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4. Emilia, Cannaregio und Bassani

Sie hat­te die­se alters­lo­se Schön­heit, die we­ni­gen ver­gönnt ist. Gro­ße, dunk­le, aus­druckss­tar­ke Augen, lan­ge Wim­pern, bron­ze­far­be­ne Haut mit nur ver­ein­zel­ten Lach­fält­chen, ein schön ge­schwun­ge­ner Mund, läs­sig hoch­ge­steck­tes, schwar­zes Haar. Sie trug ein ein­fa­ches bunt ge­blüm­tes Kleid, das den­noch nicht ver­barg, dass sie ei­ne sehr gu­te Fi­gur hat­te.

Ich sah Chia­ra an, dass sie, ge­nau­so wie ich, schlag­ar­tig be­griff, wer Emi­lia war. Was hat­te Chia­ra ge­meint? Ei­ne Be­kann­te von Fe­de­ri­co? Die­se Art, wie Emi­lia »la fig­lia di Fe­de­ri­co« sag­te, fiel mir so­fort auf – et­was hei­ser und bei­läu­fig. Wäh­rend sie Chia­ra be­trach­te­te, be­merk­te ich ei­ne Mi­schung aus Ver­le­gen­heit, Neu­gier­de und Zärt­lich­keit in ih­rem Ge­sicht. Da war ir­gend­wie klar: sie war mehr als nur ir­gend­ei­ne Be­kann­te. Mit Er­stau­nen stell­te ich fest, dass Chia­ra sich an­schlie­ßend für ih­re Ver­hält­nis­se recht wort­karg und kei­nes­wegs so lo­cker und cool gab, wie sie üb­li­cher­wei­se war. Ich spür­te, wie sie auch mich so­fort mit Arg­wohn be­äug­te. Viel­leicht hat­te ich Emi­lia zu lan­ge an­ge­starrt und ihr et­was un­be­hol­fen den Kas­ten mit dem Wein vom Po­de­re Da Ro­sa über­reicht. Wo­rauf­hin Emi­lia mir ein strah­len­des Lä­cheln schenk­te, was Chia­ras Ge­sicht noch­mals ver­fins­tern ließ. Ich war da­her froh, dass sie uns direkt im An­schluss das Hotel zei­gen woll­te. Es war ei­nes die­ser ganz schma­len klei­nen Ge­bäu­de, die wir auch auf der Fahrt mit dem Va­po­ret­to be­reits ge­se­hen hat­ten. Klein, aber nichts­de­sto­trotz be­ein­druckend. Die Außen­wän­de waren dun­kel­rot an­ge­stri­chen, die schma­len läng­li­chen Fens­ter mit den go­ti­schen Ober­lich­tern, wie man sie sonst nur aus Kir­chen kann­te, mit wei­ßer Far­be ab­ge­setzt. Als wir das Hotel be­tra­ten, konn­ten wir die In­nen­räu­me be­wun­dern. Die Wän­de waren mit glän­zen­den Seiden­ta­pe­ten be­zo­gen. Je­der Raum in ei­ner an­de­ren Far­be. Hier und da al­te Schwarz-Weiß-Bil­der von Ve­ne­dig in dunk­len Rah­men und Grün­pflan­zen auf klei­nen Po­de­sten. Über ei­ne Sei­ten­tür ge­lang­te man in ei­nen In­nen­hof, über­wu­chert mit Efeu und Cle­ma­tis, in dem sich ei­ne al­te Hol­ly­wood­schau­kel und ein paar wei­ße, et­was ro­sti­ge Bis­tro­tisch­chen be­fan­den. Emi­lia schwärm­te, dass man hier schö­ne schat­ti­ge Pausen ein­le­gen könn­te, auch et­was Ru­he fand von der Hek­tik der Stadt.

In dem klei­nen Früh­stü­cksraum waren die leuch­tend ro­ten Leder­ses­sel ab­so­lu­te Eye­cat­cher. Dies alles hät­te an­ders­wo mög­li­cher­wei­se über­laden oder kit­schig ge­wirkt. Hier pass­te es aber. Es pass­te auch ir­gend­wie zu Emi­lia. So hieß auch das Hotel wie sie. Hotel Emi­lia. Kurz, aber klang­voll. Wir folg­ten ihr auf der schma­len Trep­pe zu un­se­ren Hotel­zim­mern im zwei­ten Stock­werk. Als sie dort mit an­de­ren Haus­gäs­ten, die uns ent­ge­gen­ka­men, ein paar Wor­te wech­sel­te, wur­de mir spon­tan klar, dass sie den Char­me und das Be­son­de­re des Hotels durch ih­re Er­schei­nung noch un­ter­strich.

Emi­lia zeig­te uns un­se­re Zim­mer. Da­bei hell­te sich auch kurz­fri­stig Chia­ras Stim­mung auf. Wir hat­ten Zim­mer, die zur Ka­nal­sei­te hin­aus­gin­gen. Mit win­zi­gen Bal­kons vor den Fens­ter­türen. Das ei­ne war ganz in Dun­kel­grün ge­hal­ten, das an­de­re in Dun­kel­blau. In bei­den Räu­men stan­den schwar­ze schmie­de­ei­ser­ne Bet­ten mit strah­lend wei­ßer Bett­wä­sche und in den Ni­schen run­de, mar­mor­ne Wasch­schüs­seln eben­falls auf schwar­zen ge­schwun­ge­nen Me­tall­ge­stel­len.

»Me­ga! Bel­lis­si­ma!« Chia­ra war be­geis­tert und Emi­lia lä­chel­te sog­leich glü­cklich und auch et­was er­leich­tert. Emi­lia er­klär­te, dass die Zim­mer kei­ne ei­ge­nen Du­schen hat­ten, auf dem Flur be­fän­de sich je­doch ein Bad, das wir be­nut­zen könn­ten. Sie hof­fe, dass uns das nichts aus­mach­te. Wir be­teu­er­ten, dass uns das nicht stö­ren wür­de. Chia­ra frag­te mich, ob sie das grü­ne Zim­mer ha­ben könn­te, was na­tür­lich kein Pro­blem für mich war.

Wir ver­ein­bar­ten, uns ei­ne Stun­de aus­zu­ru­hen, um dann ge­gen fünf­zehn Uhr nach Can­na­re­gio auf­zu­bre­chen.


Chia­ra saß be­reits ein paar Me­ter ent­fernt auf ei­nem der stein­er­nen Stra­ßen­pol­ler und blät­ter­te in ei­nem Rei­se­füh­rer, als ich aus dem Hotel trat. Sie trug – un­ge­wöhn­lich für sie – ei­nen Je­ans­rock und ein wei­ßes T-Shirt un­ter der of­fe­nen schwar­zen Leder­ja­cke. Sah auf den er­sten Blick okay und na­he­zu adrett aus. Als ich nä­her­kam, rich­te­te sie sich je­doch auf und ich konn­te den Spruch auf dem Shirt le­sen: Keep calm and fuck off.

»Ahh … ich hof­fe, Sig­no­re Bass­ani nimmt’s lo­cker. Oder bin ich ge­meint?«

Doch sie hat­te nicht weiter vor, auf mei­nen Kom­men­tar ein­zu­ge­hen. »Lust auf ei­nen Spa­zier­gang?«

»Klar doch!«


Can­na­re­gio war an­ders, äl­ter, ver­fal­le­ner, ur­tüm­li­cher als das, was wir zu­vor von Ve­ne­dig ge­se­hen hat­ten. Bun­te, ver­wit­ter­te Häu­ser, dicht an dicht. En­ge Gas­sen, ge­heim­nis­vol­le Win­kel mit Res­tau­rants und Cafés, nicht feu­dal wie die auf dem Hin­weg im Zentrum Ve­ne­digs. Auch be­geg­ne­ten uns we­ni­ger Tou­ris­ten. Mittels Goog­le-Maps fan­den wir schließ­lich die Stra­ße mit dem Na­men Cam­piel­lo de le Scuo­le. Sie führ­te mit­ten durch das al­te jü­di­sche Ghet­to Vec­chio, wie ein gro­ßes Schild an ei­nem Tor ver­kün­de­te. Wäh­rend ich da­rüber er­staunt war, schien Chia­ra nicht über­rascht. Sie war schon in Ve­ne­dig ge­we­sen und hat­te auf­merk­sam den Rei­se­füh­rer stu­diert.

»Die­ses Ghet­to hat allen Ghet­tos der Welt sei­nen Na­men ge­ge­ben. Es ist im 17. Jahr­hun­dert ent­stan­den. Weil das hier wie ei­ne klei­ne In­sel ist, hielt man die Ju­den vom Rest Ve­ne­digs fern, ge­währ­te ih­nen den­noch die Aus­übung ih­rer Be­ru­fe und den Auf­ent­halt in Ve­ne­dig.«

»Das ist schon so lan­ge her. Wur­den sie hier auch … ver­folgt … ge­tö­tet …?«

»Nun ja … die­se Ab­schie­bung ins Ghet­to war nicht ge­ra­de Aus­druck größ­ter Sym­pa­thien … aber Pog­ro­me? Nein, da­mals je­den­falls nicht. Of­fi­ziell wur­de die Auf­ent­haltspf­licht im Ghet­to un­ter Na­po­le­on be­reits En­de des 18. Jahr­hun­derts auf­ge­löst. Was aber nicht hieß, dass alle weg­ge­zo­gen sind. Bis heu­te le­ben hier Ju­den.«

Chia­ra tipp­te auf die Sei­te in ih­rem Rei­se­füh­rer. »Steht alles hier.«

»Und was war in der Zeit des Fa­schis­mus?«

»Hm. So­weit war ich noch nicht. Ich müss­te nach­schau­en …«

Zwi­schen­zeit­lich waren wir zum Cam­piel­lo de le Scuo­le 1256 ge­langt und blie­ben ste­hen. Wäh­rend viele der um­lie­gen­den Häu­ser eher alt und ver­fal­len aus­sa­hen, war die­ses Ge­bäu­de bes­ser in Stand ge­hal­ten. Die gro­ße dun­kel­grü­ne Tür fiel ins Au­ge. Da­ne­ben das Klin­gel­schild. Bass­ani.

»All­ora, da wä­ren wir.«

Wir schau­ten uns an.

»Na dann, lass uns mal klin­geln.«

Wir hör­ten das Ru­fen ei­ner fröh­li­chen Kin­der­stim­me im Hin­ter­grund, dann schnel­le Schrit­te. Ein Mäd­chen mit dunk­len Zöp­fen und ge­rin­gel­tem Kleid öff­ne­te die Tür. Ich schätz­te sie auf acht Jah­re. Mit gro­ßen Augen sah sie uns an. Schau­te auf das T-Shirt von Chia­ra und dann zu mir.

Chia­ra lä­chel­te das Mäd­chen an und frag­te auf Ita­lie­nisch nach Sig­no­re Bass­ani. Die Klei­ne nick­te, trat bei­sei­te und ließ uns ein. Sie führ­te uns durch ei­nen en­gen Flur mit dunk­ler ge­mus­ter­ter Ta­pe­te in ein Wohn­zim­mer. Dort do­mi­nier­te ein lan­ger Tisch aus schwarz-la­sier­tem Holz den Raum, rings­he­rum schwar­ze Stüh­le mit ho­hen Leh­nen. In der Tisch­mit­te thron­te ein ho­her mehr­ar­mi­ger Mess­in­gleuch­ter, da­ne­ben stan­den ei­ne Ka­raf­fe Was­ser und Glä­ser. Im hin­te­ren Be­reich des Zim­mers be­fand sich ei­ne Schrank­wand mit un­zäh­lig vielen leder­ein­ge­bun­de­nen Bü­chern, da­vor ein Pult mit ei­ner gro­ßen Schrift­rol­le.

Wir sa­hen uns immer noch er­staunt um, als ein klei­ner, ge­beug­ter, weiß­haa­ri­ger Mann mit schwar­zem An­zug und schwar­zer Kip­pa ein­trat. Runz­li­ges Ge­sicht, mit Alters­fle­cken über­säht, wa­che, dunk­le, freund­li­che Augen. Ich sah aus den Augen­win­keln, wie Chia­ra leicht zu­sam­men­zuck­te und den Reiß­ver­schluss ih­rer Leder­ja­cke über dem Keep-Calm-Spruch schnell hoch­zog. Der al­te Mann kam lä­chelnd auf uns zu. »Sie müs­sen Sid und Chia­ra sein. Will­kom­men im Ghet­to Vec­chio. Wie schön, dass Sie zu uns ge­fun­den ha­ben. Ich bin Rab­bi Sa­mu­el Bass­ani.« Er schüt­tel­te uns die Hand, for­der­te da­zu auf, uns hin­zu­set­zen und schenk­te uns Was­ser ein. Dann setz­te er sich uns ge­gen­über.

»Sie wol­len al­so die Ge­schich­te der Fa­mi­lie To­ra­ni hö­ren. Nun, den An­fang kann ich Ih­nen er­zäh­len …«

Ver­wun­dert sa­hen Chia­ra und ich uns an. Herr Bass­ani kann­te un­se­re Na­men und hat­te uns er­war­tet? Und wer war die Fa­mi­lie To­ra­ni?

Die verlorene Geschichte

Sie bei­de ha­ben mir et­was ge­zeigt, was ich schon längst ver­ges­sen hat­te. Die Welt un­vor­ein­ge­nom­men zu se­hen, oh­ne Vor­ur­tei­le und Res­sen­ti­ments. Of­fen, mit die­ser fast kind­li­chen Be­geis­te­rung. Ei­ne Leich­tig­keit, die ich in mei­nem Al­ter nicht mehr emp­fin­den kann, der ich je­doch frü­her rast­los hin­ter­her­ge­jagt bin. Mit all mei­nen Rei­sen, mit dem Sam­meln von Musik und Ge­schich­ten. Es sind die­se stau­nen­den Augen, die nur die Jugend hat, die mich glü­cklich ge­macht und mir et­was ge­schenkt ha­ben, was ich selbst viel­leicht nie in der Form er­le­ben konn­te.

Und so er­scheint es mir auch jetzt, dass nur die­se Augen mein Le­ben be­trach­ten kön­nen.

A. S. Tory und die verlorene Geschichte

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