Читать книгу Das Königreich aus Kupfer - Daevabad Band 2 - S. A. Chakraborty - Страница 8
ОглавлениеPROLOG
ALI
Alizayd al Qahtani hielt nicht einmal einen Monat bei seiner Karawane durch.
»Lauft, mein Prinz, lauft!«, schrie das einzige Ayaanle-Mitglied seiner Reisegruppe, das eines Nachts in Alis Zelt getaumelt kam, als sie am Südufer des Euphrat lagerten. Bevor der Mann mehr sagen konnte, ragte eine blutrote Klinge aus seiner Brust.
Ali sprang auf. Seine Waffen lagen bereits parat, und mit einem Hieb seines Zulfiqars hatte er die Rückseite des Zelts aufgeschlitzt, um in die Nacht hinauszufliehen.
Sie verfolgten ihn zu Pferde, aber der Euphrat glitzerte ganz in der Nähe; der Sternenhimmel spiegelte sich in der unruhigen schwarzen Oberfläche des Flusses. Während er inständig hoffte, seine Waffen gut gesichert zu haben, stürzte sich Ali ins Wasser, als auch schon die ersten Pfeile durch die Luft flogen und einer gefährlich nah an seinem Ohr vorbeisauste.
Das kalte Wasser wirkte wie ein Schock, doch Ali schwamm schnell, denn die Bewegungen waren ihm ebenso vertraut wie das Laufen, schneller als jemals zuvor und mit einer Anmut, die ihn selbst verblüfft hätte, wäre er nicht derart damit beschäftigt gewesen, sein Leben zu retten. Pfeile zischten um ihn herum ins Wasser und folgten seinem Weg, daher tauchte er tief, bis er kaum noch etwas sehen konnte. Der Euphrat war breit, und es dauerte einige Zeit, ihn zu überqueren, sich den Weg durch die Schlingpflanzen zu bahnen und gegen die starke Strömung anzukämpfen, die ihn flussabwärts ziehen wollte.
Erst als er auf das gegenüberliegende Ufer taumelte, überkam ihn eine erschreckende Erkenntnis: Er hatte nicht einmal auftauchen und Luft holen müssen.
Ali schluckte schwer und erschauerte in der kalten Brise, die durch seine nasse Dishdasha pfiff. Übelkeit stieg in ihm auf, aber es blieb keine Zeit, um über das nachzudenken, was im Fluss geschehen war – nicht, wenn berittene Bogenschützen auf der anderen Seite nach ihm Ausschau hielten. Sein Zelt brannte, aber der Rest des Lagers lag unangetastet und unheimlich still da, als hätten die anderen Reisenden seiner Gruppe den leisen Befehl erhalten, sämtliche Schreie, die sie in dieser Nacht vernahmen, zu ignorieren.
Man hatte Ali verraten. Und er würde gewiss nicht hier warten, um herauszufinden, ob entweder die Attentäter oder seine treulosen Gefährten den Fluss überqueren konnten. Mühsam rappelte er sich auf und rannte um sein Leben, wobei er direkt auf den Horizont zuhielt.
Es dämmerte längst, als seine Beine endlich nachgaben. Er brach zusammen und landete schmerzhaft auf dem goldenen Sand. Der Fluss war längst nicht mehr zu sehen. In jeder Richtung gab es nichts als Wüste, der Himmel war wie eine strahlende heiße Schüssel, die jemand auf den Kopf gestellt hatte.
Ali ließ den Blick über die ruhige Landschaft schweifen, während er nach Atem rang, aber er war allein. Erleichterung und Furcht rangen in seinem Inneren. Er war allein – mit einer riesigen Wüste vor sich und seinen Feinden im Rücken, mit nichts als seinem Zulfiqar und seinem Khanjar in seinem Besitz. Ohne etwas zu essen oder zu trinken, ohne Zelt oder Decke. Ihm war nicht einmal die Zeit geblieben, Turban und Sandalen mitzunehmen, die ihn vor der Hitze geschützt hätten.
Er war verloren.
Du warst schon die ganze Zeit verloren, du Narr. Das hat dir dein Vater deutlich zu verstehen gegeben. Alis Verbannung aus Daevabad war ein Todesurteil, was für jeden, der sich mit der Politik seines Stammes auskannte, offensichtlich war. Hatte er tatsächlich geglaubt, dagegen ankämpfen zu können? Oder dass man ihm einen einfachen Tod gewähren würde? Wäre sein Vater gnädig gestimmt gewesen, dann hätte er seinen jüngsten Sohn innerhalb der Stadtmauern im Schlaf erdrosseln lassen.
Zum ersten Mal wallte so etwas wie Hass in Alis Herzen auf. Das hier hatte er nicht verdient. Schließlich hatte er nur versucht, seiner Stadt und seiner Familie zu helfen, und Ghassan war nicht einmal so großzügig, ihm einen sauberen Tod zu gestatten.
Ihm standen Wuttränen in den Augen. Ali wischte sie grob und angewidert ab. Nein, so würde es mit ihm nicht zu Ende gehen, indem er aus Selbstmitleid weinte und seine Familie verfluchte, während er in einem unbekannten Winkel der Wüste dahinsiechte. Er war ein Geziri. Wenn die Zeit kam, würde Ali trockenen Auges und mit einem Glaubensbekenntnis auf den Lippen und einer Klinge in der Hand sterben.
Er richtete den Blick gen Südwesten, in die Richtung, in der sein Heimatland lag, in die er sein ganzes Leben lang gebetet hatte, und bohrte die Hände in den goldenen Sand. Dabei versuchte er, sich für das Gebet zu läutern, wie er es schon unzählige Male getan hatte, seitdem seine Mutter es ihn gelehrt hatte.
Danach hob er die Handflächen gen Himmel, schloss die Augen und nahm den stechenden Geruch des Sandes und Salzes wahr, der an seiner Haut haftete. Leite mich, flehte er. Schütze jene, die ich zurücklassen musste, und wenn meine Zeit gekommen ist – es schnürte ihm die Kehle zu –, wenn meine Zeit gekommen ist, dann hab bitte mehr Mitleid mit mir als mein Vater.
Ali berührte seine Stirn mit den Fingern. Danach erhob er sich.
Da ihn nichts als die Sonne durch die unendliche Ausdehnung aus Sand leiten konnte, folgte Ali ihrem unaufhörlichen Pfad am Himmel, ignorierte ihre gnadenlose Hitze und gewöhnte sich mit der Zeit daran. Der heiße Sand verbrannte ihm die Fußsohlen – bis er es irgendwann nicht mehr spürte. Er war ein Dschinn und konnte zwar nicht wie einst seine Vorfahren vor Suleimans Segen zwischen den Dünen dahintreiben und tanzen, aber die Wüste würde ihn auch nicht umbringen. Jeden Tag marschierte er, bis ihn die Erschöpfung überkam, und hielt nur zum Schlafen und Beten an. Dabei ließ er seinen Geist – seine Verzweiflung darüber, wie er sein Leben ruiniert hatte – unter der grellen weißen Sonne dahintreiben.
Der Hunger nagte an ihm. Wasser war kein Problem – seitdem die Marid ihn in Besitz genommen hatten, kannte Ali keinen Durst mehr. Er gab sich die größte Mühe, nicht darüber nachzudenken, was das bedeuten musste, und den neuen, ruhelosen Teil seines Verstands zu ignorieren, der sich an der Feuchtigkeit erfreute, die seine Haut benetzte und seine Gliedmaßen hinuntertropfte und die er einfach nicht als Schweiß bezeichnen wollte.
Wie lange er gelaufen war, bis sich die Landschaft endlich veränderte, konnte er nicht einmal sagen, aber irgendwann erhoben sich Felsklippen aus den Sanddünen, die an gewaltige, nach etwas greifende Finger erinnerten. Ali suchte in den zerklüfteten Felsvorsprüngen nach etwas Essbarem. Er hatte gehört, die Geziri auf dem Land seien dazu in der Lage, ein ganzes Festmahl aus wenigen Resten heraufzubeschwören, doch diese Art von Magie hatte Ali nie erlernt. Schließlich war er ein Prinz, der später Qaid werden sollte und sein ganzes privilegiertes Leben lang von Dienstboten umgeben sein würde. Wie er auf sich allein gestellt überlebte, war ihm nie beigebracht worden.
Verzweifelt und am Verhungern aß er jedes bisschen Grün, das er finden konnte, bis hinunter zu den Wurzeln. Was sich als Fehler herausstellte. Am nächsten Morgen beim Erwachen überkam ihn heftige Übelkeit. Asche bröckelte von seiner Haut, und er erbrach sich, bis nur noch eine brennende schwarze Substanz herauskam, die den Boden versengte.
In der Hoffnung, ein bisschen Schatten zu finden und sich dort erholen zu können, versuchte Ali, von den Klippen hinabzuklettern, aber ihm war so schwindlig, dass vor seinen Augen alles verschwamm und der Weg vor ihm zu wabern schien. Und schon im nächsten Augenblick verlor er auf den lockeren Steinen den Halt, rutschte aus und stürzte einen steilen Abhang hinunter.
Als er in einer steinigen Spalte landete, stieß er sich beim Aufprall die linke Schulter an einem hervorstehenden Felsen. Ein schmatzendes Geräusch hallte durch die Luft, und lodernde Hitze raste durch seinen Arm.
Ali keuchte auf. Er versuchte, das Gewicht zu verlagern, und schrie sofort auf, da ihm ein stechender Schmerz durch die Schulter zuckte. Mit verzerrtem Gesicht atmete er zaghaft ein und unterdrückte einen Fluch, weil sich die Muskeln in seinem Arm verkrampften.
Steh auf! Du wirst hier sterben, wenn du liegen bleibst. Aber Alis geschwächte Gliedmaßen wollten nicht mehr gehorchen. Blut tropfte aus seiner Nase und lief ihm in den Mund, als er hilflos zu den steilen Klippen hinaufstarrte, die sich vor dem hellen Himmel abzeichneten. Ein Blick die Spalte entlang enthüllte nichts als Sand und Steine. Es war – wie ein schlechtes Omen – ein toter Ort.
Er unterdrückte ein Schluchzen. Es gab schlimmere Arten zu sterben, wie er ganz genau wusste. Die Feinde seiner Familie hätten ihn auch fangen oder foltern können, oder er wäre von den Attentätern, die sich einen blutigen »Beweis« für ihren Sieg sichern wollten, in Stücke gehackt worden. Aber, Gott möge ihm vergeben, Ali war noch nicht bereit zu sterben.
Du bist ein Geziri. Du glaubst an den Allmächtigen. Gib jetzt nicht auch noch deine Ehre auf. Zitternd kniff Ali die Augen zu, um den Schmerz zu ertragen, und versuchte, etwas Trost in den heiligen Versen zu finden, die er vor so langer Zeit auswendig gelernt hatte. Doch das fiel ihm sehr schwer. Die Gesichter all jener, die er in Daevabad zurückgelassen hatte – des Bruders, dessen Vertrauen er letztendlich doch verloren hatte, der Freundin, deren große Liebe er getötet hatte, des Vaters, der ihn wegen eines Verbrechens, dessen er nicht schuldig war, zum Tode verurteilt hatte –, durchdrangen immer wieder die nahende Dunkelheit, und ihre Stimmen suchten ihn heim, während er langsam das Bewusstsein verlor.
Er erwachte, als ihm eine unfassbar widerliche Substanz eingeflößt wurde.
Ali riss würgend die Augen auf und hatte etwas im Mund, das sich körnig, metallisch und einfach falsch anfühlte. Vor seinen Augen verschwamm alles, und erst nach und nach kam die Silhouette eines breitschultrigen Mannes in Sicht, der neben ihm hockte. Das Gesicht des Mannes nahm langsam Gestalt an: eine Nase, die mehr als einmal gebrochen worden war, ein verfilzter schwarzer Bart, überschattete graue Augen.
Geziri-Augen.
Der Mann legte Ali eine schwere Hand auf die Stirn und schaufelte ihm noch etwas von diesem widerlichen Mehlbrei in den Mund. »Esst, mein Prinz.«
Ali röchelte. »Wa–was ist das?« Seine Stimme drang kaum lauter als ein Flüstern aus seiner ausgedörrten Kehle.
Der andere Dschinn strahlte. »Oryxblut und zerstoßene Heuschrecken.«
Ali drehte sich der Magen um. Er wandte sich zur Seite und wollte sich schon übergeben, aber der Mann hielt Ali den Mund zu, massierte seine Kehle und zwang die ekelerregende Mixtur zurück in seinen Magen.
»He, macht das nicht. Welcher Mann verwehrt denn etwas zu essen, das derart sorgfältig zubereitet wurde?«
»Daevabadi.« Eine zweite Stimme ergriff das Wort, und Ali erblickte zu seinen Füßen eine Frau mit dicken schwarzen Zöpfen und einem Gesicht, das aussah wie aus Stein gemeißelt. »Keine Manieren.« Sie hob Alis Zulfiqar und Khanjar hoch. »Schöne Klingen.«
Der Mann hob eine knorrige schwarze Wurzel hoch. »Habt Ihr das gegessen?« Als Ali nickte, schnaubte er. »Narr. Ihr könnt von Glück reden, dass Ihr jetzt kein Häufchen Asche seid.« Er hielt Ali den nächsten Löffel mit blutigen Knorpeln hin. »Esst. Ihr werdet die Kraft für die Reise nach Hause brauchen.«
Ali drückte den Löffel mit schlaffer Hand zur Seite, war noch immer benommen und nun darüber hinaus sehr verwirrt. Eine Brise wehte durch die Felsspalte und trocknete die Feuchtigkeit auf seiner Haut, woraufhin er erschauerte. »Nach Hause?«, wiederholte er.
»Bir Nabat«, antwortete der Mann, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt. »Zu Hause. Das ist eine Wochenreise gen Westen.«
Ali wollte den Kopf schütteln, doch sein Hals und seine Schultern waren ganz steif. »Ich kann nicht«, stieß er heiser hervor. »Ich … ich muss in den Süden.« Das war die einzige Richtung, die ihm einfiel; die Qahtani-Familie stammte ursprünglich aus der unwirtlichen Bergkette entlang der feuchten Südküste von Am Gezira, und er ging davon aus, dass er nur an diesem Ort Verbündete finden würde.
»In den Süden?« Der Mann lachte auf. »Ihr seid so gut wie tot und zieht in Betracht, Am Gezira zu durchqueren?« Er steckte Ali den nächsten vollen Löffel in den Mund. »In jedem Schatten dieses Landes lauern Attentäter, die nach Euch suchen. Es heißt, die Feueranbeter überschütten den Mann mit Reichtümern, der Alizayd al Qahtani tötet.«
»Aus diesem Grund sollten wir das auch tun, Lubayd«, warf die Frau ein und deutete ungehalten auf die Grütze. »Anstatt unsere Vorräte für einen Bengel aus dem Süden zu vergeuden.«
Ali schluckte das üble Gemisch unter einigen Schwierigkeiten hinunter und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Ihr würdet einen anderen Geziri für die Münzen Fremder töten?«
»Einen Qahtani würde ich sogar ohne Belohnung umbringen.«
Die in ihrer Stimme mitschwingende Feindseligkeit ließ Ali zusammenzucken. Der Mann – Lubayd – seufzte und sah sie genervt an, bevor er sich erneut Ali zuwandte. »Ihr müsst Aqisa verzeihen, Prinz, aber dies ist keine gute Zeit, um sich in unserem Land aufzuhalten.« Er stellte die Lehmschale auf den Boden. »Wir haben seit Jahren keinen Tropfen Regen mehr gesehen. Unsere Quelle versiegt, uns gehen die Lebensmittel aus, unsere Kinder und Alten sterben … Daher haben wir Nachrichten nach Daevabad geschickt und um Hilfe gebeten. Und wisst Ihr, was unser König sagt, der ebenso Geziri ist wie wir?«
»Nichts.« Ali spuckte auf den Boden. »Euer Vater antwortet uns nicht einmal. Also hört mir bloß auf mit Stammesbanden, al Qahtani.«
Ali war zu erschöpft, um sich vor dem Hass in ihrem Gesicht zu fürchten. Er beäugte das Zulfiqar in ihren Händen. Seine Klinge war stets scharf, also würde er zumindest nicht lange leiden müssen, falls sie beschlossen, ihn damit zu exekutieren.
Mühsam schluckte er die in seiner mit Oryxblut benetzten Kehle aufsteigende Galle hinunter. »Nun …«, murmelte er leise. »In diesem Fall kann ich nur zustimmen. Das müsst ihr nicht für mich vergeuden.« Bei diesen Worten zeigte er auf Lubayds Schale.
Einen langen Moment herrschte Schweigen. Dann fing Lubayd an zu lachen, und das Geräusch hallte laut durch die Felsschlucht.
Er lachte noch immer, als er ohne Vorwarnung Alis verletzten Arm packte und kraftvoll in die Länge zog.
Ali schrie auf, und vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Doch als seine Schulter wieder zurückrutschte, hatte der stechende Schmerz nachgelassen. Er spürte ein Kribbeln in den Fingern, und das Gefühl kehrte in unerträglichen Wellen in seine taube Hand zurück.
Lubayd grinste. Er nahm seine Ghutra ab, die Kopfbedeckung aus Stoff, die die nördlichen Geziri-Dschinn trugen, und fertigte daraus rasch eine Schlinge. Dann zog er Ali an seinem unverletzten Arm auf die Beine. »Behaltet Euren Sinn für Humor, Junge. Ihr werdet ihn brauchen.«
Eine große weiße Oryx wartete geduldig am Eingang der Felsspalte und hatte eine Linie aus getrocknetem Blut an der Flanke. Lubayd ignorierte Alis Proteste und hievte ihn auf den Rücken des Tiers. Ali klammerte sich an die langen Hörner und beobachtete, wie Lubayd Aqisa das Zulfiqar wieder abrang.
Er legte es Ali auf den Schoß. »Lasst die Schulter heilen, dann könnt Ihr das vielleicht wieder schwingen.«
Ali betrachtete die Klinge ungläubig. »Aber ich dachte …«
»Dass wir Euch töten?« Lubayd schüttelte den Kopf. »Nein. Jedenfalls noch nicht. Nicht solange Ihr zu so etwas fähig seid.« Er deutete hinter sich in die Spalte.
Ali folgte seinem Blick. Er öffnete sprachlos den Mund.
Es war nicht etwa Schweiß, der seine Robe durchnässt hatte. Eine winzige Oase war um ihn herum entstanden, während er im Sterben gelegen hatte. Wasser gluckerte aus einer Quelle an der Stelle, an der eben noch sein Kopf gewesen war, und plätscherte über frisches Moos. Eine zweite Quelle speiste die Vertiefung, die sein Körper verursacht hatte, und füllte sich langsam. Hellgrüne Triebe ragten aus dem mit Blut befleckten kiesigen Boden, und die sich langsam entfaltenden Blätter waren feucht von Tau.
Ali holte ruckartig Luft und atmete die frische Feuchtigkeit in der Wüstenluft ein. Das Potenzial.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie Ihr das gemacht habt, Alizayd al Qahtani«, sagte Lubayd. »Aber wenn Ihr in Am Gezira Wasser in einen ausgedörrten Sandfleck holen könnt …« Er zwinkerte Ali zu. »Dann seid Ihr meiner Meinung nach weitaus mehr wert als ein paar fremde Münzen.«
* * *
NAHRI
Es war sehr still in den Gemächern von Emir Muntadhir al Qahtani.
Banu Nahri e-Nahid lief im Raum auf und ab, und ihre nackten Zehen versanken im dicken Teppich. Auf einem verspiegelten Tisch stand eine Weinflasche neben einem Jadebecher in der Form eines Shedu. Den Wein hatten die zurückhaltenden Diener hereingebracht, die Nahri auch beim Ablegen ihres schweren Hochzeitsgewands geholfen hatten; möglicherweise hatten sie das Zittern der Banu Nahida bemerkt und sich gedacht, der Wein könne helfen.
Nun starrte sie die Flasche an, die fragil aussah. Vermutlich ließ sie sich leicht zerbrechen, und es wäre kein Problem, eine Scherbe unter den Kissen des großen Bettes zu verstecken, dessen Anblick sie zu vermeiden suchte, um diesen Abend auf eine eindeutig dauerhaftere Weise zu beenden.
Und dann wirst du sterben. Ghassan würde eintausend Angehörige ihres Stammes dem Schwert übergeben und Nahri zwingen, jeder einzelnen Exekution beizuwohnen, um sie danach seinem Karkadann vorzuwerfen.
Sie wandte den Blick von der Flasche ab. Eine leichte Brise wehte durch das Fenster herein, und sie erschauerte. Sie trug ein feines blaues Seidengewand und eine weiche Kapuzenrobe, die der Kühle beide nicht viel entgegenzusetzen hatten. Die Heiratsmaske war das Einzige, was sie von ihrem vielfach verzierten Ensemble, in dem sie geheiratet hatte, noch trug. Die Maske bestand aus mit Schnitzereien versehenem Ebenholz und wurde mit Kupferklemmen und -ketten befestigt. Darauf waren Nahris und Muntadhirs Namen eingraviert. Die Maske sollte nach Vollzug verbrannt werden, und die Aschemarkierungen auf ihren Körpern würden am nächsten Morgen die Gültigkeit der Ehe beweisen. Laut der aufgeregten Geziri-Frauen, die sie zuvor beim Hochzeitsessen aufgezogen hatten, handelte es sich dabei um eine beliebte Tradition ihres Stammes.
Nahri teilte die Aufregung nicht. Sie schwitzte schon seit Betreten des Raums, und die Maske klebte an ihrer klammen Haut. Inzwischen hatte sie sie ein wenig gelockert, um sich von der Brise die erhitzten Wangen kühlen zu lassen. Sie erhaschte ihre Bewegung in dem gewaltigen Spiegel mit Bronzerand auf der anderen Seite des Raumes und wandte den Blick ab. So schön die Kleidungsstücke und die Maske auch sein mochten, so waren sie Geziri, und Nahri verspürte nicht das Verlangen, sich in der Tracht ihres Feindes zu sehen.
Sie sind nicht deine Feinde, rief sie sich in Erinnerung. »Feind« war Daras Wort gewesen, und an Dara wollte sie erst recht nicht denken. Nicht heute Nacht. Das konnte sie einfach nicht. Daran würde sie zerbrechen – und die letzte Banu Nahida von Daevabad würde nicht zerbrechen. Sie hatte ihren Ehevertrag mit ruhiger Hand unterschrieben, Ghassan, ohne zu zittern, zugeprostet und den König, der ihr mit dem Mord an Daeva-Kindern gedroht und sie gezwungen hatte, ihrem Afshin aufgrund der geschmacklosesten Vorwürfe zu entsagen, herzlich angelächelt. Wenn sie all das fertigbrachte, dann würde sie auch das überstehen, was in diesem Raum passierte.
Nahri durchquerte abermals das Schlafgemach. Muntadhirs weitläufige Gemächer befanden sich in einer der oberen Ebenen der riesigen Pyramide im Herzen des Palastkomplexes von Daevabad. Es war voller Kunstwerke: Gemälde auf Seidenleinwänden, zarten Wandbehängen und fein gefertigten Vasen, die alle mit Sorgfalt zur Schau gestellt wurden und eine gewisse magische Aura zu besitzen schienen. Nahri konnte sich Muntadhir nur zu gut in diesem wundersamen Raum vorstellen, wie er mit einem Becher teuren Weins in der Hand und einer weltgewandten Kurtisane auf dem Bett lag, Gedichte rezitierte und über die sinnlosen Freuden des Lebens plauderte, für die Nahri sowohl die Zeit als auch die Neigungen fehlten. Nirgends war auch nur ein Buch zu sehen, weder in diesem Raum noch in den anderen Gemächern, durch die man sie geführt hatte.
Sie blieb vor dem nächsten Bild stehen, einer Miniatur zweier Tänzer, die flammenartige Blumen heraufbeschworen, die wie Rubine funkelten und glitzerten.
Ich habe mit diesem Mann rein gar nichts gemein. Nahri konnte sich nicht einmal vorstellen, in welchem Prunk Muntadhir aufgewachsen war oder dass man umgeben vom gesammelten Wissen von Jahrtausenden nicht den Wunsch zu lesen verspürte. Das Einzige, was sie mit ihrem frisch angetrauten Gatten verband, war eine schreckliche Nacht auf einem brennenden Schiff.
Die Tür des Schlafgemachs wurde geöffnet.
Instinktiv wich Nahri von dem Gemälde zurück und zog sich die Kapuze ins Gesicht. Von draußen war ein leises Klirren zu hören, gefolgt von einem Fluch, und Muntadhir trat ein.
Er war nicht allein; tatsächlich hätte er es alleine womöglich gar nicht geschafft, denn er stützte sich schwer auf einen Bediensteten, und den Wein in seinem Atem konnte sie praktisch quer durch den ganzen Raum riechen. Zwei Dienerinnen folgten, und Nahri schluckte schwer, als sie ihm aus der Robe halfen und ihm den Turban abnahmen, wobei sie auf Geziriyya zu spotten schienen, bevor sie ihn zum Bett führten.
Er ließ sich auf die Bettkante sinken und wirkte sehr betrunken und auch verblüfft, nun hier zu sein. Auf dem Bett türmten sich wolkenartige Decken, und es war groß genug, um einer zehnköpfigen Familie Platz zu bieten – und nach all den Gerüchten, die sie über ihren Mann gehört hatte, ging sie davon aus, dass es schon diverse Male so viele Personen beherbergt hatte. Weihrauch brannte in einem Gefäß in einer Ecke neben einem Krug mit gesüßter Milch und Apfelblättern – ein traditionelles Daeva-Getränk für junge Bräute, die bald ein Kind unter dem Herzen tragen wollten. Zumindest das würde nicht passieren, hatte Nisreen ihr versichert. Man assistierte nicht zwei Jahrhunderte lang Nahid-Heilern, ohne einige narrensichere Methoden zur Schwangerschaftsverhütung zu erlernen.
Dennoch schlug Nahris Herz schneller, als die Dienstboten hinausgingen und leise die Tür hinter sich schlossen. Anspannung lag in der Luft wie eine dicke, schwere Wolke und wollte so gar nicht zu der feierlichen Stimmung passen, die von unten heraufdrang.
Endlich hob Muntadhir den Kopf und sah ihr in die Augen. Das Kerzenlicht tanzte auf seinem Gesicht. Zwar fehlte ihm Daras im wahrsten Sinne des Wortes magische Schönheit, aber er war ein äußerst attraktiver Mann, ein charismatischer Mann, hatte sie gehört, einer, der leicht zum Lachen zu bringen war und der häufig lächelte … zumindest bei allen anderen Menschen außer ihr. Sein dichtes schwarzes Haar war kurz geschnitten, sein Bart nach der neuesten Mode getrimmt. Während der Hochzeit hatte er seine königlichen Insignien getragen, die goldverbrämte elfenbeinfarbene Robe und den blau, lila und goldfarben gemusterten Seidenturban, die Kennzeichen der herrschenden al Qahtani-Familie, doch nun hatte er nur eine mit Perlen besetzte reinweiße Dishdasha an. Das Einzige, das sein makelloses Äußeres trübte, war die schmale Narbe, die seine linke Augenbraue teilte – ein Überrest von Daras Geißel.
Sie starrten einander lange Augenblicke an, ohne sich zu rühren. Ihr entging nicht, dass er zwar betrunken und ermattet, aber auch nervös war.
Endlich ergriff er das Wort. »Du verpasst mir doch keine Seuchengeschwüre, oder?«
Nahri kniff die Augen zusammen. »Wie bitte?«
»Seuchengeschwüre.« Muntadhir schluckte schwer und knetete die bestickte Tagesdecke. »Das hat deine Mutter immer Männern angetan, die sie zu lange angestarrt haben.«
Nahri ärgerte sich darüber, wie sehr sie diese Worte trafen. Sie war keine Romantikerin – ganz im Gegenteil pries sie sich für ihren Pragmatismus und ihre Fähigkeit, ihre Gefühle ignorieren zu können –, das hatte sie schließlich erst in dieses Zimmer geführt. Aber dies war ihre Hochzeitsnacht, und ein freundliches Wort von ihrem frisch angetrauten Ehemann wäre schon erstrebenswert gewesen; dass er sie begierig berühren wollte, statt sich Sorgen zu machen, sie könnte ihn mit einer magischen Krankheit verfluchen.
Sie ließ die Robe ohne Umschweife zu Boden fallen. »Bringen wir’s hinter uns.« Auf dem Weg zum Bett fummelte sie an den zarten Kupferklemmen herum, die ihre Maske sicherten.
»Sei vorsichtig!« Muntadhir streckte die Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück, als er ihre Finger berührte. »Vergib mir«, sagte er rasch, »aber die Maskenklemmen haben meiner Mutter gehört.«
Nahri erstarrte. Keiner im Palast erwähnte je Muntadhirs Mutter, Ghassans seit Langem tote erste Frau. »Ach ja?«
Er nickte, nahm ihr die Maske ab und entfernte geschickt die Klemmen. Im Vergleich zum opulent eingerichteten Raum und dem glitzernden Schmuck, den sie beide trugen, wirkten die Klemmen eher schlicht, doch Muntadhir hielt sie in der Hand, als wäre ihm gerade Suleimans Siegelring anvertraut worden.
»Sie sind seit Jahrhunderten in Familienbesitz«, erklärte er und fuhr mit einem Daumen über die feinen Filigranarbeiten. »Ich musste ihr versprechen, dass meine Frau und meine Tochter sie tragen würden.« Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie sagte, sie würden Glück und die besten Söhne bringen.«
Nahri zögerte, beschloss dann jedoch, das Thema weiterzuverfolgen; vermisste Mütter waren möglicherweise das Einzige, was sie gemein hatten. »Wie alt warst du …?«
»Jung«, fiel Muntadhir ihr ins Wort. Seine Stimme klang etwas rau, als würde ihm die Frage schwer zusetzen. »Sie war als Kind draußen in Am Gezira von einer Nasnas gebissen worden, und das Gift blieb immer in ihrem Körper. Hin und wieder zeigte sie eine Reaktion, aber Manizheh konnte sie stets behandeln.« Seine Miene verfinsterte sich. »Bis Manizheh in einem Sommer beschloss, dass es wichtiger wäre, in Zariaspa zu lustwandeln, statt ihre Königin zu retten.«
Seine Worte klangen bitter, und Nahri verspannte sich. So viel zu einer Verbindung zwischen ihnen. »Verstehe«, erwiderte sie steif.
Muntadhir schien es zu bemerken. Eine leichte Röte überzog seine Wangen. »Entschuldige! Das hätte ich nicht sagen dürfen.«
»Schon gut.« Mit jedem verstreichenden Moment bedauerte es Nahri mehr, dieser Hochzeit zugestimmt zu haben. »Du hast nie verheimlicht, was du über meine Familie denkst. Wie hast du mich deinem Vater gegenüber doch gleich bezeichnet? Als die ›verlogene Nahid-Hure‹? Die, die deinen Bruder verführt und dem Afshin befohlen hat, deine Männer anzugreifen.«
In Muntadhirs grauen Augen blitzte Bedauern auf, bevor er den Blick erneut senkte. »Das war ein Fehler«, verteidigte er sich schwach. »Mein bester Freund und mein Bruder standen an der Schwelle des Todes.« Er erhob sich und ging zur Weinflasche. »Ich konnte nicht mehr klar denken.«
Nahri ließ sich aufs Bett sinken und zog die Beine unter ihr Seidengewand. Es war wirklich hübsch, der Stoff so dünn, dass man beinahe hindurchsehen konnte, und mit unglaublich feinen Goldstickereien und zarten Elfenbeinperlen verziert. Zu einer anderen Zeit – und in Gegenwart einer anderen Person – hätte sie sich über die angenehme Art, wie es über ihre nackte Haut strich, sehr gefreut.
Doch im Moment war ihr ganz und gar nicht danach. Sie starrte Muntadhir an und konnte es nicht fassen, dass er glaubte, eine solche Entschuldigung könne seine Taten auch nur ansatzweise rechtfertigen.
Er stürzte den Wein hinunter. »Das ist nicht gerade hilfreich, um nicht mehr an die Seuchengeschwüre zu denken«, stieß er hustend hervor.
Nahri verdrehte die Augen. »Um Gottes willen, ich werde dir nicht wehtun. Ich kann es auch gar nicht. Dein Vater würde einhundert Daeva ermorden, wenn ich dir auch nur einen Kratzer zufüge.« Sie rieb sich den Kopf und streckte eine Hand nach dem Wein aus. Vielleicht würde das hier dadurch ja doch erträglicher. »Gib mir auch etwas.«
Er schenkte ihr einen Becher ein, und Nahri leerte ihn und schürzte ob des säuerlichen Geschmacks die Lippen. »Der ist ja widerlich.«
Muntadhir wirkte verletzt. »Das ist ein antiker Wein aus Zariaspa. Er ist von unschätzbarem Wert und einer der seltensten Tropfen der Welt.«
»Er schmeckt wie Traubensaft, den man durch einen verdorbenen Fisch gefiltert hat.«
»Durch verdorbenen Fisch …«, wiederholte er leise und rieb sich die Stirn. »Was möchtest du dann trinken, wenn dir der Wein nicht schmeckt?«
Nahri überlegte kurz, beschloss dann jedoch, dass eine ehrliche Antwort nichts mehr schlimmer machen würde. »Karkade. Das ist ein Tee aus Hibiskusblüten.« Der Kloß in ihrer Kehle wurde größer. »Er erinnert mich an zu Hause.«
»Kalikut?«
Sie runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Kommst du da nicht her?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich komme aus Kairo.«
»Oh!« Er machte ein verdutztes Gesicht. »Ist das in der Nähe?«
Ganz und gar nicht. Nahri riss sich zusammen. Das sollte ihr Ehemann sein, und er wusste nicht einmal, woher sie kam, kannte das Land nicht, dessen Essenz noch immer in ihrem Blut strömte und in ihrem Herzen schlug. Kairo, die Stadt, die sie so sehr vermisste, dass es ihr manchmal den Atem raubte.
Ich will das alles hier nicht. Diese Erkenntnis überkam sie schnell und eindringlich. Nahri hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass sie keiner Seele in Daevabad trauen konnte. Wie sollte sie da in der Lage sein, das Bett mit einem Mann zu teilen, der rein gar nichts über sie wusste?
Muntadhir betrachtete sie, und seine grauen Augen wurden sanfter. »Du siehst aus, als wäre dir speiübel.«
Nun zuckte sie doch zusammen. Offenbar war er nicht vollkommen blind. »Es geht mir gut«, log sie.
»Du siehst aber nicht so aus«, entgegnete er und streckte eine Hand nach ihr aus. »Du zitterst ja.« Er fuhr ihr mit den Fingern über die Haut, und Nahri verspannte sich und kämpfte gegen den Drang an, sich ihm zu entziehen.
Muntadhir nahm die Hand weg, als hätte er sich verbrannt. »Hast du etwa Angst vor mir?«, fragte er und wirkte aufrichtig schockiert.
»Nein.« Vor Scham brannten Nahris Wangen, dennoch blieb sie widerborstig. »Es ist nur … Ich habe das noch nie gemacht.«
»Was, mit jemandem geschlafen, den du hasst?« Sein schiefes Grinsen verblasste, als sie auf ihrer Unterlippe herumkaute. »Oh! Oh«, fügte er hinzu. »Ich war davon ausgegangen, dass du und Darayavahoush …«
»Nein«, sagte Nahri schnell. Sie wollte nicht, dass er den Satz beendete. »So war das nicht zwischen uns. Und ich möchte nicht über ihn reden. Nicht mit dir.«
Muntadhir presste die Lippen aufeinander. »Wie du willst.«
Erneut senkte sich Schweigen auf sie herab, nur hin und wieder durchbrochen von Gelächter, das durch das offene Fenster hereinhallte.
»Wie schön, dass sich alle derart über die Vereinigung unserer Stämme freuen«, murmelte Nahri finster.
Muntadhir sah sie an. »Hast du der Hochzeit deshalb zugestimmt?«
»Ich habe zugestimmt«, bei diesem Wort troff ihre Stimme vor Sarkasmus, »weil ich wusste, dass man mich andernfalls zwingen würde, dich zu heiraten. Daher dachte ich mir, ich kann es auch genauso gut bereitwillig tun und von deinem Vater so viel Mitgift verlangen, wie es nur möglich ist. Und dich vielleicht eines Tages dazu überreden, ihn zu stürzen.« Das war wahrscheinlich nicht die klügste Antwort, aber Nahri war es allmählich egal, was ihr neuer Ehemann dachte.
Abrupt wich die Farbe aus Muntadhirs Gesicht. Er schluckte schwer und stürzte den restlichen Wein hinunter, bevor er schnellen Schrittes den Raum durchquerte. Dann öffnete er die Tür und sprach mit demjenigen auf der anderen Seite leise auf Geziriyya. Innerlich verfluchte sich Nahri für diesen Ausrutscher. Ghassan war wild entschlossen gewesen, Nahri und Muntadhir ungeachtet ihrer Gefühle zu verheiraten, und wenn Nahri das ruinierte, würde der König sie zweifellos auf grässliche Art bestrafen.
»Was machst du?«, fragte sie nervös, als er zurückkehrte.
»Ich besorge dir ein Glas deines seltsamen Blumentees.«
Nahri blinzelte überrascht. »Das musst du nicht tun.«
»Ich möchte es aber.« Er sah ihr in die Augen. »Denn du machst mir offen gesagt Angst, Gattin, und mir wäre es lieber, wenn du mir gewogen bleibst.« Er nahm die Maske vom Bett. »Aber du kannst jetzt aufhören zu zittern. Ich werde dir nicht wehtun, Nahri. So ein Mann bin ich nicht. Ich werde dich heute Nacht nicht einmal mehr anfassen.«
Sie starrte die Maske an, die langsam zu glimmen begann, und räusperte sich. »Aber die Leute erwarten …«
Die Maske zerfiel in seinen Händen zu Glut, und Nahri sprang auf. »Streck deine Hand aus«, verlangte er und gab ihr etwas Asche, nachdem sie der Aufforderung nachgekommen war. Er fuhr sich mit den aschebedeckten Fingern durchs Haar und um den Kragen seiner Tunika und wischte sie an seiner weißen Dishdasha ab.
»So«, erklärte er ruhig. »Die Ehe wurde vollzogen.« Er deutete aufs Bett. »Man sagte mir, ich hätte einen schrecklich unruhigen Schlaf. Es wird so aussehen, als hätten wir die ganze Nacht unseren Teil zum Frieden zwischen unseren Stämmen beigetragen.«
Ihr stieg die Hitze ins Gesicht, und Muntadhir grinste. »Ob du es glaubst oder nicht, es tut gut zu wissen, dass dich wenigstens irgendetwas nervös machen kann. Manizheh hat nie irgendwelche Gefühle gezeigt, und das war furchterregend.« Seine Stimme wurde sanfter. »Irgendwann werden wir es aber tun müssen. Wir stehen unter Beobachtung, und die Leute erwarten einen Erben. Aber wir gehen es langsam an. Es muss nicht schrecklich für dich werden.« In seinen Augen funkelte es amüsiert. »Trotz all der Gerüchte, die so kursieren, kann es im Schlafzimmer auch sehr angenehm sein.«
Ein Klopfen unterbrach sie, was einem Segen glich, denn Nahri war zwar auf den Straßen von Kairo aufgewachsen, hätte aber dennoch nicht gewusst, was sie darauf erwidern sollte.
Muntadhir ging abermals zur Tür und kehrte mit einem Silberteller zurück, auf dem ein Krug aus Rosenquarz stand. Er stellte ihn auf den Tisch neben dem Bett. »Dein Karkade.« Dann schlug er das Bett auf und ließ sich auf den kleinen Kissenberg fallen. »Wenn du mich jetzt nicht mehr brauchst, dann würde ich gern schlafen. Ich hatte ganz vergessen, dass Daeva-Männer auf Hochzeiten so viel tanzen müssen.«
Ihre Sorge ließ ein wenig nach. Nahri schenkte sich ein Glas Karkade ein, ignorierte ihren Instinkt, sich auf eines der niedrigen Sofas in der Nähe des Kamins zurückzuziehen, und setzte sich aufs Bett. Sie trank einen Schluck Tee und genoss den herben Geschmack.
Den vertrauten Geschmack. Allerdings war die erste Erinnerung, die in Nahri aufstieg, nicht die eines Cafés in Ägypten, sondern von der Königlichen Bibliothek in Daevabad, in der sie einem lächelnden Prinzen gegenübergesessen hatte, der den Unterschied zwischen Kalikut und Kairo sehr wohl kannte. Einem Prinzen, dessen Kenntnisse über die Welt der Menschen Nahri auf eine Art und Weise angezogen hatten, die sie erst viel zu spät als äußerst gefährlich erkannte.
»Darf ich dich etwas fragen, Muntadhir?« Die Worte kamen ihr über die Lippen, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Seine Stimme hörte sich bereits verschlafen an. »Ja?«
»Warum war Ali nicht auf der Hochzeit?«
Sofort verspannte sich Muntadhir. »Er ist mit seiner Garnison in Am Gezira beschäftigt.«
Mit seiner Garnison. Ja, das sagten alle Geziri, sogar fast wortwörtlich, wenn sie sich nach Alizayd al Qahtani erkundigte.
Aber im königlichen Harem ließen sich nun mal keine Geheimnisse bewahren. Darum trug man Nahri auch zu, dass sich Zaynab, Alis und Muntadhirs Schwester, in den Wochen seitdem man ihren kleinen Bruder fortgeschickt hatte, in den Schlaf weinte. Zaynab, die nun immer irgendwie gequält wirkte, selbst auf der Hochzeit an diesem Abend.
Schon war auch die eigentliche Frage ausgesprochen. »Ist er tot?«, flüsterte sie.
Muntadhir antwortete nicht sofort, und in der Zwischenzeit machten sich die widersprüchlichsten Gefühle in Nahris Brust bemerkbar. Doch dann räusperte sich ihr Gatte. »Nein.« Das Wort klang, als hätte er es vorsichtig und mit Bedacht ausgesprochen. »Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber nicht mehr über ihn sprechen. Und, Nahri, zu dem, was du vorhin erwähnt hast …« Er sah sie an, und in seinen Augen stand etwas, das sie nicht einordnen konnte. »Du solltest wissen, dass ich letzten Endes immer ein Qahtani bin. Mein Vater ist mein König. Meine Loyalität gilt in erster Linie ihm.«
Die Warnung schwang deutlich in seinen Worten mit, und seine Stimme hatte jeglichen Hauch von Intimität verloren. Nun sprach der Emir von Daevabad, und er wandte ihr den Rücken zu, ohne auf eine Reaktion zu warten.
Abrupt stellte Nahri ihr Glas ab und spürte, wie die Wärme, die zwischen ihnen entstanden war, zu Eis wurde. Ärger stieg in ihr auf.
Einer der Wandteppiche auf der anderen Seite des Raums bebte leicht. Der Schatten des Palastfensters, der auf Muntadhirs Gestalt fiel, zog sich in die Länge und wurde schärfer.
Beides überraschte Nahri nicht. Solche Dinge geschahen in letzter Zeit öfter, als würde der uralte Palast erwachen und auf die Tatsache reagieren, dass erneut eine Nahid darin lebte.
* * *
DARA
Im scharlachroten Licht einer Sonne, die niemals unterging, schlummerte Darayavahoush e-Afshin.
Es war natürlich kein richtiger Schlaf, sondern etwas Tieferes. Ruhigeres. Darin gab es keine Träume von verpassten Gelegenheiten und unerwiderter Liebe, auch keine Albträume voller blutgetränkter Städte und gnadenloser menschlicher Meister. Er lag im Schatten eines Zedernhains auf der Filzdecke, die seine Mutter für ihn gemacht hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Durch die Bäume konnte man einen Blick auf einen wunderschönen Garten erhaschen, einen, der gelegentlich seine Aufmerksamkeit erregte.
Aber nicht jetzt. Dara wusste nicht genau, wo er sich befand, doch das war auch nicht weiter wichtig. Die Luft roch wie zu Hause, nach Mahlzeiten mit seiner Familie und dem heiligen Rauch der Feueraltäre. Er schlug kurz flatternd die Augen auf, doch das Zwitschern der Vögel und der Klang einer fernen Laute ließen ihn sogleich wieder einschlafen. Das war alles, was Dara tun wollte. Sich ausruhen, bis die Müdigkeit endlich aus seinen Knochen wich. Bis er den Blutgeruch vergaß.
Eine kleine Hand stieß ihn an der Schulter an.
Dara lächelte. »Willst du schon wieder nach mir sehen, Schwester?«
Er schlug die Augen auf. Tamima kniete neben ihm und grinst breit, sodass man ihre Zahnlücken sehen konnte. Die kleine Gestalt seiner Schwester war in einen Schleier gehüllt, ihr schwarzes Haar ordentlich geflochten. Tamima sah ganz anders aus als in dem Moment, in dem Dara sie zum ersten Mal erblickt hatte. Bei seiner Ankunft in diesem Tal war ihr Schleier mit Blut getränkt gewesen, Namen in der Tukharistani-Schrift waren ihr in die Haut geritzt und gebrannt worden. Bei diesem Anblick war er durchgedreht und hatte das Tal mit bloßen Händen zerlegt, wieder und immer wieder, bis er schließlich in ihren zarten Armen zusammengebrochen war.
Doch seitdem verblassten die Zeichen auf ihrer Haut ebenso wie seine schwarze Tätowierung, die an die Sprossen einer in sich verdrehten Leiter erinnerte.
Tamima bohrte die nackten Zehen ins Gras. »Sie möchten im Garten mit dir reden.«
Sorge überkam ihn. Dara ahnte, welches Urteil ihn an diesem Ort erwartete. »Ich bin nicht bereit.«
»Das ist kein Schicksal, vor dem du dich fürchten musst, Bruder.«
Dara kniff die Augen zu. »Du weißt nicht, was ich getan habe.«
»Dann gestehe und befreie dich von dieser Last.«
»Das kann ich nicht«, flüsterte er. »Wenn ich erst einmal anfange, Tamima … Sie werden mich ertränken. Sie …«
Unverhofft schoss Hitze durch seine linke Hand, und Dara keuchte auf, da ihn der Schmerz überraschte. Das war eine Empfindung, die er allmählich vergessen hatte, doch das Brennen verschwand so schnell, wie es gekommen war. Er hob die Hand.
An seinem Finger steckte ein angeschlagener Eisenring mit einem Smaragd.
Dara starrte ihn verblüfft an. Er setzte sich auf, und die schwere Müdigkeit fiel wie ein Umhang von ihm ab.
Die Ruhe des Tals wurde von einer kühlen Brise weggeweht, die auch die Gerüche von zu Hause mit sich nahm und die Äste der Zedern tanzen ließ. Dara erschauerte. Der Wind schien fast lebendig zu sein; er zerrte an seinen Gliedern und zerzauste ihm das Haar.
Er war schon auf den Beinen, bevor er es überhaupt bewusst wahrnahm.
Tamima nahm seine Hand. »Nein, Daru«, flehte sie. »Geh nicht. Nicht noch einmal. Du stehst endlich so kurz davor.«
Verblüfft musterte er seine Schwester. »Was?«
Wie als Reaktion darauf verdunkelten sich die Schatten im Zedernhain, das Smaragdgrün und Schwarz zuckte und verdrehte sich. Was auch immer das für eine Magie war … sie wirkte berauschend, zerrte mit aller Macht an seiner Seele, und der Ring an seinem Finger pulsierte wie ein schlagendes Herz.
Auf einmal war alles offensichtlich. Selbstverständlich würde Dara gehen. Es war seine Pflicht als guter Afshin.
Er gehorchte.
Schon entzog er seiner Schwester die Hand. »Ich komme wieder«, sagte er. »Das verspreche ich dir.«
Tamima weinte. »Das sagst du immer.«
Doch das Schluchzen seiner Schwester wurde leiser, als Dara tiefer in das Wäldchen hineinging. Das Zwitschern der Vögel verstummte und wurde von einem Summen ersetzt, das an seinen Nerven zehrte. Die Luft schien sich um ihn herum zu verdichten und wurde unangenehm heiß. Das Zerren kam von seiner Hand, an der der Ring loderte.
Und dann wurde er ergriffen. Gestohlen, eine unsichtbare Macht schnappte ihn sich wie ein Rukh und stopfte ihn sich in den Schlund.
Der Zedernhain verschwand und wurde durch völlige Schwärze ersetzt. Durch ein Nichts. Ein stechender, heißer Schmerz durchfuhr ihn, schlimmer als jedes Gefühl, das er sich vorstellen konnte, eintausend Messer schienen jede Faser seines Körpers zu zerfetzen, während er durch eine Substanz, die dickflüssiger war als Schlamm, gezogen, geschleift wurde. Auseinandergerissen und aus Stücken so scharf wie Glassplitter wieder zusammengesetzt.
Etwas erwachte in seiner Brust donnernd zum Leben, hämmerte wie eine Trommel. Eine tosende Flüssigkeit raste durch neue Adern, durchströmte die wachsenden Muskeln, und eine erdrückende Hitze legte sich auf seine Brust. Er würgte, und sein Mund weitete sich, damit er seine Lungenflügel mit Luft füllen konnte. Sein Hörvermögen kehrte zurück, und er vernahm Schreie.
Seine Schreie.
Erinnerungen dangen auf ihn ein. Eine Frau, die seinen Namen kreischte, seinen Namen flüsterte. Schwarze Augen und ein scheues Lächeln, ihr Mund auf seinem, während sie in einer dunklen Höhle die Körper aneinanderpressten. Dieselben Augen, die ihn erschrocken enttäuscht ansahen, inmitten einer zerstörten Krankenstube. Ein ertrunkener Mann voller Schuppen, hinter dem Tentakel aufragten und der eine verrostete Klinge in der tropfenden Hand hielt.
Dara riss die Augen auf, aber da war nichts als Schwärze. Der Schmerz ließ nach, aber es fühlte sich alles falsch an, sein Körper war zu leicht und doch zu echt, pulsierte auf eine Art und Weise, wie er es seit Jahrzehnten nicht gekannt hatte. Seit Jahrhunderten. Abermals würgte er und versuchte, sich keuchend daran zu erinnern, wie man atmete.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und eine Welle aus Wärme und Ruhe brandete über ihn hinweg. Der Schmerz verschwand, und sein Herz schlug gemächlich weiter.
Erleichterung durchflutete ihn. Die heilende Berührung einer Nahid hätte Dara überall erkannt. »Nahri«, hauchte er mit Tränen in den Augen. »Oh, Nahri, es tut mir so leid. Es tut mir so schrecklich leid, ich wollte nicht …«
Er verstummte, als er seine Hand erblickte.
Sie war feuerrot und mit tödlichen scharfen Klauen versehen.
Bevor er auch nur schreien konnte, tauchte das Gesicht einer Frau vor ihm auf. Nahri. Nein, nicht Nahri, auch wenn Dara einen Hauch von ihr im Gesicht der Frau wiedererkannte. Diese Daeva war älter und ihr Gesicht von ersten Falten gezeichnet. Silber stahl sich in ihr schwarzes Haar, das auf Schulterhöhe unsanft gekappt worden war.
Sie sah beinahe so schockiert aus, wie sich Dara fühlte. Erfreut – aber auch erschrocken. Sanft streichelte sie seine Wange. »Es hat funktioniert«, wisperte sie. »Es hat endlich funktioniert.«
Dara starrte seine brennenden Hände entsetzt an. Der verhasste Sklavenring mit dem Smaragd glitzerte an seiner Linken. »Warum sehe ich so aus?« Seine Stimme brach vor lauter Panik. »Haben die Ifrit …«
»Nein«, versicherte die Frau ihm rasch. »Du bist von den Ifrit befreit, Darayavahoush. Du bist von allem befreit.«
Das war nicht wirklich eine Antwort. Dara nahm den unbegreiflichen Anblick seiner feurigen Haut in sich auf, und Angst bemächtigte sich seines Herzens. In keiner ihm bekannten Welt sahen Dschinn oder Daeva so aus, wie er es jetzt tat, nicht einmal, wenn sie aus der Sklaverei befreit wurden.
In einer fernen Ecke seines Verstands konnte Dara noch immer hören, wie seine Schwester ihn anflehte, in den Garten seiner Ahnen zurückzukehren. Tamima. Trauer überkam ihn, und ihm liefen Tränen über die Wangen, die auf seiner heißen Haut zischend vergingen.
Er schauderte. Die Magie, die durch sein Blut strömte, fühlte sich ungezügelt an; neu, wild und unkontrollierbar. Er schnappte nach Luft, und die Wände des Zelts, in dem sie sich befanden, wellten sich.
Die Frau nahm seine Hand. »Beruhige dich, Afshin«, sagte sie. »Du bist in Sicherheit. Du bist frei.«
»Was bin ich?« Abermals betrachtete er seine Krallen, bei deren Anblick ihm übel wurde. »Was hast du mit mir gemacht?«
Sie blinzelte und schien die Verzweiflung in seiner Stimme nicht zu begreifen. »Ich habe aus dir ein Wunder gemacht. Ein wahres Wunder. Der erste Daeva seit dreitausend Jahren, der von Suleimans Fluch befreit ist.«
Suleimans Fluch. Er starrte sie fassungslos an, während die Worte durch seinen Kopf hallten. Das war unmöglich. Das … das war abscheulich. Sein Volk verehrte Suleiman. Es hielt sich an seine Gebote.
Dara hatte für diese Gebote getötet.
Er sprang auf. Der Boden bebte unter seinen Füßen, die Zeltwände flatterten heftig im heißen Wind. Taumelnd trat er ins Freie.
»Afshin!«
Dara keuchte auf. Er hatte damit gerechnet, die üppigen dunklen Berge seiner Inselstadt zu sehen, doch stattdessen hatte er eine gewaltige, leere Wüste vor sich. Die er voller Entsetzen wiedererkannte. Er kannte die Linie aus Salzklippen und den einzelnen felsigen Turm, der in der Ferne aufragte.
Die Dasht-e Loot. Die Wüste im südlichen Daevastana, die so heiß und unwirtlich war, dass die Vögel tot vom Himmel fielen, wenn sie darüber hinwegflogen. Am Höhepunkt der Rebellion hatte Dara Zaydi al Qahtani in die Dasht-e Loot gelockt und Zaydis Sohn in einem Kampf, der den Krieg endlich zugunsten der Daeva entscheiden sollte, gefangen genommen und getötet.
Aber so war die Sache in der Dasht-e Loot nicht für Dara ausgegangen.
Ein keckerndes Lachen holte ihn schlagartig in die Gegenwart zurück.
»Na, die Wette habe ich wohl verloren …« Die Stimme hinter ihm klang glatt und gerissen und hätte Daras schlimmsten Albträumen entnommen sein können. »Die Nahid hat es tatsächlich geschafft.«
Dara wirbelte herum und musste ob der plötzlichen Helligkeit blinzeln. Drei Ifrit standen vor ihm, warteten in den zerfallenden Ruinen von dem, was einst ein Palast der Menschen gewesen war und jetzt von der Zeit und den Elementen geschleift wurde. Es waren dieselben Ifrit, vor denen Nahri und er über den Gozan geflohen waren, nachdem sie den Kampf mit knapper Not überlebt hatten.
Ihr Anführer – Aeshma, wie Dara wieder einfiel – sprang von einer eingestürzten Mauer hinab und trat grinsend näher. »Er sieht sogar aus wie wir«, spottete er. »Das muss ein ziemlicher Schock sein.«
»Jammerschade«, warf die Ifrit ein. »Zuvor hat er mir besser gefallen.« Sie schenkte ihm ein durchtriebenes Grinsen und hielt einen verbeulten Metallhelm hoch. »Was meinst du, Darayavahoush? Sollen wir mal ausprobieren, ob er noch passt?«
Daras Blick fiel auf den Helm. Er war vom Rost blaugrün angelaufen, anhand des zackigen Rands der Shedu-Flügel aus Messing an den Seiten jedoch noch gut zu erkennen. Shedu-Federn, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden, hatten einst den Kamm des Helms geziert. Dara wusste noch genau, wie er erschauert war, als er sie zum ersten Mal berührt hatte.
Während sein Entsetzen immer weiter zunahm, ließ er den Blick über die zerfallenden Ziegelsteine schweifen. Starrte das dunkle Loch an, das sie umschlossen, eine schwarze Leere im vom Mond erhellten Sand. Das war der Brunnen, in den man ihn vor Jahrhunderten so gnadenlos geworfen hatte, damit er ertrank und wiedererschaffen wurde, wobei seine Seele von der Ifrit, die soeben den Helm auf einem Finger balancierte, versklavt worden war.
Dara zuckte zurück und umfasste seinen Kopf. Nichts davon ergab einen Sinn, doch alles schien auf etwas Unfassbares, Unvorstellbares hinzudeuten.
Verzweifelt wandte er sich an die erste Person, die ihm einfallen wollte. »N-Nahri«, stammelte er. Er hatte sie auf dem brennenden Schiff zurückgelassen, wo sie umgeben von ihren Feinden seinen Namen schrie.
Aeshma verdrehte die Augen. »Ich sagte doch, dass er zuerst nach ihr fragen würde. Die Afshin hängen wie Hunde an ihren Nahid und bleiben ihnen treu, selbst wenn man sie noch so oft auspeitscht.« Er wandte sich erneut Dara zu. »Deine kleine Heilerin ist in Daevabad.«
Daevabad. Seine Stadt. Seine Banu Nahida. Der enttäuschte Ausdruck in ihren Augen, wie sie verzweifelt die Hände rang, während sie ihn anflehte, doch wegzulaufen.
Ein erstickter Schrei entrang sich seiner Kehle, und Hitze durchflutete ihn. Er drehte sich um, obwohl er selbst nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Sein einziger Gedanke war, dass er nach Daevabad zurückkehren musste.
Und dann war die Wüste mit einem lauten Donnerschlag und einem grellen Blitz plötzlich verschwunden.
Dara blinzelte und geriet ins Taumeln. Er stand an einem felsigen Ufer vor einem rasch dahinfließenden Fluss, der in der Dunkelheit glitzerte. Auf der gegenüberliegenden Seite erhoben sich Kalksteinklippen in den Nachthimmel und leuchteten schwach.
Der Gozan. Wie er in einem Augenblick von der Dasht-e Loot hierhergelangt war, konnte Dara nicht einmal ansatzweise begreifen – aber es war auch nicht weiter wichtig. Nicht jetzt jedenfalls. Nun zählte nur noch, dass er nach Daevabad zurückehrte und Nahri vor der Zerstörung rettete, die er heraufbeschworen hatte.
Dara eilte los. Die unsichtbare Barriere, die Daevabad vom Rest der Welt trennte, lag gleich jenseits des Ufers. Er hatte sie als Sterblicher zahllose Male durchquert, wenn er von Jagdausflügen mit seinem Vater oder Einsätzen als junger Soldat zurückgekehrt war. Dieser Vorhang hob sich im Nu für jeden, der auch nur einen Tropfen Daeva-Blut in sich trug, und enthüllte die nebelverhangenen grünen Berge, die den verfluchten See der Stadt umgaben.
Aber als er nun dort stand, geschah nichts.
Panik durchflutete ihn. Das konnte nicht sein. Dara versuchte es abermals, wanderte kreuz und quer über die Ebene, rannte am Fluss entlang und versuchte, den Schleier zu finden.
Nach dem vielleicht hundertsten Versuch fiel er auf die Knie. Er kreischte, und Flammen loderten aus seinen Händen.
Es donnerte wieder, gefolgt von schnellen Schritten und Aeshmas genervtem Seufzen.
Eine Frau kniete sich schweigend neben ihn. Die Daeva, deren Gesicht er beim Aufwachen gesehen hatte und die Nahri ähnelte. Einen langen Augenblick herrschte Schweigen, das nur von Daras angestrengtem Atmen durchbrochen wurde.
Endlich fand er die Sprache wieder. »Bin ich in der Hölle?«, flüsterte er und fasste die Angst, die an seinem Herzen nagte, die Unsicherheit, die ihn davon abgehalten hatte, die Hand seiner Schwester zu nehmen und den Garten zu betreten, in Worte. »Ist das die Strafe für all das, was ich getan habe?«
»Nein, Darayavahoush, du bist nicht in der Hölle.«
Die sanfte Gewissheit, die in ihrer ruhigen Stimme mitschwang, ermutigte ihn zum Weitersprechen. »Ich kann die Schwelle nicht überqueren«, keuchte er. »Ich kann sie nicht einmal finden. Ich bin verdammt. Ich wurde von meinem Zuhause abgewiesen und …«
Die Frau legte ihm eine Hand auf die Schulter, und die starke Magie, die in ihrer Berührung mitschwang, ließ ihn verstummen. »Du wurdest nicht verdammt«, erklärte sie entschieden. »Du kannst die Schwelle nicht überqueren, weil du nicht länger von Suleimans Fluch betroffen bist. Weil du frei bist.«
Dara schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
»Du wirst es verstehen.« Sie legte ihm eine Hand ans Kinn, und Dara drehte sich zu ihr um, da er sich von der Eindringlichkeit in ihren dunklen Augen auf seltsame Weise angezogen fühlte. »Dir wurde mehr Macht gewährt, als es irgendein Daeva seit Jahrtausenden erleben durfte. Wir werden einen Weg finden, dich nach Daevabad zurückkehren zu lassen, das verspreche ich dir.« Der Druck ihrer Hand an seinem Kinn nahm zu. »Und wenn es so weit ist, Darayavahoush … Dann werden wir die Stadt einnehmen. Wir werden unser Volk retten. Und wir werden Nahri retten.«
Dara starrte sie an und klammerte sich verzweifelt an das, was ihre Worte versprachen. »Wer bist du?«, flüsterte er.
Ihre Lippen umspielte ein derart vertrautes Lächeln, dass ihm beinahe das Herz brach. »Mein Name ist Banu Manizheh.«