.«
Nahri seufzte und presste sich trotz ihres inneren Widerstands an ihn. Er ließ den Mund weiter nach unten wandern, und sein Bart kitzelte sie auf Kragenhöhe. »Ich bin nicht schnippisch …«
Hinter dem Baum ertönte ein höfliches Räuspern, gefolgt von einem quäkigen »Emir?«.
Muntadhir nahm weder die Hände noch die Lippen von Nahri. »Ja?«
»Euer Vater möchte mit Euch sprechen. Er sagt, es sei dringend.«
Nahri erstarrte, da es ihr immer kalt den Rücken hinunterlief, wenn Ghassan erwähnt wurde.
Muntadhir seufzte. »Dringend ist es doch immer.« Er rückte von ihr ab und sah ihr in die Augen. »Essen wir heute Abend zusammen?«, fragte er. »Ich bestelle dir auch diesen seltsamen Blumentee, und du darfst meine Schamlosigkeit nach Herzenslust beleidigen.«
Nahris Verlangen, mit ihm zu Abend zu essen, hielt sich in Grenzen, aber sie hatte eindeutig nichts dagegen, das fortzusetzen, was sie eben angefangen hatten. Denn die letzte Zeit war für sie in der Tat sehr anstrengend gewesen, und in den Nächten, die sie in Muntadhirs Gemächern verbrachte, bekam sie im Allgemeinen mehr Schlaf; unter normalen Umständen musste ein Patient schon im Sterben liegen, damit ein Diener den Mut aufbrachte, den Emir und seine Gattin zu stören.
Außerdem appellierte die Hoffnung in seinen Augen an den letzten Rest von Zärtlichkeit, der in ihrem Herzen noch übrig war, denn trotz all seiner Fehler – und davon hatte er eine Menge – mangelte es ihrem Mann nicht an Charme. »Ich werde es versuchen«, erwiderte sie und verkniff sich ein Lächeln.
Er grinste und wirkte durch und durch zufrieden. »Hervorragend.« Dann löste er sich von ihr.
Rasch richtete Nahri ihre Tunika; sie würde nicht in die Krankenstube zurückkehren und dabei aussehen, als hätte sie … nun ja, als hätte sie genau das getan, was sie getan hatte. »Viel Glück bei dem, was immer dein Vater von dir will.«
Muntadhir verdrehte die Augen. »Es ist bestimmt nicht weiter wichtig.« Er legte sich eine Hand aufs Herz. »In Frieden.«
Sie sah ihm hinterher und nahm sich eine Minute, um die frische Luft und das Zwitschern der Vögel zu genießen. Es war ein wunderschöner Tag, und sie ließ den Blick träge über den Kräutergarten wandern.
Er fiel auf einen Shafit, der durch die Büsche huschte.
Nahri runzelte die Stirn und beobachtete, wie der Mann an einem Salbeibeet vorbeilief und vor einer Weide stehen blieb. Er wischte sich die Stirn und schaute nervös über die Schulter.
Seltsam. Einige der Gärtner waren Shafit, doch es war niemandem gestattet, die Nahid-Pflanzen zu berühren, außerdem kam ihr dieser Mann nicht bekannt vor. Er holte eine Schere aus dem Gürtel und öffnete sie, als wollte er einen der Äste abschneiden.
Im nächsten Moment war Nahri auf den Beinen, und ihre Seidenslipper und die jahrelange Erfahrung als Diebin bewirkten, dass ihre Schritte so gut wie lautlos blieben. Der Mann blickte nicht einmal auf, bis sie direkt hinter ihm stand.
»Was habt Ihr mit meinem Baum vor?«, verlangte sie zu erfahren.
Der Shafit zuckte zusammen und wirbelte so schnell herum, dass er seine Kappe verlor. Er riss die menschlichen haselnussbraunen Augen auf und starrte sie entsetzt an.
»Banu Nahida!« Er keuchte auf. »Ich … Vergebt mir«, bettelte er und legte die Hände zusammen. »Ich wollte nur …«
»Meine Weide verstümmeln? Ja, das ist mir durchaus aufgefallen.« Sie berührte den abgeschnittenen Ast, und frische Borke entstand unter ihren Fingern. Nahri besaß selbst ein wenig botanisches Talent, hatte jedoch nie den Versuch unternommen, es zu entwickeln, auch wenn Nisreen sie immer wieder darin bestärkte. »Ist Euch bewusst, was passiert wäre, wenn Euch jemand anders …« Sie hielt inne, da ihr die nackte Kopfhaut des Mannes ins Auge fiel. Diese war entstellt; sein Haar wuchs an den Schläfen lang, oben auf dem Kopf hatte er jedoch kahle oder mit kurzen Haaren bewachsene Stellen, als hätte er sich hastig rasiert. Die Haut sah fleckig und lila aus und war leicht geschwollen, und in der Mitte prangte ein seltsam flacher Fleck von der Größe einer Münze. Halbmondförmiges Narbengewebe umgab diese Stelle, die genäht worden war, und zwar von kundiger Hand.
Von ihrer Neugier überwältigt streckte Nahri eine Hand aus und berührte die geschwollene Stelle vorsichtig. Sie fühlte sich weich an – zu weich, und als Nahri ihre Sinne ausstreckte, wurde ihr das Unmögliche bestätigt.
Unter der Haut war ein kleines Stück des Schädels entfernt worden.
Nahri keuchte auf. Die Verletzung heilte; sie konnte das Aufflackern des wachsenden neuen Knochens spüren, aber dennoch … Sie ließ die Hand sinken. »Wer hat Euch das angetan?«
Der Mann stand wie versteinert vor ihr. »Ich hatte einen Unfall.«
»Einen Unfall, bei dem man Euch ein sauberes Loch in den Schädel gebohrt und es dann zugenäht hat?« Nahri kniete sich neben ihn. »Ich werde Euch nicht wehtun«, versprach sie. »Ich möchte nur wissen, was passiert ist, und mich vergewissern, dass niemand durch Daevabad läuft und den Leuten münzgroße Löcher in den Schädel schneidet.«
»So war das nicht.« Er kaute auf seiner Unterlippe und sah sich hektisch um. »Ich bin von einem Dach gefallen und habe mir den Kopf angeschlagen«, flüsterte er. »Die Ärzte haben meiner Frau gesagt, dass sich unter dem Knochen eine Schwellung gebildet hat und dass sie den Druck lindern und mir das Leben retten können, wenn sie einen Teil der Schädeldecke entfernen.«
Nahri blinzelte. »Die Ärzte?« Sie betrachtete den Baum, von dem er einen Ast abgeschnitten hatte. Eine Weide. Natürlich. Sowohl die Blätter als auch die Borke waren wertvoll, da sich daraus leicht ein schmerzlinderndes Medikament herstellen ließ. Schmerzlindernd für Menschen. »Haben sie auch darum gebeten?«
Er schüttelte noch immer zitternd den Kopf. »Ich habe es von mir aus angeboten. Ich hatte ein Bild in einem ihrer Bücher gesehen und glaubte, so einen Baum gesehen zu haben, als ich letztes Jahr hier ein Dach repariert habe.« Er bedachte sie mit einem flehenden Blick. »Sie sind gute Leute und haben mir das Leben gerettet. Ich wollte nur helfen.«
Nahri fiel es schwer, ihre Aufregung im Zaum zu halten. Shafit-Ärzte, die operieren konnten und medizinische Bücher besaßen? »Wer?«, fragte sie eifrig. »Wer sind diese Ärzte?«
Er senkte den Blick. »Wir sollen nicht über sie sprechen.«
»Ich will ihnen nichts Böses.« Sie legte eine Hand auf ihr Herz. »Das schwöre ich bei der Asche meiner Ahnen. Ich werde ihnen sogar selbst etwas Weide bringen und auch einige andere Dinge. In meiner Apotheke befinden sich viele Arzneien, die auch für Shafit geeignet sind.«
Der Mann wirkte, als wäre er hin- und hergerissen. Nahri musterte ihn abermals und bemerkte seine nackten Füße und seine zerlumpte Dschallabija. Seine mit dicken Schwielen bedeckten Hände.
Von einem Anflug von Selbsthass überkommen, zog Nahri einen Goldring aus der Tasche. Sie hatte vergessen, ihn vor der Arbeit in der Krankenstube abzunehmen, und ihn dann dort verstaut. Kleine Rubine waren in einem Blumenmuster darin eingelassen.
Sie drückte ihm den Ring in die Hand. »Nennt mir einen Namen und einen Ort.« Er riss die Augen auf und starrte den Ring an. »Ich werde ihnen nichts tun, das verspreche ich. Ich möchte nur helfen.«
In seinem Gesicht stand Sehnsucht, und Nahri konnte sich vorstellen, dass ein solcher Ring für einen Shafit-Arbeiter ein kleines Vermögen sein musste.
»Subhashini Sen«, flüsterte er. »Das Haus mit der roten Tür in der Sukariyya-Straße.«
Nahri lächelte. »Danke!«
Eine kleine Armee von Dienerinnen erwartete Nahri, als sie mit der Arbeit fertig war, und sie hatte kaum einen Fuß in den dampfverhangenen Hammam gesetzt, als sie auf sie zustürzten, ihr die mit Blut und Tränken beschmierte Kleidung abnahmen, um diese zu waschen, und sie gründlich abschrubbten, bevor sie ihre Haut mit Rosenwasser übergossen und ihre Gliedmaßen mit kostbaren Ölen massierten, um dann zu versuchen, ihre wilden Locken in eine elegante Krone aus Zöpfen zu verwandeln.
Da sie es noch nie gemocht hatte, die Kontrolle abzugeben, bestand Nahri jedoch weiterhin darauf, sich die Kleidung selbst auszusuchen. Für diesen Abend wählte sie ein Kleid aus dem feinsten Leinenstoff, den sie jemals berührt hatte. Es war ärmellos, fiel ihr wie ein blassgelber Mantel bis auf die Fußknöchel und wurde von einem verzierten Kragen aus Hunderten von Perlen zusammengehalten: Lapislazuli, Gold, Karneol und Topas. Er erinnerte Nahri an zu Hause, denn das Muster sah aus, als wäre es einem der alten Tempel in Ägypten entlehnt.
Eine Dienerin hatte ihr soeben den zarten Kragen angelegt, als eine weitere mit einem diskreten Kosmetiktiegel aus Elfenbein zu ihr trat. »Soll ich Euch die Haut pudern, edle Dame?«, fragte sie.
Nahri betrachtete den Tiegel. Dies war eine unschuldige Frage, bei der sich ihr Magen dennoch jedes Mal zusammenzog. Instinktiv blickte sie auf und betrachtete sich in dem polierten Silberspiegel auf dem Frisiertisch.
In Daevabad wurde zwar eine strikte Grenze zwischen den Shafit und den Reinblütigen gezogen, die auf Jahrhunderten der Gewalt beruhte und im Gesetz verankert war, doch in ihrem Erscheinungsbild unterschieden sie sich gar nicht so sehr voneinander, wie die Machtverhältnisse vermuten ließen. Die Reinblütigen hatten selbstverständlich spitze Ohren und Augen in metallischen Tönen, deren Farbe sich je nach Stamm unterschied. Darüber hinaus glänzte und schimmerte ihre Haut und war von einem Dunstschleier überzogen, der das heiße pechschwarze Blut erkennen ließ, das in ihren Adern simmerte. Abhängig von ihrer Herkunft und etwas Glück besaßen Shafit eine Mischung aus menschlichen und Dschinn-Zügen: Menschenaugen mit perfekten spitzen Ohren oder aber den zinnfarbenen Blick der Agnivanshi, jedoch ohne die strahlende Haut.
Und dann gab es da noch Nahri.
Auf den ersten Blick hatte sie absolut gar nichts Magisches an sich. Ihre Ohren waren abgerundet wie die eines Menschen und ihre Haut von einem matten Braunton. Ihre schwarzen Augen waren zwar dunkel, doch sie hatte schon immer den Eindruck gehabt, ihnen würde die schimmernde ebenholzfarbene Tiefe fehlen, die die Daeva kennzeichnete. Aufgrund ihres Gesichts hatte Dara einst geglaubt, eine Shafit mit höchstens einem Tropfen magischen Bluts in den Adern vor sich zu haben. Doch dieses Gesicht war anscheinend eine Lüge, das Produkt eines Marid-Fluchs – jedenfalls laut der Ifrit, die sie gejagt hatten, und Ghassan hatte diese Behauptung öffentlich gemacht, als er sie zur Reinblütigen erklärte.
Insgeheim war er natürlich völlig anderer Meinung. Nicht dass es irgendeinen Unterschied machte. Nahri vermutete, dass sie nie mehr über ihre wahre Herkunft erfahren würde. Allerdings hatte sich ihre laxe Einstellung in Bezug auf ihr Erscheinungsbild nach der Hochzeit mit Muntadhir verändert. Die zukünftige Königin von Daevabad musste auch so aussehen, daher wurde sie stets so frisiert, dass ihre Zöpfe die Spitzen der Ohren verbargen. Man mischte Asche in ihren Kajal, um ihre Augen dunkler wirken zu lassen. Schließlich war auch der verfluchte Elfenbeintiegel aufgetaucht. Er enthielt einen unfassbar teuren Puder, bei dem nur der Schöpfer allein wusste, woraus dieser hergestellt wurde, und wenn man diesen auf Nahris Haut auftrug, schimmerte ihre Haut stundenlang wie die einer Reinblütigen.
Das war nur eine Illusion, eine Zeitverschwendung und eine Fassade – und das alles für eine zukünftige Königin, die nicht einmal ihre Stammesmitglieder davor bewahren konnte, vor ihren Augen geschlagen und ausgeraubt zu werden. Zudem verursachte ihr die Tatsache, dass man ihre Shafit-Dienerinnen dazu zwang, sie wie eine der Reinblütigen aussehen zu lassen, durch die ihr Leben derart eingeschränkt wurde, Übelkeit. »Nein«, antwortete sie schließlich und versuchte, sich ihren Abscheu nicht anmerken zu lassen. »Das brauche ich nicht.«
Es klopfte an der Tür, und Nisreen trat ein.
Nahri stöhnte auf. »Nein. Ich hätte wirklich gern mal einen freien Abend. Sag demjenigen, er soll sich selbst heilen.«
Ihre Mentorin schenkte ihr ein gekränktes Lächeln. »Ich suche dich nicht immer nur wegen der Arbeit auf.« Sie warf Nahris Dienerinnen einen Blick zu. »Würdet ihr uns bitte allein lassen?«
Die Mädchen gehorchten sofort, und Nisreen trat zu Nahri an den Frisiertisch. »Du siehst sehr hübsch aus«, stellte sie fest. »Das Kleid ist wunderschön. Ist es neu?«
Nahri nickte. »Ein Geschenk von einer Sahrayn-Näherin, die sehr froh ist, nicht länger unter den Silberpocken zu leiden.«
»Dein Mann wird den Blick nicht von dir abwenden können.«
»Gut möglich.« Nahri war dieses Thema durchaus peinlich, auch wenn sie den Grund dafür nicht ganz begriff. Muntadhir hatte sie wegen ihres Namens und nicht wegen ihres Körpers geheiratet, und ihr Gatte war ständig von atemberaubend schönen Dschinn umgeben – ebenso Männer wie Frauen mit engelsgleichen Stimmen und einem Lächeln, das Menschen den Verstand rauben konnte –, daher kam ihr schon der Versuch, ihm ins Auge zu fallen, wie reine Zeitverschwendung vor.
Nisreens Blick zuckte zur Tür, bevor sie den kleinen Silberkelch abstellte, den sie bis dahin sorgsam in den Falten ihres Schals verborgen hatte. »Ich habe dir deinen Tee zubereitet.«
Nahri starrte den Kelch an, in dem sich eine nach Kräutern duftende blassgrüne Flüssigkeit befand. Sie wussten beide, um was für eine Art von »Tee« es sich handelte: Die Art, die Nahri nur trank, bevor sie Muntadhir besuchte. »Ich mache mir noch immer Sorgen, dass man uns dabei erwischt.«
Nisreen zuckte mit den Achseln. »Ghassan ahnt vermutlich etwas, aber du bist eine Nahid-Heilerin. In dieser Sache wird er dich wohl kaum ausmanövrieren können, und es ist das Risiko wert, wenn wir dir damit etwas Zeit verschaffen können.«
»Etwas Zeit ist aber auch alles, was wir dadurch gewinnen.« Noch hatte Ghassan das Thema Enkelkinder nicht deutlich zur Sprache gebracht. Dschinn empfingen nicht so ohne Weiteres, daher war es nicht im Geringsten erstaunlich, dass der Emir und seine Gattin noch nicht mit einem Erben gesegnet worden waren. Aber sie bezweifelte, dass er noch lange den Mund halten würde.
Nisreen schien ihre Unsicherheit zu spüren. »Das reicht uns vorerst.« Sie drückte Nahri den Kelch in die Hände. »Wir müssen von einem Tag zum nächsten denken.«
Nahri trank den Tee, stand auf und zog sich eine Robe mit Kapuze über das Kleid. »Ich sollte gehen.« Sie war früh dran, aber wenn sie jetzt aufbrach, konnte sie sich durch die abgelegenen Gänge schleichen und für ein paar Minuten allein sein, statt von einem von Muntadhirs Kammerdienern begleitet zu werden.
»Ich werde dich nicht aufhalten.« Nisreen erhob sich ebenfalls, und als sie Nahri in die Augen sah, wirkte sie entschlossen. »Verlier nicht den Glauben, meine Liebe. Deine Zukunft hier ist rosiger, als du denkst.«
»Das sagst du immer.« Nahri seufzte. »Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht.«
»Eines Tages wirst du sie haben«, versprach Nisreen und scheuchte sie aus dem Raum. »Und jetzt geh.«
Nahri ging durch einen der privaten Korridore, die vom Haremsgarten in die königlichen Gemächer auf der oberen Ebene der Palastpyramide führten, von denen aus man einen umwerfenden Blick auf den See genoss. Abgesehen von Zaynab, die den tiefer gelegenen Garten bevorzugte, lebten alle Qahtanis dort.
So wie Ali früher. Der Gedanke kam ihr völlig unverhofft – und unerwünscht. Sie dachte nur ungern an Ali und ärgerte sich jedes Mal aufs Neue darüber, dass sie selbst fünf Jahre nach dieser Nacht Scham überkam, wenn sie sich daran erinnerte, wie ihr vermeintlicher Freund sie und Dara in eine tödliche Falle gelockt hatte. Der naive junge Prinz hätte der Letzte sein dürfen, der sie reinlegen konnte, und doch war es ihm gelungen.
Außerdem grämte es sie, dass sie sich trotz allem Sorgen um ihn machte. Denn es war schrecklich offensichtlich – auch wenn die Qahtanis standhaft etwas anderes behaupteten –, dass Ali nicht einfach nur eine Garnison im Land seiner Ahnen leitete. Er war verstoßen worden, und zwar unter schrecklichen Bedingungen, wie Nahri vermutete.
Sie trat auf den gewaltigen Balkon hinaus, der einmal an Muntadhirs Gemächern entlangführte. Wie alles, was er besaß, war auch dieser überaus prächtig; die hölzernen Geländer und Trennwände waren mit Schnitzereien verziert, sodass sie an einen Garten erinnerten, und man hatte bestickte Seidentücher angebracht, die die Illusion erschufen, in einem Zelt zu sitzen. Weihrauch glomm in einer Feuerschale vor einem Haufen Brokatkissen, von denen aus man den besten Blick auf den See hatte.
Allerdings waren diese Kissen im Augenblick nicht leer. Nahri blieb abrupt stehen, als sie Jamshid und Muntadhir bemerkte, die einander gegenübersaßen. Jamshids Anwesenheit überraschte sie nicht, ganz im Gegensatz zu der Tatsache, dass sich die beiden augenscheinlich stritten.
»Dann sag deinem Vater, er soll ihn zurückschicken!«, beharrte Jamshid. »Gibt es einen Grund dafür, dass er seine verdammte Fracht nicht am Strand abladen und direkt wieder umkehren kann?«
»Ich habe es versucht.« Muntadhir wirkte fast schon hysterisch. »Ich habe meinen Vater angefleht, und weißt du, was er zu mir gesagt hat?« Er lachte erstickt und freudlos. »Ich soll meine Nahid-Frau endlich schwängern, wenn ich mir solche Sorgen um meine Stellung mache. Mehr sind wir nicht für ihn, nur Figuren in seinem politischen Spiel. Und nun kehrt seine beste und liebste Figur wieder zurück.«
Nahri runzelte verwirrt die Stirn. Sie verdrängte ihr schlechtes Gewissen ob der Tatsache, dass sie die beiden belauschte – das sie allerdings eher gegenüber Jamshid, ihrem Freund, hatte, und nicht etwa ihren Politikergatten betreffend, bei dem sie fest davon ausging, dass er einen oder zwei Spione in ihrer Krankenstube unterhielt. Sie schlich näher heran, um sich in einer Nische hinter einem großen eingetopften Farn und einem verzierten Paravent zu verbergen.
Sie holte tief Luft. Die Magie des Palastes war ebenso unvorhersehbar wie mächtig, und obwohl Nahri rasch herausgefunden hatte, wie sie diese heraufbeschwören konnte, gab es doch immer ein Restrisiko – sie zweifelte nicht daran, dass Ghassan sie bestrafen lassen würde, wenn er auch nur von ihren Plänen ahnte.
Aber manchmal war ein Restrisiko die Sache wert. Nahri konzentrierte sich auf die Schatten zu ihren Füßen. Wachst, befahl sie, zog sie näher zu sich heran und ließ zu, dass ihre Angst vor einer Entdeckung sich ausdehnte. Beschützt mich.
Sie taten es; die Schatten umgaben sie mit einem Umhang aus Dunkelheit. Erleichtert trat Nahri näher an den Paravent heran, um durch die Schlitze im Holz zu spähen. Die beiden Männer waren allein, und Jamshid saß auf dem Rand eines Kissens und betrachtete Muntadhir mit besorgter Miene.
Muntadhir sprang sichtlich zitternd auf. »Seine Mutter wird mich umbringen.« Er ging auf und ab und zupfte nervös an seinem Bart. »Die Ayaanle wünschen sich das schon seit Jahren. Sobald er zurück in Daevabad ist, werde ich mit einem Strick um den Hals aufwachen.«
»Das wird nicht passieren«, erklärte Jamshid entschieden. »Du musst dich beruhigen, Muntadhir, und das – Nein!« Seine Hand schoss vor, um Muntadhir davon abzuhalten, die Weinflasche vom Tisch zu nehmen. »Hör auf damit. Das wird dir nicht helfen.«
Muntadhirs Lippen umspielte ein gequältes Lächeln. »Das sehe ich anders«, murmelte er und sah aus, als wäre er den Tränen nahe. »Wein soll angeblich ein hervorragender Weggefährte beim eigenen Niedergang sein.«
»Es wird keinen Niedergang geben.« Jamshid zog Muntadhir neben sich aufs Kissen. »Das wird nicht passieren«, versicherte er Muntadhir, der sich abwandte. »Muntadhir …« Jamshid zögerte, und als er weitersprach, schien er auf der Hut zu sein. »Die Reise nach Daevabad ist sehr lang und gefährlich. Du musst doch Leute haben, die …«
Doch Muntadhir schüttelte energisch den Kopf. »Ich kann das nicht. So etwas bringe ich nicht über mich.« Er biss sich auf die Unterlippe und starrte in bitterer Resignation zu Boden. »Jedenfalls noch nicht.« Dann wischte er sich über die Augen und holte tief Luft, bevor er sich genug unter Kontrolle hatte, um fortfahren zu können. »Entschuldige! Ich sollte dich damit nicht belasten. Du hast unter der Politik meiner Familie schon genug leiden müssen.«
»Jetzt mach dich nicht lächerlich.« Jamshid berührte Muntadhirs Wange. »Ich möchte, dass du mit solchen Dingen zu mir kommst.« Er lächelte. »Wenn ich ehrlich sein soll, sind deine anderen Gefährten nichts als nutzlose Kriecher.«
Das entlockte ihrem Gatten ein Lachen. »Wohingegen ich mich darauf verlassen kann, dass deine Beleidigungen immer ehrlich gemeint sind.«
»Und ich sorge für deine Sicherheit.« Jamshid legte Muntadhir die Hand unters Kinn. »Dir wird nichts zustoßen, das schwöre ich dir. So etwas lasse ich nicht zu, und in derartigen Dingen bin ich schrecklich ehrenhaft.«
Abermals lachte Muntadhir. »Das weiß ich.« Er atmete erneut tief ein und schloss die Augen, als hätte er Schmerzen. Seine nächsten Worte klangen traurig. »Du fehlst mir.«
Jamshid verzog das Gesicht und wurde schlagartig ernst. Er schien erst jetzt zu bemerken, wo er seine Hand hatte, und starrte den Mund ihres Mannes an. »Es tut mir leid«, wisperte er. »Ich wollte nicht …«
Der Rest des Satzes kam nicht mehr über seine Lippen. Denn auf einmal küsste Muntadhir ihn, und das mit einer Verzweiflung, die offensichtlich erwidert wurde. Jamshid fuhr mit einer Hand in Muntadhirs dunkles Haar und zog ihn an sich …
Um ihn wieder wegzustoßen. »Ich kann das nicht«, stieß Jamshid hervor, der am ganzen Körper zitterte. »Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann das nicht. Nicht mehr. Ich habe es dir bei deiner Hochzeit gesagt. Sie ist meine Banu Nahida.«
Nahri wich benommen einen Schritt zurück. Das lag nicht etwa an der Andeutung vergangener Intimitäten zwischen den beiden Männern – zuweilen hatte sie den Eindruck, Muntadhir hätte mit der Hälfte aller Personen, die er kannte, geschlafen. Aber diese Affären, Flirts mit den verschiedenen Außenministern, Tändeleien mit Poeten und Tänzerinnen, wirkten stets so beiläufig.
Die Qual, die nun von ihrem Gatten ausging, war alles andere als beiläufig. Vergessen war der Emir, der sie im Garten selbstsicher auf seinen Schoß gezogen hatte. Muntadhir war zurückgewichen, als wäre er geschlagen worden, als Jamshid ihn weggestoßen hatte, und nun sah er aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Mitgefühl stieg in ihr auf. Trotz all der Macht und des Glanzes am Hofe wurde ihr in diesem Moment bewusst, wie unfassbar einsam dieser Ort sie alle gemacht hatte.
Muntadhir starrte zu Boden. »Natürlich.« Es schien ihm schwerzufallen, die Fassung zu bewahren. »Dann solltest du jetzt vielleicht besser gehen«, fügte er steif hinzu. »Sie müsste jeden Augenblick eintreffen, und ich möchte dich nicht in eine unangenehme Lage bringen.«
Jamshid seufzte und stand mühsam auf. Er stützte sich auf seinen Gehstock und sah Muntadhir resigniert an. »Ist es dir schon gelungen, die Daeva zu befreien, von denen Nahri und ich dir erzählt haben?«
»Nein«, antwortete Muntadhir ihm mit ausdrucksloserer Stimme als Nahri an diesem Nachmittag. »Es ist nicht gerade einfach, Personen zu befreien, wenn sie sich des Verbrechens schuldig gemacht haben, das ihnen vorgeworfen wird.«
»Ist es jetzt schon ein Verbrechen, öffentlich über die Konsequenzen der Finanzpolitik deines Vaters zu sprechen?«
Muntadhir hob ruckartig den Kopf. »In Daevabad herrscht auch ohne derartigen Klatsch schon genug Unruhe. So etwas schadet der Moral und sorgt dafür, dass das Volk den Glauben an seinen König verliert.«
»Ebenso wie die willkürliche Verhaftung von Untertanen, die zufälligerweise über Grundbesitz und Wohlstand verfügen, der von der Schatzkammer konfisziert werden kann.« Jamshid kniff die Augen zusammen. »Wobei ich mit ›Untertanen‹ eigentlich nur Daeva meine. Wir wissen doch alle, dass die anderen Stämme nicht so behandelt werden.«
Muntadhir schüttelte den Kopf. »Er versucht, den Frieden zu bewahren, Jamshid. Und tu bitte nicht so, als würde es ihm dein Volk leicht machen.«
Jamshid presste die Lippen aufeinander. »Du hast dich verändert, Muntadhir. Und da wir uns ja einig sind, dass ich der Einzige bin, der ehrlich zu dir ist … muss ich dich warnen, dass du denselben Weg einschlägst, der deinen Worten zufolge deinen Vater ruiniert hat.« Er wandte sich ab. »Grüß Nahri von mir.«
»Jamshid …«
Doch Jamshid ging weiter und hielt auf die Stelle zu, an der sich Nahri versteckte. Rasch wich sie bis zur Treppe zurück, um vorzugeben, eben erst eingetroffen zu sein.
»Jamshid!«, begrüßte sie ihn mit gespielter Freude. »Was für eine schöne Überraschung!«
Er rang sich ein Lächeln ab, das jedoch nicht überzeugend wirkte. »Banu Nahida«, erwiderte er mit leicht rauer Stimme. »Bitte verzeiht. Ich wollte Euren Abend nicht stören.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie sanft und konnte den Schmerz in seinem Gesicht kaum ertragen. Muntadhir sah nicht zu ihnen herüber; er war an den Rand des Balkons getreten und blickte auf die funkelnden Feuer in der Stadt unter ihnen hinunter. Sie berührte Jamshids Schulter. »Kommt morgen bei mir vorbei. Ich habe eine neue Salbe, mit der ich Euren Rücken behandeln möchte.«
Er nickte. »Dann bis morgen!« Schon war er an ihr vorbei und verschwand im Palast.
Unsicher ging Nahri einige Schritte. »Friede sei mit dir«, rief sie ihrem Gatten zu. »Falls dies ein schlechter Zeitpunkt ist …«
»Ganz und gar nicht.« Muntadhir drehte sich zu ihr um. Eins musste Nahri ihm lassen: Er war zwar blass, doch die rohen Emotionen von eben waren aus seinem Gesicht verschwunden. Vermutlich erlernte man diese Fähigkeit in einigen Jahrzehnten am Hof. »Entschuldige!« Er räusperte sich. »Ich hatte nicht so früh mit dir gerechnet.«
Offensichtlich. Sie zuckte mit den Achseln. »Ich war früher fertig.«
Muntadhir nickte. »Soll ich einen Diener rufen?«, schlug er vor und überquerte den Balkon. »Er kann uns etwas zu essen bringen.«
Nahri hielt ihn am Handgelenk fest. »Warum setzen wir uns nicht erst einmal?«, meinte sie leise. »Ich habe noch keinen Hunger, daher können wir uns vorher ein bisschen unterhalten.«
Sie hatten kaum auf den Kissen Platz genommen, da griff Muntadhir auch schon nach der Weinflasche. »Möchtest du etwas?«, erkundigte er sich und füllte seinen Becher bis zum Rand.
Nahri beobachtete ihn. Sie war nicht Jamshid und fühlte sich nicht wohl dabei, ihn davon abzuhalten. »Nein … danke.« Er leerte fast den ganzen Becher und schenkte sich sofort wieder nach. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich. »Das Treffen mit deinem Vater …«
Muntadhir zuckte zusammen. »Können wir über etwas anderes sprechen? Vorerst zumindest?«
Sie hielt inne. Auch wenn sie irrsinnig gern erfahren hätte, welches Thema bei Ghassan zur Sprache gekommen war, das diesen Streit mit Jamshid heraufbeschworen hatte, entschied sie, dass ein Themenwechsel seine finstere Stimmung vielleicht aufheitern könnte.
Und sie wusste auch genau, worüber sie sprechen wollte. »Aber natürlich. Nachdem du heute gegangen warst, ist im Garten etwas Interessantes vorgefallen. Ich bin einem Shafit mit einem Loch im Schädel begegnet.«
Muntadhir verschluckte sich und verschüttete etwas Wein. »Du hast einen toten Shafit in deinem Garten gefunden?«
»Nein, er war nicht tot«, korrigierte Nahri ihn gut gelaunt. »Er sah sogar recht lebendig aus und sagte, ein Chirurg hätte ihn operiert, um ihm das Leben zu retten. Ein Shafit-Chirurg, Muntadhir.« Bewunderung stahl sich in ihre Stimme. »Jemand mit genug Kenntnissen, um ein Loch in den Schädel eines Mannes zu bohren, es wieder zuzunähen und ihn am Leben zu erhalten. Und es sah perfekt aus. Zugegeben, die Stelle, an der der Knochen entnommen worden war, fühlte sich etwas schwammartig an, aber …«
Muntadhir hob eine Hand und sah aus, als wäre ihm übel. »Ich muss keine Einzelheiten hören.« Er betrachtete seinen blutroten Wein mit leicht angewiderter Miene und stellte den Kelch ab. »Na und?«
»Na und?«, wiederholte Nahri empört. »Das lässt ein ganz außergewöhnliches Talent erkennen! Dieser Arzt wurde möglicherweise sogar in der Welt der Menschen ausgebildet. Ich konnte den Mann im Garten überreden, mir einen Namen und die Straße, in der er arbeitet, zu verraten.«
»Aber was willst du mit dieser Information?« Muntadhir wirkte perplex.
»Ich möchte ihn finden! Schließlich bin ich die Banu Nahida. Ich sollte sicherstellen, dass er wirklich Arzt ist und nicht irgendein … Betrüger, der verzweifelte Shafit ausnutzt.« Nahri räusperte sich. »Aber ich würde ihn auch sehr gern kennenlernen. Er könnte von großem Nutzen sein, vor allem, wenn man bedenkt, wie viel ich von dem, was mir Yaqub beigebracht hat, heute noch nutze.«
Muntadhir schien immer verwirrter zu werden. »Yaqub?«
Ihr Magen zog sich zusammen. Nahri war nicht daran gewöhnt, über ihre Leidenschaften zu sprechen, die Dinge, die ihr am Herzen lagen, und Muntadhirs Verwunderung machte ihr die Sache nicht leichter. »Der Apotheker, für den ich in Kairo gearbeitet habe, Muntadhir. Der alte Mann. Mein Freund. Ich weiß genau, dass ich ihn schon einmal erwähnt habe.«
Muntadhir runzelte die Stirn. »Du willst also einen Shafit-Arzt aufsuchen, weil du früher in der Menschenwelt mal einen Apotheker zum Freund hattest?«
Nahri holte tief Luft und erkannte die Gelegenheit. Dies mochte nicht der beste Zeitpunkt sein, aber Muntadhir hatte schließlich gesagt, er würde sich wünschen, dass sie ihm gegenüber offener wäre, und im Augenblick quoll ihr Herz beinahe über. »Weil ich herausfinden möchte, ob wir vielleicht zusammenarbeiten können … Es ist so schwer, hier die einzige Heilerin zu sein, Muntadhir«, gab sie zu. »Ich bin einsam. Die Verantwortung belastet mich. Manchmal kann ich kaum schlafen, so gut wie nichts essen …« Sie riss sich zusammen, als sie merkte, wie emotional sie wurde. »Ich dachte … das alte Nahid-Krankenhaus …« Ihr wollten einfach nicht die richtigen Worte einfallen, weil es ihr kaum möglich erschien, die Träume angemessen zu erklären, die ihr seit dem Aufenthalt in den Ruinen durch den Kopf gingen. »Ich habe mich gefragt, ob wir es vielleicht wieder aufbauen können. Wenn mir ein Shafit-Arzt bei der Behandlung der Patienten hilft …«
Muntadhir riss die Augen auf. »Du willst diesen Ort wieder aufbauen?«
Nahri wäre beinahe vor seiner ebenso fassungslosen wie entsetzten Miene zurückgeschreckt. »Du … du hast gesagt, ich könnte zu dir kommen, mit dir reden …«
»Ja, aber über vernünftige Dinge. Wenn du eine weitere Daeva an den Hof holen oder dich an den Vorbereitungen für Navasatem beteiligen möchtest. Das, was du da vorschlägst …« Er schien wirklich schockiert zu sein. »Zaynab sagte, das Gebäude wäre völlig verfallen. Hast du auch nur eine Ahnung, wie viel Mühe und Geld man dafür investieren müsste?«
»Ja, das weiß ich, aber ich dachte …«
Muntadhir erhob sich und ging aufgeregt auf und ab. »Und du willst an der Seite eines Shafit arbeiten?« Er sprach das Wort mit kaum verhohlenem Abscheu aus. »Auf gar keinen Fall. Das würde mein Vater niemals erlauben. Du solltest dich gar nicht erst auf die Suche nach diesem Arzt machen. Dir muss doch bewusst sein, dass er illegal handelt.«
»Illegal? Wie kann es illegal sein, anderen zu helfen?«
»Die Shafit …« Muntadhir rieb sich den Nacken und machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich meine … Sie sind nicht – wir sind nicht … Wir sollten uns nicht auf eine Art und Weise verhalten, die sie dazu ermutigt, sich … noch weiter zu vermehren.«
Nahri schwieg einen Augenblick, da es ihr vor Entsetzen die Sprache verschlagen hatte. »Bitte sag mir, dass du das nicht wirklich glaubst«, flehte sie und hoffte, dass er sich nur falsch ausgedrückt und sie sich die Abneigung in seiner Stimme nur eingebildet hatte. »Du bist ein Qahtani. Deine Vorfahren haben meine gestürzt – sie haben sie abgeschlachtet, um die Shafit zu schützen.«
»Das war vor sehr langer Zeit.« Muntadhir sah sie eindringlich an. »Und die Shafit sind nicht so unschuldig, wie du zu glauben scheinst. Sie hassen die Daeva, und sie hassen dich.«
Das konnte nicht sein. »Wieso sollten sie mich hassen? Ich bin in der Welt der Menschen aufgewachsen!«
»Und dann kamst du an der Seite eines Mannes hierher, der dafür berühmt ist, mit einer Geißel herauszufinden, welche Farbe das Blut seiner Opfer hat«, merkte Muntadhir an. »Du genießt bei ihnen einen bestimmten Ruf, Nahri, ob es dir nun gefällt oder nicht.«
Nahri zuckte zusammen, aber sie ließ den Vorwurf nicht an sich heran. Diese Unterhaltung war schon schrecklich genug, da mussten nicht auch noch ihr gebrochener Afshin und seine furchtbaren Verbrechen erwähnt werden. »Ich hatte nichts mit Qui-zi zu tun«, verteidigte sie sich. »Keiner von uns, der heute am Leben ist, war damals dort.«
»Das spielt keine Rolle.« In Muntadhirs Augen war eine Warnung erkennbar. »Zwischen den Daeva und den Shafit ist zu viel vorgefallen, Nahri. Zwischen den meisten Reinblütigen und den Shafit. Du verstehst den Hass nicht, den sie für uns empfinden.«
»Aber du tust es? Du hast doch vermutlich in deinem ganzen Leben noch kein Wort mit einem Shafit gewechselt!«
»Das stimmt, aber ich habe die Menschenwaffen gesehen, die sie in die Stadt geschmuggelt haben, weil sie darauf hoffen, Unruhen anzuzetteln. Ich habe gehört, wie ihre Prediger vergiftete Lügen verbreiten und dein Volk bedrohen, selbst wenn sie schon kurz vor der Exekution stehen.« Seine Miene wurde unergründlich. »Und ich kann dir versichern, dass ich nur zu gut weiß, wie geschickt sie darin sind, andere für ihre Sache zu gewinnen.«
Nahri hielt den Mund. Ihr war speiübel geworden, und das nicht nur aufgrund der Ermahnung, dass sie und die Daeva in Gefahr schwebten.
Sondern auch, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass ihr Gatte – der Qahtani, von dem sie immer angenommen hatte, ihm wäre die Reinheit des Blutes gänzlich egal – möglicherweise die schlimmsten Vorurteile ihres Stammes teilte. Nahri wusste noch immer nicht, was an ihrem Erscheinungsbild Ghassan davon überzeugt hatte, dass sie ebenso eine Nahid wie eine Shafit war, aber er hatte behauptet, der Besitz von Suleimans Siegel hätte ihm eine derartige Einsicht ermöglicht.
Und eines Tages würde das Siegel Muntadhir gehören. Sobald er es übernahm, würde er die Frau, die er geheiratet hatte, klar und deutlich sehen können.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Nichts von alldem, was du gesagt hast, klingt für mich nach politischer Stabilität, Muntadhir.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Wenn die Lage so schlimm ist, wäre es dann nicht besser, mit den Shafit zusammenzuarbeiten? Wir beide wurden verheiratet, damit zwischen den Geziri und den Daeva Frieden herrscht. Können wir so etwas Ähnliches nicht auch bei den Mischblütigen versuchen?«
Muntadhir schüttelte den Kopf. »Nicht so. Mir tun die Shafit leid, das musst du mir glauben. Aber ihr Problem ist über Generationen entstanden, und das, was du da vorschlägst, ist viel zu riskant.«
Nahri senkte den Blick. Dabei fiel ihr der Perlenkragen ihres schönen neuen Kleides ins Auge, und sie zog die Robe enger um sich und kam sich auf einmal sehr töricht vor.
Er wird nie der Verbündete sein, den ich brauche. Die nackte Wahrheit war nun offensichtlich: Muntadhirs strikte Weigerung, sich gegen die Verfolgung der Shafit zu stellen, und Jamshids Anschuldigungen gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Seltsamerweise konnte Nahri ihn dennoch nicht hassen. Sie war selbst von Ghassan bezwungen worden, und er war außerdem sein Sohn. Muntadhirs Kummer in Bezug auf Jamshid und seine aufrichtige Reue, als er die missliche Lage der Shafit erwähnt – und prompt abgetan – hatte, ließen sich nicht leugnen.
Doch Ghassan hatte sie nicht besiegt, noch nicht, jedenfalls nicht ganz. Und sie wollte sich nicht noch kleiner machen, als sie es ohnehin schon tat, selbst wenn das bedeutete, dass sie dann ganz allein dastand.
Muntadhir schien ihre veränderte Miene zu bemerken. »Das muss nicht für immer sein«, sagte er rasch. »Aber dies ist nicht der passende Zeitpunkt, um derart drastische Veränderungen vorzuschlagen.«
Nahri verzog das Gesicht. »Wegen Navasatem?« Wenn noch eine Sache auf diese verdammten Feierlichkeiten geschoben wurde, würde sie irgendetwas niederbrennen müssen.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wegen Navasatem. Aus dem Grund, weshalb mein Vater mich heute zu sich gerufen hat.« Er biss die Zähne zusammen und blickte auf den fernen See hinaus, in dessen schwarzem Wasser sich die Sterne spiegelten. »Weil mein Bruder nach Daevabad zurückkehrt.«