Читать книгу Das Königreich aus Kupfer - Daevabad Band 2 - S. A. Chakraborty - Страница 13
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ALI
»Sheen«, sagte Ali und zeichnete den Buchstaben vor sich in den feuchten Sand. Er blickte auf und wurde ernst, als er die beiden Jungen sah, die in der letzten Reihe miteinander rangelten. Die beiden hörten sofort auf, und Ali fuhr fort und bedeutete seinen Schülern, den Buchstaben zu kopieren. Sie taten es gehorsam und malten ihn ebenfalls in den Sand. Schiefertafeln und Kreide erforderten Ressourcen, die Bir Nabat nicht erübrigen konnte, daher erteilte Ali seine Lektionen im kühlen Hain, in dem sich die Kanäle trafen und wo der Boden immer feucht war. »Wer kennt ein Wort, das mit ›sheen‹ anfängt?«
»Sha’b!«, antwortete ein kleines Mädchen in der Mitte, während sich der Junge neben ihr brav meldete.
»Ich fange mit sheen an!«, erklärte er. »Shaddad!«
Ali lächelte. »Richtig. Und wer heißt genauso wie du?«
Seine Schwester antwortete schneller als er. »Shaddad der Gesegnete. Meine Großmutter hat es mir erzählt.«
»Und wer war Shaddad der Gesegnete?«, wollte Ali wissen und schnippte mit den Fingern vor den Jungen, die sich eben noch gezankt hatten. »Weiß das einer von euch?«
Der Kleinere wich zurück, und der andere riss die Augen auf. »Äh … Ein König?«
Ali nickte. »Der zweite König nach Zaydi dem Großen.«
»Ist das der, der gegen die Marid-Königin gekämpft hat?«
Nach der Frage wurde es totenstill. Ali hielt mit den Fingern auf dem feuchten Sand inne. »Was hast du gesagt?«
»Die Marid-Königin.« Das kam von einem kleinen Jungen namens Faisal, der ihn mit ernstem Gesicht anschaute. »Mein Abba sagt, einer Eurer Ahnen hätte eine Marid-Königin geheiratet, darum könnt Ihr für uns Wasser finden.«
Die einfachen Worte, die voller Unschuld ausgesprochen wurden, drangen wie eine vergiftete Klinge in Ali ein und ließen eine entsetzliche Furcht in ihm aufkeimen. Er hatte schon lange vermutet, dass in Bir Nabat insgeheim Gerüchte hinsichtlich seiner Affinität zu Wasser kursierten, doch dies war das erste Mal, dass er diese Verbindung zwischen sich und den Marid offen ausgesprochen hörte. Das hatte sicher nichts zu bedeuten; die Leute hatten nur eine halb vergessene Sage aufgewärmt, als sich zeigte, dass er neue Wasserquellen finden konnte.
Allerdings durfte er nicht zulassen, dass sich diese Verbindung einprägte. »Meine Vorfahren hatten niemals mit den Marid zu tun«, erklärte er entschieden und ignorierte das Brodeln in seiner Magengrube. »Die Marid sind fort und wurden seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen.«
Doch die Neugier, die seine Schüler gepackt hatte, ließ sich nicht übersehen. »Stimmt es, dass sie einem die Seele rauben, wenn man sein Spiegelbild im Wasser zu lange anschaut?«, wollte ein kleines Mädchen wissen.
»Nein«, antwortete ein älteres und kam Ali damit zuvor. »Aber ich habe gehört, die Menschen würden ihnen Babys opfern.« Vor lauter Aufregung und Angst wurde ihre Stimme lauter. »Und wenn sie sie nicht hergeben wollen, überfluten die Marid ihre Dörfer.«
»Hört auf damit!«, flehte einer der jüngsten Knaben, der den Tränen nahe war. »Wenn ihr über sie redet, kommen sie euch in der Nacht holen!«
»Das reicht jetzt aber«, schaltete sich Ali ein, und einige Kinder machten sich ganz klein, weil er die Worte schärfer als beabsichtigt ausgesprochen hatte. »Solange ihr die Buchstaben nicht beherrscht, möchte ich nichts mehr hören über …«
Lubayd kam zu ihnen gelaufen.
»Verzeih mir, Bruder.« Sein Freund krümmte sich und stützte die Hände auf die Knie, während er nach Atem rang. »Aber es gibt da etwas, das du dir ansehen solltest.«
Die Karawane war derart groß, dass man sie sogar aus der Ferne erkennen konnte. Ali beobachtete von der Spitze der an Bir Nabat angrenzenden Klippen, wie sie näher kam, und zählte wenigstens zwanzig Kamele, die sich in einer stetigen, gewundenen Reihe auf das Dorf zubewegten. Als sie den Schatten einer gewaltigen Sanddüne verließ, glitzerte das Sonnenlicht auf den perlweißen Tafeln, die die Tiere mit sich führten. Salz.
Sein Magen zog sich zusammen.
»Ayaanle.« Lubayd nahm Ali das Wort aus dem Mund und schirmte sich mit der Hand die Augen ab. »Und sie haben ein Vermögen bei sich … Das scheint genug Salz zu sein, um die Steuern eines ganzen Jahres zu bezahlen.« Er ließ die Hand sinken. »Was wollen sie hier?«
Aqisa, die neben ihm stand, verschränkte die Arme. »Sie haben sich gewiss nicht verirrt; die Haupthandelsroute ist mehrere Wochenreisen entfernt.« Sie warf Ali einen Blick zu. »Könnten das Verwandte deiner Mutter sein?«
Hoffentlich nicht. Seine Gefährten wussten nicht, dass die Verwandten seiner Ayaanle-Mutter der eigentliche Grund für Alis Verbannung aus Daevabad waren. Sie hatten die Entscheidung der Tanzeem, ihn zu rekrutieren, unterstützt und offenbar gehofft, die Shafit-Milizen könnten Ali irgendwann davon überzeugen, den Thron für sich zu beanspruchen.
Das war ein aberwitziger Plan gewesen, doch in dem Chaos nach dem Tod des Afshins wollte Ghassan nicht das Risiko eingehen, dass irgendjemand von Alis miteinander im Wettstreit liegenden Sympathien profitierte – erst recht nicht die mächtigen Herrscher von Ta Ntry. Allerdings waren die Ayaanle in ihrem wohlhabenden, kosmopolitischen Heimatland jenseits des Meeres nur schwer zu bestrafen, daher hatte eben Ali leiden müssen – man hatte ihn aus seiner Heimat verbannt und ihm Attentäter auf den Hals gehetzt.
Hör auf damit! Ali schluckte die Galle hinunter, die ihm bereits hochkam, und schämte sich dafür, dass das so schnell geschehen war. Das alles war nicht die Schuld des gesamten Ayaanle-Stammes, sondern nur die einer Handvoll ränkeschmiedender Verwandter seiner Mutter. Soweit er wusste, konnte es sich bei diesen Reisenden da unten um völlig Unschuldige handeln.
Lubayd musterte sie abschätzend. »Hoffentlich haben sie genug Verpflegung dabei. Die ganzen Kamele können wir unmöglich durchfüttern.«
Ali wandte sich ab und legte eine Hand auf sein Zulfiqar. »Wir werden sie danach fragen.«
Die Karawane war bereits eingetroffen, als sie von den Klippen hinabgeklettert waren, und Ali bahnte sich einen Weg durch die Herde röhrender Kamele. Schnell wurde ihm klar, dass Lubayd hinsichtlich des Vermögens, das sie mit sich führten, recht hatte. Es schien sich um genug Salz zu handeln, um Daevabad ein ganzes Jahr lang zu versorgen, und musste irgendeine Art von Steuerzahlung sein. Selbst die glänzenden Kamele mit den hellen Augen wirkten kostspielig, und die dekorierten Sättel und das Zaumzeug auf ihrem golden-weißen Fell war eher prunkvoll denn praktisch.
Aber Ali entdeckte nicht wie erwartet eine große Delegation, die mit Scheich Jiyad und seinem Sohn Thabit plauderte. Bei den beiden stand nur ein einzelner Ayaanle in der traditionellen hellen blaugrünen Robe, die die Ayaanle-Dschinn üblicherweise bei Staatsangelegenheiten anlegten und deren Farbe eine Hommage an das Wasser am Oberlauf des Nils darstellte.
Der Reisende drehte sich um, und das Gold an seinen Ohren und um seinen Hals glitzerte im Sonnenlicht. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Cousin!« Lachend nahm er Alis Anblick in sich auf. »Beim Allmächtigen, steckt da wirklich ein Prinz in all den Lumpen?«
Der Mann war bereits vor ihn getreten, bevor Ali in seiner Verblüffung auch nur protestieren konnte, und breitete die Arme aus, um sie um Ali zu legen.
Unwillkürlich wanderte Alis Hand zu seinem Khanjar, und er trat rasch einen Schritt zurück. »Ich mag keine Umarmungen.«
Der Ayaanle grinste. »Genauso freundlich, wie Ihr beschrieben wurdet.« Seine warmen goldfarbenen Augen funkelten amüsiert. »Friede sei dennoch mit Euch, Hatsets Sohn.« Sein Blick wanderte an Alis Körper hinab. »Ihr seht furchtbar aus«, fügte er auf Ntaran, der Stammessprache seiner Mutter, hinzu. »Was bekommt Ihr hier zu essen? Steine?«
Beleidigt straffte sich Ali und beäugte den Mann, erkannte ihn jedoch nicht wieder. »Wer seid Ihr?«, stammelte er auf Dschinnistani. Nach der langen Zeit in Am Gezira kam ihm die Gemeinsprache fast schon fremdartig vor.
»Wer ich bin?« Der Mann starrte ihn an. »Musa natürlich!« Als Ali die Augen zusammenkniff, gab sich der Ayaanle gespielt gekränkt. »Shams Neffe? Der Cousin von Ta Khazak Ras, des Onkels Eurer Mutter mütterlicherseits?«
Ali schüttelte den Kopf, da ihn die verworrenen Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Familie seiner Mutter stets aufs Neue verwirrten. »Wo ist der Rest Eurer Männer?«
»Fort. Möge Gott ihnen gnädig sein.« Musa legte sich eine Hand aufs Herz und machte ein betrübtes Gesicht. »Meine Karawane war von entsetzlichem Pech verfolgt und wurde von Verletzungen geplagt, und meine letzten beiden Gefährten mussten aufgrund dringender Familienangelegenheiten letzte Woche auch noch nach Ta Ntry zurückkehren.«
»Er lügt, Bruder«, warnte Aqisa ihn auf Geziriyya. »Kein Mann kann allein eine Karawane dieser Größe hierherführen. Seine Begleiter verstecken sich bestimmt in der Wüste.«
Ali musterte Musa weiterhin misstrauisch. »Was wollt Ihr von uns?«
Musa gluckste. »Ihr seid kein Freund von Umschweifen, nicht wahr?« Er zog eine kleine weiße Tafel aus der Robe und warf sie Ali zu.
Ali fing sie auf und strich mit dem Daumen über die körnige Oberfläche. »Was soll ich mit einem Klumpen Salz anfangen?«
»Verfluchtes Salz. Wir verhexen unsere Fracht, bevor wir Am Gezira durchqueren, und nur einer der Unsrigen kann sie auch berühren. Die Tatsache, dass Ihr es soeben tut, beweist wohl, dass Ihr durchaus ein Ayaanle seid.« Er grinste breit, als hätte er etwas ausgesprochen Witziges gesagt.
Lubayd streckte mit skeptischer Miene eine Hand nach dem Salz aus und wollte es Ali abnehmen, nur um sofort aufzukreischen. Sein Freund zog ruckartig die Hand zurück, und sowohl seine Haut als auch das Salz knisterten leise.
Musa legte Ali einen Arm um die Schultern. »Kommt, Cousin. Wir müssen reden.«
»Auf gar keinen Fall«, protestierte Ali. »Ob die Steuern von Ta Ntry nach Daevabad gelangen, schert mich nun wirklich nicht.«
»Cousin … zeigt etwas Mitgefühl für die Familie.« Musa nippte an seinem Kaffee, verzog das Gesicht und stellte die Tasse ab. Sie befanden sich am zentralen Treffpunkt von Bir Nabat: einer großen Sandsteinkammer in den Klippen, deren Ecken hohe Säulen zierten, um die sich Schlangenverzierungen wanden.
Musa ruhte auf einem abgenutzten Kissen und hatte seine traurige Geschichte endlich beendet. Ali bemerkte immer wieder neugierige Kinder, die durch den Eingang hereinspähten. Bir Nabat lag sehr isoliert, und jemand wie Musa, der den legendären Reichtum der Ayaanle in Form seiner Robe und des schweren Goldschmucks so offen zur Schau trug, war vermutlich das Aufregendste, das sie seit Alis Ankunft hier erlebt hatten.
Musa spreizte die Finger, sodass seine Ringe im Licht des Feuers glitzerten. »Wollt Ihr nicht ohnehin Navasatem zu Hause feiern? Der eigene Sohn des Königs würde sich die Generationsfeierlichkeiten doch gewiss nicht entgehen lassen.«
Navasatem. Das Wort hallte durch Alis Kopf. Dies war ursprünglich ein Daeva-Feiertag gewesen, doch heute feierten alle sechs Stämme die Geburt einer neuen Generation. Einst hatte man damit den Jahrestag ihrer Befreiung feiern und über Suleimans Lektionen nachdenken wollen, doch nun war es zu einer wilden Feier des Lebens selbst geworden … Es gab sogar einen alten Witz, dass zehn Monate danach das Leben anschwoll, weil während der ausschweifenden Feierlichkeiten so viele Kinder gezeugt wurden. Wie die meisten gläubigen Dschinn sah Ali diesen ganzen Monat voller Feste, Jahrmärkte und wilder Ausschweifungen mit gemischten Gefühlen. Die Kleriker von Daevabad – Dschinn-Imame ebenso wie Daeva-Priester – verbrachten diese Zeit üblicherweise damit, mit der Zunge zu schnalzen und ihre verkaterte Herde zu schelten.
Dennoch hatte sich Ali in einem früheren Leben jahrelang auf dieses Fest gefreut. Die militärischen Wettbewerbe waren legendär, und er hatte trotz seines jungen Alters daran teilnehmen und darin brillieren wollen, um sich die Bewunderung seines Vaters sowie die Position zu verdienen, die er sich dank seines Namens längst hatte sichern können: die als Muntadhirs zukünftiger Qaid.
Ali holte tief Luft. »Ich werde nicht an Navasatem teilnehmen.«
»Aber ich brauche Euch.« Musa wirkte hilflos und verlegte sich aufs Flehen. »Ich kann unmöglich allein nach Daevabad weiterreisen.«
Ali musterte ihn fassungslos. »Dann hättet Ihr nicht von der Hauptroute abweichen dürfen! In jeder anständigen Karawanserei wäre Euch geholfen worden!«
»Wir sollten ihn umbringen und seine Fracht übernehmen«, schlug Aqisa auf Geziriyya vor. »Die Ayaanle werden glauben, er sei in der Wüste umgekommen, und der verlogene Narr hätte es verdient.«
Lubayd berührte ihre Finger und zog sie sanft vom Griff ihres Zulfiqars herunter. »Man wird nicht mehr viel auf unsere Gastfreundschaft geben, wenn wir anfangen, alle lügenden Gäste umzubringen.«
Musa blickte zwischen ihnen hin und her. »Entgeht mir hier etwas?«
»Wir überlegen nur, wo wir Euch über Nacht einquartieren«, behauptete Ali leichthin auf Dschinnistani und presste die Finger aneinander. »Nur damit wir uns richtig verstehen: Ihr seid von der Hauptroute abgewichen und nach Bir Nabat gekommen – in einen Außenposten, von dem Ihr wusstet, dass er es sich nicht leisten kann, Euch und Eure Tiere zu versorgen –, um mir Eure Pflichten aufzubürden?«
Musa zuckte mit den Achseln. »Es tut mir ja auch leid.«
»Verstehe.« Ali lehnte sich zurück und schenkte den versammelten Dschinn ein höfliches Lächeln. »Brüder und Schwestern«, setzte er an. »Verzeiht mir die Bitte, aber lasst ihr mich vielleicht kurz allein mit meinem … Wie habt Ihr Euch doch gleich bezeichnet?«
»Als Euren Cousin.«
»Mit meinem Cousin?«
Die anderen Dschinn erhoben sich. Thabit warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Er kannte Ali offensichtlich gut genug, um die in seiner Stimme mitschwingende Gefahr zu erkennen, die Musa nicht bemerkte. »Achte darauf, dass die Teppiche kein Blut abbekommen«, warnte er ihn auf Geziriyya. »Sie sind neu.«
Die anderen waren gerade erst hinausgegangen, da stieß Musa schon einen übertriebenen Seufzer aus. »Beim Allmächtigen, wie konntet Ihr in diesem Kaff nur so lange überleben?« Er schauderte und pickte an der Ziege herum, die für ihn zubereitet worden war, eine Ziege, die einer der Dorfbewohner eigentlich für die Hochzeit seiner Tochter vorgesehen und bereitwillig zur Verfügung gestellt hatte, sobald er erfuhr, dass sie einen Gast hatten. »Ich hätte nie gedacht, dass Dschinn noch immer so leben … Ah!«, schrie er auf, als Ali ihn an seinem mit Silbergarn bestickten Kragen packte und zu Boden schleuderte.
»Sagt Euch unsere Gastfreundschaft nicht zu?«, fragte Ali kalt und zog sein Zulfiqar.
»Im Augenblick … Nein, wartet!« Musa riss die goldenen Augen auf, in denen nun Entsetzen stand, als er die Flammen bemerkte, die an der Kupferklinge leckten. »Bitte nicht!«
»Warum seid Ihr wirklich hier?«, verlangte Ali zu erfahren. »Und kommt mir nicht wieder mit irgendeinem Unsinn über Eure sorgenvolle Reise.«
»Ich bin hier, um Euch zu helfen, Ihr wild gewordener Narr! Um Euch die Rückkehr nach Daevabad zu ermöglichen!«
»Ihr wollt mir helfen? Eure Machenschaften waren doch erst der Grund dafür, dass ich überhaupt weggeschickt wurde!«
Musa hob kapitulierend die Hände. »Offen gesagt … war das ein anderer Zweig der Familie. Hört auf!«, kreischte er und krabbelte nach hinten, während Ali mit der Klinge näher kam. »Habt Ihr den Verstand verloren? Ich bin von Eurem Blut und unterstehe dem Gastrecht!«
»Ihr seid nicht mein Gast«, widersprach Ali. »Ich stamme nicht aus Bir Nabat. Und Am Gezira ist ein gefährliches – wie habt Ihr es genannt? – Kaff.« Er spie beleidigt aus. »Es verschwinden ständig Händler, insbesondere solche, die dumm genug sind, allein zu reisen und derart offen ihren Reichtum zur Schau zu stellen.«
Musa sah ihm in die Augen und wirkte trotz seiner Angst entschlossen. »Ich habe vor meiner Abreise deutlich gesagt, wohin ich gehen werde. Wenn meine Fracht nicht rechtzeitig zu Navasatem in Daevabad ist, wird der König danach suchen lassen.« Er reckte das Kinn in die Luft. »Würdet Ihr Euren neuen Brüdern und Schwestern derart viel Ärger aufbürden?«
Ali wich zurück und ließ die Flammen erlöschen. »Ich lasse mich nicht in eine weitere Intrige hineinziehen. Und ich würde Euch persönlich töten, bevor Ihr diesen Leuten schaden könnt.«
Musa verdrehte die Augen. »Man hat mich vor Eurem Temperament gewarnt.« Er richtete sich auf und strich sich den Sand von der Robe. »Und vor einer recht erschreckenden Affinität zur Eurem Zulfiqar.« Bei diesen Worten verschränkte er die Arme. »Aber ich werde nicht ohne Euch von hier aufbrechen. Diese ganze Angelegenheit war in nicht unerheblichem Maße mit Risiken und Kosten verbunden, und ein anderer Mann wäre gewiss dankbar dafür gewesen.«
»Dann sucht den auf«, schoss Ali zurück.
»Und damit wärt Ihr zufrieden? Ihr würdet tatsächlich weiterhin den Müll der Menschen plündern und Datteln verkaufen, während ich Euch Hilfe anbiete, damit Ihr nach Daevabad zurückkehren könnt, bevor die Stadt untergeht?«
»Daevabad geht nicht unter.«
»Ach nein?« Musa trat näher an ihn heran. »Erreichen die Nachrichten aus der Hauptstadt diesen gottverlassenen Ort etwa nicht? Die Verbrechen nehmen zu, und die Wirtschaft liegt derart am Boden, dass es sich die Königsgarde kaum noch leisten kann, ihre Soldaten zu verpflegen, geschweige denn, sie mit anständigen Waffen auszurüsten.«
Ali betrachtete ihn gleichgültig. »Und welchen Anteil haben die Ayaanle bei diesen wirtschaftlichen Sorgen?«
Musa hob die Hände. »Warum sollten wir zu einem König fair sein, der unseren Prinzen ins Exil schickt? Einem König, der dem Erbe seiner eigenen Familie den Rücken zugewandt hat und der nichts unternimmt, während Shafit bei Auktionen versteigert werden?«
»Ihr lügt.« Ali warf dem Mann einen erbosten Blick zu. »Euren Leuten sind die Shafit und die Stadt doch völlig egal. Daevabad ist für die Ayaanle nichts weiter als ein Spiel. Ihr sitzt in Ta Ntry, zählt Euer Gold und spielt mit dem Leben anderer.«
»Wir machen uns größere Sorgen, als Ihr denkt.« Musas Augen blitzten. »Zaydi al Qahtani hätte Daevabad nie ohne die Hilfe der Ayaanle einnehmen können. Eure Familie wäre ohne die Ayaanle niemals königlich geworden.« Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. »Und offen gesagt wirken sich zunehmende Verbrechen und politische Korruption negativ auf die Geschäfte aus.«
»Da haben wir es ja.«
»Das ist aber nicht alles.« Musa schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Euch nicht. Eigentlich hatte ich angenommen, Ihr wärt begeistert! Ich wäre am Boden zerstört, wenn man mich aus meiner Heimat vertrieben hätte, und würde alles dafür tun, um zu meiner Familie zurückkehren zu können. Und Eure Familie …« Seine Stimme wurde sanfter. »Es geht ihr nicht gut.«
Sorge stieg in Ali auf. »Wie meint Ihr das?«
»Was glaubt Ihr denn, wie sich Eure Mutter fühlt, seit man Euch ins Exil geschickt hat? Ihr solltet erleichtert sein, dass sie sich mit einem Handelskrieg zufriedengibt, statt einen richtigen anzuzetteln. Ich habe gehört, Eure Schwester hätte ein gebrochenes Herz, Euer Bruder würde von Tag zu Tag mehr trinken, und Euer Vater …« Musa hielt inne, und Ali entging sein berechnender Tonfall nicht, als er fortfuhr. »Ghassan ist ein rachsüchtiger Mann, und sein Zorn richtet sich direkt gegen die Shafit, denen er vorwirft, Euch zum Verrat gedrängt zu haben.«
Ali zuckte zusammen, da ihn der letzte Satz bis ins Mark traf. »Dagegen kann ich nichts unternehmen«, beharrte er. »Wann immer ich es versucht habe, mussten alle, die mir etwas bedeutet haben, darunter leiden. Und heute besitze ich sogar noch weniger Macht als damals.«
»Ihr besitzt weniger Macht? Alizayd der Afshin-Schlächter? Der schlaue Prinz, der gelernt hat, die Wüste erblühen zu lassen, und der an der Seite der besten Krieger von Am Gezira zu finden ist?« Musa beäugte ihn. »Ihr unterschätzt Euren Ruf.«
»Das liegt vermutlich daran, dass ich genau weiß, wie viel davon Mumpitz ist. Ich werde nicht nach Daevabad gehen.« Ali ging zum Eingang, um seine Gefährten zurückzurufen. »Meine Entscheidung ist endgültig.«
»Alizayd, Ihr müsst doch wenigstens …« Doch Musa war klug genug, nicht weiterzusprechen, als sich die anderen ihnen erneut anschlossen.
»Mein Cousin entschuldigt sich dafür, dass er die Gastfreundschaft von Bir Nabat missbraucht hat«, verkündete Ali. »Er hat vor, bei Tagesanbruch wieder aufzubrechen, und verspricht uns ein Fünftel seiner Waren als Gegenleistung für unseren Verlust.«
Musa wirbelte zu ihm herum. »Was?«, protestierte er auf Ntaran. »Das habe ich ganz gewiss nicht gesagt!«
»Ich werde Euch wie einen Fisch ausnehmen«, warnte Ali ihn in derselben Sprache, bevor er wieder ins Dschinnistani wechselte. »… für unseren Verlust«, wiederholte er entschieden, »und um die Bäuche der Kinder zu füllen, die darben müssen, während sich seine Kamele satt fressen. Darüber hinaus wird ihm jemand seinen Proviant abnehmen und durch Heuschrecken und Datteln ersetzen.« Er beobachtete, wie Musas Fassungslosigkeit in Empörung umschlug. »Ihr habt gesagt, Ihr würdet Euch schwach fühlen, daher schlage ich eine andere Ernährung vor. Uns hat es abgehärtet.« Er klapperte mit den Zähnen. »An das Knirschen gewöhnt man sich.«
In Musas Augen stand Verärgerung, doch er hielt den Mund. Ali erhob sich und legte im traditionellen Geziri-Gruß eine Hand aufs Herz. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe noch zu tun. Ich wecke Euch bei Tagesanbruch zum Gebet.«
»Aber natürlich«, erwiderte Musa mit eiskalter Stimme. »Man darf seine Pflichten nie vernachlässigen.«
Ali gefiel die Miene des Mannes nicht im Geringsten, aber da er alles gesagt hatte, wandte er sich dem Ausgang zu. »Friede sei mit Euch, Cousin.«
»Und mit Euch, Prinz.«
Ali schlief tief, so wie er es hier immer tat. Er träumte, er wäre zurück in Daevabad in dem wunderschönen Pavillon mit Blick auf die Haremsgärten und in seine Bücher vertieft. Eine kühle, feuchte Brise ließ seine Hängematte sanft schaukeln. Das Wasser sickerte durch den Stoff, durch seine Dishdasha, fühlte sich auf seiner Haut wie kalte, klamme Finger an …
»Ali!«
Er riss die Augen auf. Sofort griff er nach seinem Khanjar, dessen Klinge im dunklen Zelt silbrig glitzerte. Er erhaschte einen Blick auf Lubayd, der klugerweise außerhalb seiner Reichweite geblieben war, und ließ die Klinge wieder sinken.
Sie landete platschend in der Wasserpfütze, die beinahe so hoch wie seine Schlafstatt war. Beim Anblick seines überfluteten Zelts setzte sich Ali schlagartig auf, sprang auf die Beine und raffte schnell seine Bücher und Notizen zusammen.
»Komm.« Lubayd hielt ihm bereits die Zeltklappe auf. »Es scheint der schlimmste Durchbruch zu sein, den wir je hatten.«
Draußen herrschte das reinste Chaos. Das Wasser stand hüfthoch auf dem Hof, und angesichts der Turbulenzen strömte es noch immer aus der Zisterne heraus. Die Steinhaufen, die Ali normalerweise zur Absperrung der Kanäle nutzte, waren nirgends zu sehen und vermutlich weggespült worden.
Er fluchte leise. »Weck die anderen. Jeder, der mit anpacken kann, muss zu den Feldern und Obstgärten gehen. Sorgt dafür, dass sich der Boden nicht zu sehr vollsaugt.«
Lubayd nickte, und sein üblicher Humor war verschwunden. »Pass auf, dass du nicht ertrinkst.«
Ali zog seine Robe aus und watete über den Hof. Erst nachdem Lubayd verschwunden war, tauchte er unter, um sich unter Wasser umzusehen. Vor dem Ertrinken hatte er keine Angst.
Viel mehr fürchtete er sich vor der Tatsache, dass er nicht ertrinken konnte.
Die Sonne war längst über dem durchnässten Bir Nabat aufgegangen, als das Leck endlich repariert worden war. Ali war derart erschöpft, dass man ihm aus der Zisterne heraushelfen musste. Seine Finger waren vom Herumschleppen der Steine geschwollen, seine Sinne vom kalten Wasser betäubt.
Lubayd drückte ihm einen Becher mit heißem Kaffee in die Hände. »Wir haben so viel gerettet, wie nur möglich war. Ich bezweifle, dass die Ernte Schaden genommen hat, aber einige Aquädukte müssen repariert werden. Und das Spalier im Feigenhain ist stark beschädigt.«
Ali nickte benommen. Ihm lief das Wasser am Leib hinunter, was den kalten Zorn widerspiegelte, der in ihm tobte. »Wo ist er?«
Lubayds zögerndes Schweigen bestätigte Alis Verdacht. Sobald er in die Zisterne getaucht war und herausgefunden hatte, dass die Steine rings um die Quelle verschoben worden waren, hatte er Bescheid gewusst. Kein Geziri wäre so tief getaucht, und niemand hätte es auch nur gewagt, einen Brunnen zu sabotieren. Aber ein Ayaanle, der schon als Kind das Schwimmen gelernt hatte? Der niemals Durst erleiden musste? Ihm war so etwas zuzutrauen.
»Er ist weg, im Chaos abgehauen«, antwortete Lubayd schließlich und räusperte sich. »Seine Fracht hat er zurückgelassen.«
Aqisa setzte sich zu ihnen. »Wir sollten das Salz in der Wüste verrotten lassen«, erklärte sie verbittert. »Wir nutzen, was wir können, verkaufen so viel, wie man uns abnimmt, und lassen den Rest im Sand versinken. Zum Teufel mit den Ayaanle. Sollen sie es dem König doch selbst erklären.«
»Sie werden einen Weg finden, uns die Schuld zuzuschieben«, sagte Ali leise. Er starrte seine Hände an, die stark zitterten. »Es ist ein Schwerverbrechen, der Schatzkammer etwas zu stehlen.«
Lubayd kniete vor ihm. »Dann bringen wir das verdammte Salz hin«, beschloss er. »Aqisa und ich. Du bleibst in Am Gezira.«
Ali versuchte, den Kloß im Hals loszuwerden. »Ihr könnt es ja nicht einmal anfassen.« Außerdem war dies eine Angelegenheit seiner Familie, und es erschien ihm falsch, die Menschen, die ihn gerettet hatten, mit in die Sache hineinzuziehen.
Er richtete sich auf wackligen Beinen auf. »Ich … ich muss mich zuerst um die Reparaturen kümmern.« Plötzlich wurde ihm ganz anders. In nur einer Nacht war das Leben, das er sich so sorgsam in Bir Nabat aufgebaut hatte, von Fremden im Namen ihrer politischen Machenschaften achtlos auf den Kopf gestellt worden. »Wir brechen morgen nach Daevabad auf.« Die Worte, die ihm über die Lippen kamen, hörten sich irgendwie seltsam und unwirklich an.
Lubayd zögerte. »Und dein Cousin?«
Ali bezweifelte, dass sie Musa finden würden, aber es war einen Versuch wert. »Kein Mann, der einen Brunnen sabotiert, ist von meinem Blut. Schickt ihm ein paar Kämpfer hinterher.«
»Und wenn sie ihn finden?«
»Dann sollen sie ihn herbringen. Ich kümmere mich nach meiner Rückkehr um ihn.« Ali umfasste seinen Becher etwas fester. »Denn ich werde zurückkehren.«