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1. Campeto und Hannover

Campeto - Mittwoch, 26.09.2018

Die Herbst­son­ne schien in den ge­pflas­ter­ten In­nen­hof und schim­mer­te in den Fens­ter­schei­ben. Ein war­mer Gold­ton lag auf den Haus­mau­ern und bun­te Wä­sches­tü­cke tanz­ten an der Lei­ne. Eng zu­sam­men­ge­rollt schlie­fen die bei­den Kat­zen un­ten auf der La­de­flä­che des Pick-ups.

Chia­ra wand­te ih­ren Blick vom Fens­ter, strich die wi­der­spens­ti­gen ro­ten Sträh­nen aus ih­rem Ge­sicht, seufzte und starr­te wie­der auf das Auf­ga­ben­blatt. Er­ör­tern Sie, wel­che Fak­to­ren ge­gen En­de der Wei­ma­rer Re­pu­blik die po­li­tisch ra­di­ka­len Kräf­te am lin­ken und rech­ten Rand stärk­ten.

Schon seit ei­ner Stun­de saß sie am Schreib­tisch und hat­te nichts Ge­schei­tes zu Papier ge­bracht, konn­te sich ein­fach nicht kon­zen­trie­ren. Die­se E-Mail … sie hat­te sie mehr­mals ge­le­sen, wuss­te nicht, was sie da­von hal­ten soll­te. Den­noch, die Neu­gier war da, hat­te sie so­fort ge­packt und nicht mehr los­ge­las­sen.

Zeit, ei­ne Ent­schei­dung zu tref­fen.

Chia­ra griff ihr Han­dy, öff­ne­te ihr Post­fach, klick­te auf Weiter­lei­ten und schick­te in di­rek­ter Fol­ge ei­ne Kurz­nach­richt. Sid, schau mal in dei­ne Mails …

Hannover - Mittwoch, 26.09.2018

Ich saß am Schreib­tisch und ver­such­te, das Wirr­warr an Ar­beits­blät­tern und Bü­chern in Ord­nung zu brin­gen, als ich Chia­ras Nach­richt sah. Auf dem Plat­ten­tel­ler ro­tier­te Stings De­sert Ro­se. Das Stück er­in­ner­te mich auf wun­der­sa­me Wei­se an Mar­ra­kesch im letz­ten Jahr. Die Far­ben und Ge­rü­che der Me­di­na. Die flir­ren­de Hit­ze wäh­rend der Mit­tags­zeit. Die stau­bi­gen, rost­ro­ten Ber­ge des Ou­ri­ka­tals. Die Wü­ste, die wir in der Ferne er­ahn­ten, uns aber nicht mehr an­schau­en konn­ten.

Mit Ach und Krach hat­te ich den Sprung in die Ober­stu­fe ge­schafft und mich da­mit selbst über­rascht. Mitt­ler­wei­le hef­te­te ich von Zeit zu Zeit mei­ne Sa­chen ab, um ei­ni­ger­ma­ßen den Über­blick zu be­hal­ten. Chip­stü­ten, Fla­schen, al­te Brot­do­sen oder So­cken sam­mel­te ich nun ein­mal in der Wo­che zu ei­nem Hau­fen zu­sam­men, da­mit man durch mein Zim­mer kam. Mei­ne Mutter ließ mir nach den Er­eig­nis­sen im letz­ten Herbst we­ni­ger Frei­hei­ten als vor­her, kon­trol­lier­te immer wie­der, was ich ge­ra­de mach­te, und frag­te mir Lö­cher in den Bauch. Nach und nach hat­te sie her­aus­be­kom­men, was ich auf mei­nem heim­li­chen Trip er­lebt hat­te. Fast alles … Auch Chia­ra hat­te ihr das En­de un­se­res Aben­teu­ers nicht voll­stän­dig ver­ra­ten. Sie war im Ja­nu­ar aus Ita­li­en an­ge­reist und drei Ta­ge bei uns zu Be­such ge­we­sen. Seit­dem sie ih­ren Schul­ab­schluss nach­ho­len woll­te, tausch­ten wir uns manch­mal zu ei­ni­gen Fä­chern aus. Ma­ma fand Chia­ra da­her echt okay, ich glau­be so­gar, sie moch­te sie rich­tig gern.


Ich klick­te mein Post­fach an. Ei­ne weiter­ge­lei­te­te E-Mail. Beim Ab­sen­der hielt ich die Luft an: To­ry!

Ver­ehr­te Sig­no­ri­na Chia­ra,

um Sid nicht er­neut in Schwie­rig­kei­ten zu brin­gen, möch­te ich Sie zu­erst an­schrei­ben. Zu­dem ent­schul­di­ge ich mich, mich so lan­ge nicht ge­mel­det zu ha­ben. Das Al­ter schlägt all­mäh­lich er­bar­mungs­los zu, und ich war ge­sund­heit­lich ei­ne gan­ze Wei­le nicht auf der Hö­he. Lan­ge ha­be ich da­rüber nach­ge­dacht, ob ich Sids Wunsch nach­kom­men und ihm mehr über mich er­zäh­len soll. Aus­schlag­ge­bend war die bei­lie­gen­de An­zei­ge. Sie hat al­te Er­in­ne­run­gen ge­weckt und mir ge­zeigt, wie we­nig Zeit noch bleibt.

Wie Sie wis­sen, wei­le ich be­reits viele Jahr­zehn­te auf die­ser ver­rück­ten Welt. Von ei­ni­gen mei­ner Rei­sen ha­be ich Ih­nen im letz­ten Jahr in Mar­ra­kesch be­rich­tet, vieles je­doch of­fen­ge­las­sen.

Sie könn­ten zu­sam­men mit Sid Licht ins Dun­kel brin­gen, wenn Sie das weiter­hin wol­len.

Es soll ei­ne Rei­se sein, auf der Sie mei­ne Jugend ent­rät­seln kön­nen. Es wird aber nicht nur Schö­nes bei der Re­cher­che her­aus­kom­men. Man­ches da­von ha­be ich lan­ge ver­drängt. Außer­dem wird Sid et­was über sich selbst her­aus­fin­den und be­grei­fen, wa­rum ich ge­ra­de ihn aus­ge­sucht ha­be.

Ich muss Sie je­doch war­nen und dies be­den­ken: Soll­ten Sie die rei­ne Leich­tig­keit in den fol­gen­den Herbst­wo­chen su­chen, wä­re ei­ne an­de­re Rei­se bes­ser. Sie­gen hin­ge­gen Ih­re Neu­gier und Aben­teu­er­lust, will ich Ih­nen fol­gen­de wich­ti­ge Fra­gen be­ant­wor­ten: Wo­hin soll es ge­hen und wie lan­ge soll es dau­ern?

Die er­ste Etap­pe ist nicht weit: Sie führt nach Ve­ne­dig.

Die da­rauf­fol­gen­den Zie­le sind ab­hän­gig von dem, was Sie her­aus­fin­den oder her­aus­fin­den wol­len. Es liegt in Ih­rer Hand. Die zwei Wo­chen Herbst­fe­rien dürf­ten rei­chen. Aller­dings soll­te Sids Mutter dies­mal in­for­miert und ein­ver­stan­den sein.

Den­ken Sie in Ru­he da­rüber nach und set­zen Sie sich mit Sid in Ver­bin­dung. Wenn Sie ei­ne Ent­schei­dung ge­trof­fen ha­ben, las­sen Sie sie mich dies wis­sen. Egal, wie sie aus­fällt.

Es grüßt Sie herz­lich

A.S. To­ry

Im An­hang be­fand sich ei­ne Gra­tu­la­tions­an­zei­ge.


Wir gra­tu­lie­ren zum 95.

Mar­ga­ret­he Reu­ters geb. von Ber­ne­ke

1.9.1923

Fa­mi­lien von Ber­ne­ke und Reu­ters

Ber­lin im Sep­tem­ber 2018


Ich starr­te aus dem Fens­ter. Die Herbst­fe­rien im letz­ten Jahr, To­rys E-Mail, mei­ne heim­li­che Rei­se. Lon­don. Ita­li­en, wo ich Chia­ra ken­nen­lern­te. Un­ser ge­mein­sa­mer Trip nach Frank­reich, Ma­rok­ko und Hol­land. Die Su­che nach ei­ner al­ten Vi­nyl­sing­le und drei Brü­dern, die plötz­lich so en­de­te, wie es kei­ner ge­ahnt hat­te. Und am Schluss die Er­kennt­nis, dass es ei­nen Mis­ter A. S. To­ry über­haupt nicht gab.

Über ein hal­bes Jahr hat­te ich kei­ne Nach­richt mehr von ihm er­hal­ten und trotz aller Re­cher­che­ver­su­che nichts über ihn her­aus­ge­fun­den. Die Fra­ge, wer er war, be­schäf­tig­te mich nach wie vor. Wenn er mein­te, es gin­ge ihm nicht gut, muss­te dies stim­men. Woll­te ich mehr über To­ry er­fah­ren, blieb nicht mehr viel Zeit. Ita­li­en und Ve­ne­dig … Es gab für die bei­den näch­sten Wo­chen kei­ne Rei­se­plä­ne. Dass Mis­ter To­rys Ver­gan­gen­heit mit Ita­li­en zu tun hat­te, war selt­sam. Die­se An­zei­ge aus Ber­lin. Was be­deu­te­te sie? Wer war Mar­ga­ret­he Reu­ters? To­ry leb­te in ei­ner piek­fei­nen Ge­gend von Lon­don, in Ken­sing­ton. Ob­wohl er er­staun­lich gut deutsch sprach, hat­te ich in ihm ei­nen wasch­ech­ten Eng­län­der ge­se­hen. Dann die­se War­nung: Soll­ten Sie die rei­ne Leich­tig­keit in den fol­gen­den Herbst­wo­chen su­chen, wä­re ei­ne an­de­re Rei­se bes­ser. Ei­ne Vor­sichts­maß­nah­me nach den Er­fah­run­gen im letz­ten Jahr?

Außer­dem wird Sid et­was über sich selbst her­aus­fin­den und be­grei­fen, wa­rum ich ge­ra­de ihn da­mals aus­ge­sucht ha­be. Da­mit hat­te er mich end­gül­tig ge­packt … Auch die Mög­lich­keit, Chia­ra zu tref­fen, wä­re es wert …

Ich muss­te wis­sen, was Chia­ra da­von hielt. Oft hat­te ich mich mit ihr über den Trip im letz­ten Jahr aus­ge­tauscht. Sie war von To­ry be­ein­druckt ge­we­sen und den­noch in ih­rem Ur­teil über ihn zwie­ge­spal­ten ge­blie­ben. Ge­nau wie mich in­te­res­sier­te sie sei­ne wah­re Ge­schich­te und Her­kunft, wa­rum er un­ter dem fal­schen Na­men »Mr. To­ry« auf­ge­tre­ten war und aus­ge­rech­net mich aus­ge­wählt hat­te. Wie­so hat­te er so we­nig von sich er­zählt? War er je­mals ver­hei­ra­tet? Hat­te er Ge­schwis­ter oder Kin­der?

Ich schick­te ihr ei­ne Kurz­nach­richt zurück. Und – was meinst du? Nach­denk­li­cher Smi­ley.

Chia­ra schien auf mei­ne Ant­wort ge­war­tet zu ha­ben. Du ent­schei­dest. Wenn du fah­ren willst, bin ich da­bei … Du bist bei mir ein­ge­laden, okay? Zwin­ker­ge­sicht.

Ich schrieb: Ja klar! Ich er­zäh­le auch nichts von To­ry! Und füg­te ei­nen Smi­ley mit Reiß­ver­schluss­mund hin­zu.

Chia­ras Ant­wort kam prompt. Su­per! Sieh zu, dass du dei­ne Mutter über­zeugen kannst! Ich drü­cke dir die Dau­men!

Es war dann alles an­de­re als ein­fach. Na­tür­lich war mei­ne Mutter nicht be­geis­tert. Sie er­in­ner­te mich an den letz­ten Herbst und ih­re Äng­ste, als sie mein Ver­schwin­den be­merk­te. Sie ver­wies auf die vier­wö­chi­ge Ka­na­dar­ei­se. Pa­pa war vor drei Jah­ren aus­ge­wan­dert und leb­te dort sein neu­es Le­ben. Ich wuss­te, dass ein Ur­laub in den Herbst­fe­rien nicht in Be­tracht kam. Ob­wohl mein Vater ei­nen Groß­teil des Som­mer­ur­laubs über­nom­men hat­te, war allein der Flug zu teu­er ge­we­sen, um direkt wie­der zu ver­rei­sen.

Ma­ma tele­fo­nier­te mit Pa­pa, um auch sei­ne Mei­nung ein­zu­ho­len. Nach dem Ge­spräch sah sie un­zu­frie­den aus. »Na ja, du kennst ihn ja. Wie soll aus­ge­rech­net ein Aus­stei­ger wie er dich da­von ab­hal­ten, weg­zu­fah­ren?«, und ließ sich im An­schluss die Num­mer von Chia­ra ge­ben.

Wäh­rend des Tele­fo­nats lief ich ner­vös vor ih­rem Ar­beits­zim­mer auf und ab. Es dau­er­te ent­setz­lich lan­ge. End­lich kam sie aus ih­rem Zim­mer, mit ge­rö­te­ten Wan­gen. Ich über­leg­te, ob das ein gu­tes oder schlech­tes Zeichen war, da husch­te ein Lä­cheln über ihr Ge­sicht.

»Chia­ra ist ge­ni­al, das muss ich zu­ge­ben.«

Ich schau­te sie fra­gend an: »Und?«

»Sie hat es tat­säch­lich ge­schafft, mich zu über­re­den, sie meint, du bräuch­test un­be­dingt ei­ne Aus­zeit von der Schu­le. Ita­li­en wä­re ideal da­für. Und sie wür­de mit dir Fran­zö­sisch ler­nen.« Ma­ma lach­te kurz auf. »Es fällt mir schwer, aber ja. Du darfst fah­ren. Auch nach Ve­ne­dig. Chia­ra sagt, da wür­de ei­ne Tan­te von ihr woh­nen. Aber du mel­dest dich zurück! Und mach kei­ne krum­men Sa­chen! Ich will nicht, dass dich am Schluss wie­der ein Kom­mis­sar nach Hau­se bringt. Das musst du mir ver­spre­chen!«

»Na­tür­lich. Mach dir kei­ne Sor­gen! Dan­ke!« Ich fiel mei­ner Mutter um den Hals, was nicht mehr leicht ge­lang, da sie mitt­ler­wei­le ein gu­tes Stück klei­ner war als ich. Sie wehr­te schwach ab, lä­chel­te aber.

Dann eil­te ich in mein Zim­mer zurück, und konn­te mir ein lau­tes, jauch­zen­des »Jipp« nicht ver­knei­fen. Ich schick­te Chia­ra drei Dau­men­hoch mit Lach­ge­sicht als Nach­richt, wo­rauf­hin sie mit ei­nem Zwin­ker­ge­sicht ant­wort­ete. Ich nahm die LP von Sting vom Plat­ten­tel­ler, fisch­te So­met­hing just li­ke this her­aus und star­te­te laut die Musik. Am Lap­top such­te ich nach ei­nem Flug von Han­no­ver nach Pi­sa. Abends pack­te ich mei­ne Sa­chen. Für Ka­na­da hat­te ich ei­nen neu­en gro­ßen Rei­se­kof­fer be­kom­men. Den al­ten zer­schlis­se­nen Ruck­sack vom letz­ten Jahr nahm ich trotz­dem da­zu, aus rein nos­tal­gi­schen Grün­den.

Samstag, 29.09.18

Die zwei Schul­ta­ge ver­gin­gen schnell.

Am Sams­tag­mor­gen war es so weit. Mei­ne Mutter brach­te mich zu­sam­men mit mei­nem Bru­der Fer­di zum Flug­hafen. Kurz vor der Si­cher­heits­kon­trol­le drück­te sie mich fest.

»Du machst wirk­lich kei­ne Dumm­hei­ten?«

Ich schüt­tel­te den Kopf und gab ihr ei­nen Kuss – das mach­te ich sonst nie – und brach­te Ma­ma da­mit ver­mut­lich aus der Fas­sung, knuff­te Fer­di, der die gan­ze Zeit rat­los da­bei­stand, in die Sei­te und ver­sprach ihm: »Ich bring dir ein In­ter-Mai­land-Tri­kot mit, okay?«

Fer­di nick­te. Dann wink­ten sie, ich pas­sier­te den Kon­troll­be­reich und lief zum Ga­te.

Die verlorene Geschichte

Den Jun­gen aus­zu­wäh­len, war ei­ne spon­ta­ne Ent­schei­dung. Der Na­me. Auf­fäl­lig. Und mir so ver­traut. Ei­ne Li­ai­son aus deut­schem Helden­tum und Sa­gen. Sieg­mund … Sieg­fried … Sa­gen­roth …

Nein, ich woll­te mich lan­ge Zeit nicht er­in­nern, will ich das heu­te?

Die­se zwei­te Rei­se … Eigent­lich war ich im letz­ten Jahr da­von über­zeugt, dass es ei­ne ein­ma­li­ge Sa­che ge­we­sen war. Wa­rum dann doch? Sen­ti­men­ta­li­tät? Angst, ver­ges­sen zu wer­den? Um die Din­ge end­lich rich­tig­zu­stel­len? Weil es lei­der wie­der ak­tu­ell ist? Weil es wie­der be­ginnt, und ich es nicht er­tra­gen kann, auf mei­ne al­ten Ta­ge zu­zu­se­hen?

A. S. Tory und die verlorene Geschichte

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