Читать книгу A. S. Tory und die verlorene Geschichte - S. Sagenroth - Страница 6
Sonntag, 30.09.18
ОглавлениеAm Vormittag besuchten wir Chiaras Onkel Raffaele. Ich lernte bei der Gelegenheit auch seine Frau Antonia kennen. Eine kleine, rundliche, freundliche Italienerin. Sie zeigte mir Fotos von ihren Kindern, Franka und Francesco, die beide bis zu den Winterferien im Internat waren, und erzählte von der Weinernte in diesem Jahr, die dank des heißen Sommers ausgezeichnet ausgefallen war, allerdings viel Arbeit machen würde.
Chiara und ich machten anschließend mit dem Pick-up einen Kurztrip in die nähere Umgebung. Der weite Blick in die hügelige Landschaft mit den herbstfarbenen Weinhängen war der Hammer. Kitschpostkartenidylle pur, könnte man sagen. Wir hörten dabei Musik, italienischen Pop im Wechsel mit internationalen Charts, hatten die Fenster heruntergekurbelt und genossen einfach die Zeit.
Ich schaute sie von der Seite an. Ihr wie immer verwuscheltes rotes Haar wehte im Fahrtwind, sie lachte und scherzte, summte und sang zur Musik mit, die gerade lief, ich glaube, es war so ein alter italienischer Schlager. » … dabadan, dabadan, babadan … tu …« In dem Moment wusste ich, egal, was bei unserem Trip herauskommen würde, es war klasse, Chiara wiederzusehen. Selbst wenn unklar blieb, was aus unserer Freundschaft wurde und wie aussichtslos es im Grunde war. Sie hier in Italien, ich in Hannover. Wir hatten diese zwei Wochen. Und darüber freute ich mich in diesem Augenblick irrsinnig.
Am späten Nachmittag suchten wir nach passenden Zugverbindungen für den nächsten Tag und googelten nach mehr Infos über Venedig und den Stadtteil Cannaregio.
Den Sonntagabend verbrachten wir nach dem Essen abschließend in der Sportsbar in Monteverdi. Chiara stellte mich einigen Freunden und Bekannten vor, die ich im letzten Jahr noch nicht kennengelernt hatte. Ich fragte mich, wer von ihnen schon ihr Freund gewesen war. Ein Typ namens Salvatore sah mich lange und auch etwas argwöhnisch an und fragte mit seltsamer Betonung: »Du bist also Sid?« Während die anderen recht ausgelassen und locker waren, verhielt er sich die ganze Zeit über abweisend. Trotzdem wurde der Abend ganz nett. Nach ein paar Darts- und Billardrunden brachen wir gegen elf Uhr auf, da es am nächsten Morgen schon früh losgehen sollte.
Als ich gerade das Licht ausmachen wollte, klopfte es an der Tür. Erstaunt öffnete ich. Chiara schlüpfte ins Zimmer. Schon in einer Art Schlafshirt. Grundgütiger! Ich blickte auf ein riesiges Abbild von Albert Einstein. In psychedelischen Farben. Der alte Herr starrte mir geradewegs ins Gesicht und streckte die Zunge heraus. Aber der Spruch war gut: Learn from yesterday, live for today, hope for tomorrow. Ich musste mich dennoch anstrengen, einigermaßen ernst zu bleiben. »Sehr schick, was du da anhast.«
Sie schaute an sich herunter, zuckte aber nur mit den Achseln. Dann räusperte sie sich: » … Bevor es morgen losgeht – ich habe mir nochmals die E-Mails von Tory durchgelesen. Er hat indirekt davor gewarnt, dass nicht nur Schönes bei der Reise rauskommt. Und dann, dass du über dich etwas erfahren könntest … Was glaubst du, was er damit meint? Ich grübele schon die ganze Zeit. Macht einen ganz kirre.« Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und schaute mich fragend an. Ich nahm wieder auf meinem Bett Platz und überlegte, was ich darauf antworten sollte. »Ich habe das ganze Jahr über Tory nachgedacht, wie du weißt. Dass er uns nach Venedig führen würde, darauf wäre ich allerdings beim besten Willen nicht gekommen. Tja, was Tory damit meint … schwer zu sagen. Aber natürlich hat er mich vor allem damit gepackt: dass ich über mich etwas herausfinden kann. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Er hat außerdem damals verdammt wenig über sich erzählt. Ich glaube, dass da etwas Trauriges ist. Und aus irgendeinem Grund sollen ausgerechnet wir das herausfinden …«
Chiara nagte an ihrer Unterlippe. »Hm. Ja, du hast vielleicht recht. So ein Gefühl habe ich auch. Ich freue mich darauf, aber ich habe auch ein bisschen Angst davor, was wir entdecken werden. Und ob ich überhaupt alles wissen will.«
Ich schaute sie an. So nachdenklich kannte ich sie gar nicht. Daher sagte ich aufmunternd. »Hey, wir können doch selbst entscheiden, wie viel wir herausfinden wollen.« Mit einem Nicken erhob sie sich, beugte sich dann rasch zu mir, gab mir einen Kuss auf die Wange und schneller, als ich das realisieren konnte, war sie aus dem Zimmer verschwunden. Was war das gewesen? Ich saß noch eine Weile auf der Bettkante, musste lächeln, grübelte über unser Gespräch, über Chiara, über Tory und entschied mich das Licht auszumachen, um fit für den nächsten Tag zu sein und all das, was da noch so kommen würde …