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3. Venedig Montag, 1.10.18

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Lu­do­vi­ca über­reich­te uns am frü­hen Mor­gen ein mit viel Lie­be zu­be­rei­te­tes Pro­vi­ant­paket und drück­te mich beim Ab­schied an sich. Sie be­glei­te­te dies mit ei­ner Stak­ka­to­fol­ge ita­lie­ni­scher Wor­te, die ich wie­der kaum ver­ste­hen konn­te. Of­fen­sicht­lich wünsch­te sie mir ei­ne gu­te Rei­se und be­dau­er­te es, dass ich nicht län­ger blieb.

Zu­sam­men mit Fe­de­ri­co bra­chen wir auf, um nach Pi­sa zu fah­ren. Er hat­te min­des­tens ei­nen so flot­ten Fahr­stil wie sei­ne Tochter. Ein­zi­ger Un­ter­schied war, dass sein gro­ßer Land­crui­ser sehr viel we­ni­ger Lärm mach­te und grö­ße­ren Sitz­kom­fort hat­te als Chia­ras klei­ner Pick-up.

Durch die Tä­ler wa­ber­ten Ne­bel­schwa­den, was den Reiz der Land­schaft kei­nes­wegs ge­rin­ger mach­te, im Ge­gen­teil. Auch lock­te das Meer, dem wir uns mit ei­ner Kur­ve nach der an­de­ren nä­her­ten.


In Pi­sa er­war­te­te uns Lärm und hek­ti­scher Stra­ßen­ver­kehr. Hier ge­sti­ku­lier­ten und schnat­ter­ten selbst die Autos mit größ­ter Leb­haf­tig­keit. Fe­de­ri­co ge­lang es, in ei­ner Sei­ten­stra­ße in der Nä­he des Haupt­bahn­hofs ei­nen Park­platz zu er­gat­tern. Mit un­se­ren Rei­se­kof­fern pol­ter­ten wir in Rich­tung Sta­zio­ne Cen­tra­le di Pi­sa, ei­nem sehr präch­ti­gen, lang ge­streck­ten, oran­ge­far­be­nen Ge­bäu­de mit meh­re­ren Ar­ka­den­gän­gen. Wir kauf­ten un­se­re Ti­ckets. Über die Ab­fahrts­zeiten hat­ten wir uns vo­rab in­for­miert. Um 9.12 Uhr fuhr der Zug, den wir neh­men woll­ten. In Flo­renz muss­ten wir um­stei­gen. Den­noch wür­de die ge­sam­te Rei­se nur cir­ca drei­ein­halb Stun­den dau­ern. Wenn es kei­ne we­sent­li­chen Ver­spä­tun­gen ge­ben wür­de, könn­ten wir schon in der Mit­tags­zeit in Ve­ne­dig sein. Am Bahng­leis an­ge­kom­men, ver­ab­schie­de­ten wir uns von Fe­de­ri­co. Chia­ra um­arm­te ihn, ich gab ihm die Hand.

»Pren­di­ti cu­ra di te!« Fe­de­ri­co schau­te uns bei­de prü­fend an. Dann gab er uns für Emi­lia, die ve­ne­zia­ni­sche Be­kann­te, bei der wir woh­nen soll­ten, noch ei­nen Kar­ton mit Wein. Et­was un­hand­lich, doch Chia­ra schob ihn läs­sig in die Ecke des Zu­gab­teils. Wir setz­ten uns ein­an­der ge­gen­über. Un­wei­ger­lich muss­te ich an mei­ne er­ste Zug­fahrt nach Lon­don den­ken, mit der alles be­gon­nen hat­te. Da­mals war ich allein, wuss­te nicht, was mich er­war­te­te. Auch jetzt war un­klar, was bei un­se­rer Rei­se raus­kom­men wür­de. Mit ei­nem Un­ter­schied: Chia­ra war da­bei. Das war ein gu­tes Ge­fühl. Wo­bei sie kei­nes­wegs ein Ga­rant für ver­nünf­ti­ge Ent­schei­dun­gen war … Sie war mu­tig und taff, sehr po­si­tiv, spon­tan, aber auch ver­we­gen, im­pul­siv, leicht­sin­nig und un­end­lich neu­gie­rig. Ih­re Nach­denk­lich­keit ge­stern war mir da­her neu.

Wir hat­ten Glück und das Ab­teil für uns. Wäh­rend der Zug los­rat­ter­te, über­leg­te ich, ob ich mei­nen iPod ein­stöp­seln soll­te oder ob das ir­gend­wie un­höf­lich wä­re.

Als hät­te sie mei­ne Ge­dan­ken ge­le­sen, er­mun­ter­te sie mich. »Nur zu, du kannst Musik hö­ren. Wir kön­nen in den näch­sten zwei Wo­chen noch ge­nug mit­ein­an­der re­den. Wenn du bei der Musik mit­wippst, darf ich mit­hö­ren.«

Ich muss­te schmun­zeln. Er­in­ner­te ich mich doch an un­ser ge­mein­sa­mes Musik­hö­ren auf dem Flug nach Mar­ra­kesch im letz­ten Jahr. Fast pass­te es da­zu, was ich als Er­stes hör­te. Haya­te von Lu­cia­no. Deutsch­rap. Ara­bi­scher Touch. Ich mach­te mit dem Ober­körper, Hän­den und Ar­men zu dem orien­ta­li­schen Rhyth­mus ab­sicht­lich ent­spre­chen­de Be­we­gun­gen, so­dass sie den Kopf schüt­teln und la­chen muss­te. Sie nahm den­noch ein Buch her­vor. Ich schiel­te zum Co­ver. Sieh an, Chia­ra las Lie­bes­roma­ne. Hät­te ich nicht ge­dacht. Nach­dem ich letz­tes Jahr durch To­ry die Be­geg­nung mit ei­nem al­ten Klas­si­ker ge­macht hat­te, hat­te ich mei­ne üb­li­che Kri­mi­lek­tü­re und das Zo­cken re­du­ziert und hin und wie­der Roma­ne ge­le­sen, die nicht dem Mains­tre­am zu­zu­ord­nen waren.

Die Zug­fahrt führ­te uns quer durch die Tos­ka­na. Ich sah die meis­te Zeit aus dem Fens­ter. Fel­der mit Wein und klein­ere Dör­fer im Wech­sel, ein­sam ge­le­ge­ne Wein­gü­ter, sie äh­nel­ten alle ein biss­chen Cam­pe­to. Nicht alles war tos­ka­ni­sche Idyl­le. Strom­mas­ten, Fa­bri­ken, ver­ein­zelt Hoch­häu­ser, braun, her­un­ter­ge­kom­men. Die bun­ten Wä­sches­tü­cke, die hier vor den Fens­tern hin­gen, wirk­ten wei­taus we­ni­ger mal­er­isch als in Cam­pe­to oder Mon­te­ver­di.

Nach ei­ner Stun­de tra­fen wir im Bahn­hof von Flo­renz ein, wo wir ei­ne knap­pe hal­be Stun­de Zeit zum Um­stei­gen hat­ten. Den schwe­ren Kar­ton mit dem Wein über­nahm ich und ver­fluch­te den Um­stand, dass Fe­de­ri­co uns mit ei­nem so un­hand­li­chen Ge­päck­stück be­dacht hat­te. Zum Glück schaff­te ich es, ihn heil durch das Ge­wu­sel des Bahn­hofs zu ba­lan­cie­ren.

Für die Fahrt von Flo­renz bis Ve­ne­dig fan­den wir in ei­nem über­füll­ten Groß­raum­wag­gon noch Sitz­plät­ze, die na­he ge­nug zu­sam­men­lagen, dass wir uns zu­min­dest über den Gang hin­weg un­ter­hal­ten konn­ten.

»Wird Emi­lia uns ab­ho­len?«

Chia­ra schüt­tel­te den Kopf. »Nein, sie führt ein klei­nes Hotel und hat da­her für so et­was kei­ne Zeit. Wir wer­den uns vom Bahn­hof aus ein Was­ser­ta­xi neh­men. Da­für ha­ben wir den Luxus, kos­ten­los in ih­rem Hotel zu woh­nen. Sie hat­te noch Zim­mer frei, was allein schon ein Wun­der in Ve­ne­dig ist, und Glück für uns.«

»Dann wer­de ich ihr den Wein nicht gleich am Bahn­hof in die Hän­de drü­cken kön­nen. Aber Was­ser­ta­xi hört sich gut an!«

Ich ent­schied mich, Lu­do­vi­cas Pick­nick­paket in An­griff zu neh­men. Er­gän­zend hat­ten wir uns bei­de je­weils ei­nen Cap­puc­ci­no-to-go auf dem Bahns­teig ge­holt, der lei­der nicht ver­hin­dern konn­te, dass ich ir­gend­wann ein­nick­te. Am Vor­abend war es spät ge­wor­den und wir waren recht früh am Mor­gen los­ge­fah­ren.


Als mich Chia­ra vor­sich­tig wach­rüt­tel­te, fuhr der Zug be­reits auf die La­gu­ne zu. Dicht ne­ben uns das Meer! Es sah auf dem er­sten Blick so aus, als wür­den wir über das Was­ser flie­gen. Ich stand auf, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Glit­zern­des Blau, un­ter­bro­chen von schma­len Grün­strei­fen und ei­nem nie­dri­gen Ge­län­der, das die Bahns­tre­cke säum­te und vom Meer trenn­te. Dann roll­ten wir ei­nem brei­te­ren Schie­nen­netz ent­ge­gen, das Meer ver­schwand wie­der lang­sam aus dem Sicht­feld. Man konn­te den Bahns­teig be­reits se­hen. Ei­lig griff ich mei­nen Kof­fer und mei­ne Ja­cke aus der Ge­pä­ckla­ge, nahm den Wein­kar­ton un­ter den Arm und dräng­te Chia­ra, die sich nicht von ih­rem Buch lö­sen konn­te, sich zu be­ei­len.

»Va be­ne. Cal­ma. Ve­ne­dig wird heu­te noch nicht un­ter­ge­hen.«

»Schon klar … trotz­dem müs­sen wir nicht die Zeit ver­trö­deln. Ve­ne­dig sieht man nicht alle Ta­ge, oder?«

Die Fahrt wur­de lang­sa­mer. Auf ei­nem blau­em Schild stand Ve­ne­zia S. Lu­cia. Sto­ckend und quiet­schend kam der Zug zum An­hal­ten. Usci­ta. Wir reih­ten uns in den Pulk der an­de­ren Fahr­gäs­te ein, die auf das Öff­nen der Türen war­te­ten.

In der Bahn­hofs­hal­le wu­sel­ten, wie er­war­tet, Tausen­de Men­schen um­her. An­den­ken­kitsch und teu­re Bou­tiquen dicht an dicht. Ein Gi­tar­ren­spie­ler, der Coun­ting Stars von One Re­pu­blic spiel­te. Er war sehr gut und wir hiel­ten kurz an, um ihm zu­zu­hö­ren. Dann zo­gen wir weiter mit un­se­ren Kof­fern Rich­tung Aus­gang. Auf der brei­ten Platt­form drau­ßen blie­ben wir ste­hen. Wow! Vor uns der Blick auf die Stadt und den Ca­na­le Gran­de. Der Himmel blau-grau, auf dem Platz ein Ge­tüm­mel an Tou­ris­ten mit Foto­ap­pa­ra­ten, Smart­pho­nes, Sel­fies­ticks. Fre­che Mö­wen und lau­ern­de Tauben, die er­war­tungs­voll zwi­schen­drin rums­tol­zier­ten, um auf den Hap­pen zu war­ten, der viel­leicht doch ab­fiel.

»Komm ja nicht auf die Idee sie zu füt­tern! Das kann rich­tig teu­er wer­den!«, warn­te mich Chia­ra.

Das hat­te ich nicht ge­wusst. Aber ich hat­te eh fast alles auf­ge­ges­sen, was Lu­do­vi­ca uns mit­ge­ge­ben hat­te.

Am An­le­ge­steg war­te­ten zahl­rei­che die­ser be­rühmt­en schwar­zen Gon­deln. Gut er­kenn­bar an ih­ren schwarz-weiß-ge­rin­gel­ten Shirts hiel­ten die Gon­do­lie­re Aus­schau nach der näch­sten Tou­ris­ten­la­dung.

»Das da drü­ben mit der tür­kis­far­be­nen Kup­pel ist die Chie­sa San Si­meon Pic­co­lo. Und da vor­ne kön­nen wir gleich ein Va­po­ret­to neh­men.«

Wir kauf­ten uns Tages­ti­ckets und be­stie­gen zu­sam­men mit an­de­ren Rei­sen­den ei­nes der be­reits­te­hen­den Was­ser­ta­xis. Hal­te­punkt soll­te für uns San Mar­co sein. Ganz in der Nä­he hat­te Emi­lia ihr klei­nes Hotel.

Die Fahrt auf dem Ca­na­le Gran­de war ein­zig­ar­tig. Chia­ra lach­te und mein­te, ich sä­he köst­lich aus, wenn ich die­ses Stau­nen im Ge­sicht hät­te. Sie form­te mit dem Mund ein gro­ßes ›O‹. »Du siehst ge­ra­de aus wie ei­ner die­ser Porgs aus Star Wars, Epi­so­de acht. Du weißt, was ich mei­ne? Die­se lus­ti­gen Eu­len­vögel.«

»Was für ein hüb­scher Ver­gleich. Wenn ich mich recht er­in­ne­re, sa­hen die aber voll nied­lich aus und waren die heim­li­chen Stars des Films.« Ich form­te mei­ner­seits ein auf­fäl­li­ges ›O‹ mit dem Mund und mach­te mit den Ar­men Flat­ter­be­we­gun­gen. Ei­ne jun­ge ja­pan­is­che Tou­ris­tin schau­te mich er­staunt an und foto­gra­fier­te mich dann, wo­rauf­hin ich den Blöd­sinn stopp­te. Chia­ra ki­cher­te. Ich be­müh­te mich im An­schluss, der Schiff­fahrt mit fest ver­schloss­enem Mund zu fol­gen, aber nicht we­ni­ger auf­merk­sam und be­geis­tert. Wir fuh­ren an ur­al­ten Ge­bäu­den mit läng­li­chen Fens­tern, Rund- und Spitz­bö­gen, Ar­ka­den, Bal­kons, Or­na­men­ten und Ver­zie­run­gen vor­bei, die dicht an dicht sich aus dem hell­grü­nen, leicht schlam­mig-trü­ben Was­ser er­ho­ben und die ich bis­lang nur aus Fil­men und Wer­be­pro­spek­ten kann­te: Ro­te, hell­grü­ne, gel­be oder brau­ne Pa­laz­zi, man­che da­von breit, nie­drig, lang ge­streckt, mit Mar­ki­sen, Säulen­ein­gän­gen, die ei­nen präch­tig, an­de­re ver­fal­len, mit ab­blät­tern­der Far­be, an­ge­nagt vom Zahn der Zeit und dem ewi­gen Spiel des Meeres. Dicht mit Al­gen be­wachs­ene Holz­pfäh­le, an de­nen das Was­ser auf und ab schwapp­te. Über­all kreuz­ten Gon­deln und weite­re Was­ser­ta­xis un­se­re Fahrts­tre­cke. Son­nen­be­brill­te Tou­ris­ten, die sich ge­gen­sei­tig film­ten und foto­gra­fier­ten.

Bei San Mar­co leg­te das Va­po­ret­to an und wir klet­ter­ten an Land. Ich hiev­te un­se­re Ge­päck­stü­cke aus dem schwan­ken­den Schiff. Chia­ra hol­te ihr Han­dy her­vor und rief die App auf, um den schnell­sten Weg zu Emi­li­as Hotel zu fin­den. »Ma­xi­mal fünf Mi­nu­ten. Wir müs­sen da lang.«

A. S. Tory und die verlorene Geschichte

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