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5. Bassani erzählt

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»Ich bin Jahr­gang 1927. Ich wur­de hier ge­bo­ren und bin so et­was wie der letz­te Hü­ter ei­ner jahr­hun­dert­eal­ten Tra­di­tion. Mein Vater und mein Groß­vater waren be­reits Rab­bi­ner und auch in den Ge­ne­ra­tio­nen da­vor ha­ben mei­ne Vor­fah­ren die Tho­ra und die Ge­schich­te un­se­rer Väter ge­lehrt. Ich ha­be das Glück, dass auch ei­ni­ge mei­ner Kin­der hier wohn­haft ge­blie­ben sind. Das hüb­sche klei­ne Mäd­chen, das Ih­nen die Tür ge­öff­net hat, ist mei­ne Ur­en­ke­lin He­le­na. Aa­ron – den Sie un­ter an­de­rem Na­men ken­nen – und sei­nen Vater Ab­ra­ham To­ra­ni ha­be ich nicht mehr ken­nen­ge­lernt. Ab­ra­ham ist schon vor mei­ner Ge­burt fort­ge­zo­gen. Wohl aber kann­te ich Aa­rons Groß­eltern, sei­nen On­kel und des­sen Fa­mi­lie. Ihr ehe­ma­li­ges Wohn­haus liegt direkt ge­gen­über. Wenn Sie ge­nau schau­en, kön­nen Sie immer noch die ver­wit­ter­ten Buch­sta­ben er­ken­nen. Li­bri To­ra­ni. Sie hat­ten in die­sem Vier­tel ei­ne der be­sten Buch­hand­lun­gen und waren so et­was wie ei­ne In­sti­tu­tion.«

Ich sah zu Chia­ra hin­über. Das Foto. Sie nick­te. Dann kram­te sie in ih­rer Ta­sche und zog die Bild­aus­drucke her­vor, die uns To­ry per E-Mail ge­schickt hat­te, und zeig­te sie Sig­no­re Bass­ani. »Ja, das ist es. Aber es ist ei­ne spä­te­re Auf­nah­me. Muss so aus den Fünf­zi­ger­jah­ren sein.« Bass­ani be­trach­te­te das an­de­re Bild und run­zel­te die Stirn. »Das hier ist ge­wiss nicht von hier. Schau­en Sie. Der Jun­ge trägt ei­ne Kin­der­uni­form der Hit­ler­jugend.«

Wir sa­hen uns das al­te Foto noch­mals an. Für mich waren es nur ein Mäd­chen im Dirndl und ein Jun­ge in Knie­bund­ho­sen ge­we­sen. Dass das ei­ne Hit­le­ru­ni­form war, war mir bis­her nicht auf­ge­fal­len.

»Wir ha­ben auch ei­ne Gra­tu­la­tions­an­zei­ge aus ei­ner Zei­tung. Ei­ne Mar­ga­ret­he Reu­ters, ge­bo­re­ne von Ber­ne­ke. Zum Fünf­und­neun­zigs­ten.« Chia­ra hielt dem al­ten Mann den Aus­druck mit der An­zei­ge hin. »Ken­nen Sie sie?«

»Nein, tut mir leid. Ich ha­be kei­ne Ah­nung, wer das sein könn­te.«

Sig­no­re Bass­ani zeig­te auf das Bü­cher­regal. »Hier be­fin­den sich ei­ni­ge al­te Bü­cher, die mei­ne Eltern bei den To­ra­nis ge­kauft ha­ben. Die To­ra­nis ge­hör­ten ge­nau­so wie mei­ne Fa­mi­lie zu den­je­ni­gen, die hier seit Jahr­hun­der­ten an­säs­sig waren. Ich weiß nicht, in­wie­weit Sie bei­de sich be­reits mit dem ita­lie­ni­schen Ghet­to be­schäf­tigt ha­ben. Sie sind noch so jung … Aber es ist ein ganz be­son­de­res Ka­pi­tel un­se­rer Ge­schich­te, mit dem ich Stun­den fül­len kann. Immer noch ma­che ich ab und an Füh­run­gen für Tou­ris­ten. Ich bin auch frü­her viel ge­reist, um auf Vor­trä­gen un­ser Kultur­er­be zu ver­brei­ten. Auf die­se Wei­se ha­be ich auch Deutsch ge­lernt – ei­ne Spra­che, die mir eigent­lich ver­hasst sein soll­te … Nun, ich möch­te Ih­nen kei­nen Vor­trag über das Ghet­to hal­ten – oder ha­ben Sie bis zu die­sem Punkt Fra­gen?«

Chia­ra und ich schüt­tel­ten den Kopf. Wir waren zu ge­spannt und neu­gie­rig da­rauf, was er sonst noch zu sa­gen hat­te, und woll­ten sei­ne Er­zäh­lung nicht un­ter­bre­chen. Und na­tür­lich woll­ten wir hö­ren, was die­se Fa­mi­lie To­ra­ni mit A. S. To­ry ge­mein­sam hat­te.

»Auch, wenn ich ihm nie be­geg­net bin, weiß ich doch ein biss­chen von Aa­rons Vater, Ab­ra­ham To­ra­ni. Er wur­de hier 1897 ge­bo­ren und hat mit sei­nem Vater Ema­nu­el die Buch­hand­lung ge­führt. Ema­nu­el war ein sehr gläu­bi­ger Ju­de, der viel auf die Tra­di­tion ge­ge­ben hat. Der jun­ge Ab­ra­ham war da an­ders, sehr in­te­res­siert an der neu­en Li­te­ra­tur und mo­der­nen Spra­chen und be­ein­flusst von den li­be­ra­len Strö­mun­gen und Be­stre­bun­gen der Jahr­hun­dert­wen­de. So hat man es mir spä­ter er­zählt. An­fang der Zwan­zi­ger­jah­re hat­te er auf ei­ner Rei­se nach Wien ei­ne Ös­ter­rei­che­rin ken­nen­ge­lernt. Zum Ent­set­zen sei­ner Eltern kei­ne Jü­din, son­dern ei­ne Chris­tin. Bei dem jun­gen Mann hat den­noch die Lie­be ge­siegt und er ist zu­sam­men mit Eli­sa­beth, so hieß die jun­ge Frau, nach Wien ge­zo­gen und kur­ze Zeit spä­ter nach Ber­lin. Über die­se Lebens­ab­schnit­te kann ich Ih­nen lei­der nicht viel er­zäh­len. Si­cher ist, dass Ab­ra­ham und Eli­sa­beth zwei Kin­der be­kom­men ha­ben, ei­nen Jun­gen und ein Mäd­chen. Tja, den Jun­gen ken­nen Sie.«

Wir hat­ten Bass­ani bis hier­hin ge­bannt zu­ge­hört. Chia­ra hat­te sich zu­letzt fest auf die Lip­pen ge­bis­sen, bei ihr ein deut­li­ches An­zeichen für Span­nung. Nun schien es aus ihr her­aus­zu­plat­zen. »A. S. To­ry!«

Sa­mu­el Bass­ani schau­te sie über­rascht an, räu­sper­te sich dann.

»Nun, Sie ken­nen ihn an­schei­nend un­ter die­sem Na­men. Als er mich die­se Ta­ge kon­tak­tier­te, um Ih­ren Be­such an­zu­kün­di­gen, hat er das be­reits er­wähnt. A. S. To­ry … In­te­res­sant. Der Klang ist ähn­lich und die Ini­ti­alen sind iden­tisch. Wie er mir ge­gen­über an­ge­deu­tet hat, heißt er mitt­ler­wei­le ganz an­ders. Aber sein da­ma­li­ger Na­me war Aa­ron. Aa­ron Si­mon To­ra­ni.«

»Non ci cre­do!«

Auch ich war ir­gend­wie per­plex, ob­wohl ich es wäh­rend der Er­zäh­lung Bass­anis be­reits ge­ahnt hat­te. Es zu hö­ren, war den­noch et­was ganz an­de­res. »Und er heißt jetzt nicht mehr so? Ken­nen Sie sei­nen jet­zi­gen Na­men?«

Bass­ani schüt­tel­te den Kopf. »Nein. Den hat er mir nicht ge­nannt. Wa­rum er ein sol­ches Ge­heim­nis da­raus macht, weiß ich auch nicht. Aber mir kam es so vor, als woll­te er, dass Sie sei­nen Na­men her­aus­fin­den sol­len, wie auch alles an­de­re.«

»Sie ha­ben mit To­ry al­so nur tele­fo­niert und ihn nie per­sön­lich ken­nen­ge­lernt?«, woll­te ich wis­sen.

»Ja, so ist es. Er war mei­nes Wis­sens nie hier.« Bass­ani zuck­te mit den Ach­seln.

»Aber, was ist aus sei­nen Eltern ge­wor­den? Und aus sei­ner Schwes­ter?«, frag­te Chia­ra.

»Das, mei­ne Lie­ben, kann ich nur mut­ma­ßen … Ich weiß es nicht. Ab­ra­ham To­ra­ni hat­te sich kei­nen gu­ten Zeit­punkt aus­ge­wählt, nach Deutsch­land zu ge­hen. So viel steht fest. Kei­ner hier hät­te an­ge­nom­men, dass Aa­ron über­lebt hat. Und als er vor we­ni­gen Ta­gen bei mir an­rief, konn­te ich es kaum glau­ben.«

Ich über­leg­te. Das pass­te trotz­dem alles ir­gend­wie nicht zu­sam­men. »Ich er­in­ne­re mich, dass To­ry mir da­mals in Lon­don er­zählt hat, die­se gro­ße Vil­la in Lon­don ge­hör­te be­reits sei­nen Groß­eltern. Dann kann er aber wohl kaum Ema­nu­el To­ra­ni da­mit ge­meint ha­ben, oder?«

»Nein, das ist aus­zu­schlie­ßen. Viel­leicht mein­te er die Eltern sei­ner Mutter? Ich weiß es nicht.«

Hat­te To­ry kei­ne Ver­wand­ten mehr? Das in­te­res­sier­te mich: »Und was ist mit der üb­ri­gen Fa­mi­lie von Ab­ra­ham?«

»Ein paar der Enkel und Ur­en­kel le­ben noch in Ve­ne­dig. Nicht mehr in die­sem Vier­tel. Ich be­dau­e­re, selbst kaum Kon­takt mehr zu ih­nen zu ha­ben. Wis­sen Sie, es gibt nicht we­ni­ge, die nichts mehr mit ih­ren Wur­zeln zu tun ha­ben wol­len. Schau­en Sie, die meis­ten Tou­ris­ten kom­men nur hier­her und se­hen in uns Men­schen, die in ei­nem Ghet­to woh­nen, ob­wohl es ja schon lan­ge kei­nes mehr ist. Doch der Na­me steht für nichts Gu­tes. Wo­bei er ja ur­sprüng­lich gar nichts da­mit zu tun hat­te.«

»Es kommt von der Gie­ße­rei, die hier im Mittel­al­ter war, oder?«

Bass­ani nick­te an­er­ken­nend zu Chia­ra. »Ja, man weiß es nicht ganz ge­nau, aber so heißt es zu­min­dest. Fests­teht, dass die­se In­sel schon den Na­men trug, be­vor man alle Ju­den der Stadt hier­her ver­frach­tet hat. Sie fan­den hier ei­nen ge­wis­sen Schutz vor der Ver­fol­gung in an­de­ren Län­dern und den­noch war es alles an­de­re als ein pri­vi­le­gier­tes Le­ben. Wir wur­den auf engs­tem Raum ein­ge­pfercht und ge­dul­det, so­lan­ge wir uns an die Ghet­tog­ren­ze hiel­ten, doch stets ge­mie­den, ver­ach­tet, dis­kri­mi­niert. Es war ein arms­eli­ges Da­sein.«

Es mach­te mich nach­denk­lich, wie wei­trei­chend schon da­mals Un­ter­drü­ckung, Ab­gren­zung und Frem­den­hass waren.

»Kurz be­vor wir zu Ih­nen ka­men, ha­ben wir uns ge­fragt, wie es den Men­schen hier zur Zeit des Fa­schis­mus ging. Sie sa­gen, To­ra­ni hat sich kei­ne gu­te Zeit aus­ge­sucht, nach Deutsch­land zu ge­hen. Wä­re er hier si­che­rer ge­we­sen?«

»Nein. Viel­leicht so­gar im Ge­gen­teil. Dass mei­ne Fa­mi­lie über­lebt hat, war ein Wun­der. 1943 ge­lang­ten die Na­zis bis hier­her. Sie ha­ben alle, die hier leb­ten und sich nicht recht­zei­tig ret­ten oder ver­ste­cken konn­ten, in Kon­zen­tra­tions­la­ger ver­schleppt und ge­tö­tet. Was jahr­hun­dert­elang in Ve­ne­dig nicht ge­sche­hen war, ha­ben die Deut­schen sehr gründ­lich ge­schafft.«

Chia­ra und ich schwie­gen be­trof­fen.

»Es le­ben nicht mehr viele Ju­den hier. Nur we­ni­ge sind zurück­ge­kom­men. Dies ist mitt­ler­wei­le eher ei­ne Ge­denk­stät­te. Ich bin ei­ner der Letz­ten, die ihr gan­zes Le­ben lang hier ge­lebt ha­ben.«

Bass­ani sah mü­de und er­schöpft aus. Das lan­ge Ge­spräch und die Er­zäh­lung hat­ten den al­ten Mann an­ge­strengt. Wir hat­ten längst nicht alles er­fah­ren, waren je­doch an un­se­rem er­sten Tag schon ein gu­tes Stück weiter­ge­kom­men. Als ich mich er­hob und mich be­dan­ken woll­te, leg­te er sei­ne al­te, fal­ti­ge Hand auf mei­ne.

»Sel­ten be­kom­men wir Be­such, der sich nach ehe­ma­li­gen Be­wohn­ern un­se­res Ghet­tos er­kun­digt. Noch da­zu so jun­ge und in­te­res­sier­te Men­schen. Ich wür­de Ih­nen ger­ne das Vier­tel und die Syn­ago­gen zei­gen. Wenn Sie es ein­rich­ten kön­nen, kom­men Sie mor­gen Mit­tag wie­der. So ge­gen fünf­zehn Uhr. Abends la­de ich Sie zum Es­sen ein. Ei­nem ech­ten ko­sche­ren Mahl. Mei­ne Tochter und Enkel­tochter sind her­vor­ra­gen­de Kö­chin­nen.«

Ich schau­te Chia­ra an. Sie nick­te.

»Wir kom­men sehr ger­ne. Vielen herz­li­chen Dank.«

Der al­te Rab­bi lä­chel­te. Als hät­te er un­se­re wei­te­ren Fra­gen ge­ahnt, füg­te er hin­zu: »Wenn Sie das möch­ten, wer­de ich mich kun­dig ma­chen, wie Sie noch mehr über Ab­ra­ham To­ra­ni und die Fa­mi­lie sei­ner Frau her­aus­fin­den kön­nen. Mei­nes Er­ach­tens weiß sei­ne Groß­nich­te noch das ei­ne oder an­de­re. Ich wer­de ver­su­chen, sie zu kon­tak­tie­ren.«

Chia­ra war von der Idee be­geis­tert. »Oh, das wä­re me­ga … Ich mei­ne groß­ar­tig!«

Wir ga­ben ihm die Hand und ver­spra­chen am näch­sten Nach­mit­tag wie­der zu kom­men.

»Scha­lom, mei­ne Lie­ben.«

Im Flur stand wie­der das klei­ne Mäd­chen. Sie sprang uns vor­aus, und als Chia­ra ihr er­klär­te, wir wür­den am näch­sten Tag wie­der­kom­men, schau­te sie er­staunt, lä­chel­te dann aber.

Drau­ßen pack­te Chia­ra, wie sooft, die Aben­teu­er­lust. »Und nun? Was ma­chen wir mit dem Rest des Tages?«

Ich räu­sper­te mich, weil ich ahn­te, dass die­ser Vor­schlag nicht auf ih­re Be­geis­te­rung stoßen wür­de. »Emi­lia hat uns für heu­te Abend ein­ge­laden. Ich woll­te es dir vor­hin schon sa­gen. Hab’s dann aber ver­ges­sen. Sie hat mich an­ge­spro­chen, be­vor ich das Hotel ver­las­sen ha­be.«

Sie ver­zog das Ge­sicht.

»Komm schon. Sie ist echt nett.«

Chia­ra schien sich in­ner­lich zu win­den.

»Stell dich nicht so an. Außer­dem ha­be ich Hun­ger und die Res­tau­rants hier sind ir­re teu­er.«

Leicht mur­rend stimm­te sie schließ­lich ein und wir mach­ten uns auf den Weg zurück zum Hotel Emi­lia.

A. S. Tory und die verlorene Geschichte

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