Читать книгу Dünner als Blut - Schweden-Krimi - Åsa Nilsonne - Страница 11
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ОглавлениеMonika und Mikael hatten sich auf der Polizeischule kennengelernt, sie waren gern zusammen und hatten nach und nach und Schritt für Schritt eine Freundschaft aufgebaut. Sie hatten zusammen schießen gelernt, sie hatten zusammen trainiert, sie hatten sich gegenseitig über Strafrecht und Sicherung von Beweisen abgehört.
Die besten Freundschaften von Monika waren immer die mit Männern gewesen. Sie hatte Jungen und später Männer für zuverlässiger, loyaler und im allgemeinen für ungefährlicher gehalten als Mädchen und Frauen. Mikael, der mit zwei Schwestern aufgewachsen war, von denen eine nur elf Monate älter war, hatte leicht in dieses Muster gepaßt.
Monikas Mutter hatte Monikas Freunde mit Mißtrauen betrachtet. In ihrer Welt sollten Frauen schön und begehrenswert sein. Die Männer wiederum romantisch, stark und möglichst reich. Sie sollten willens sein, für die begehrte Frau gegen Drachen zu kämpfen.
Monikas Freunde paßten nicht in dieses Bild, aber andererseits war ja klar, daß Monika die physischen Voraussetzungen und das passende Gemüt dazu fehlten, diese Art Frau zu werden. Monika war eine weitere Enttäuschung im Leben ihrer Mutter gewesen, in einem Leben, das von fehlgeschlagenen Hoffnungen und zerstörten Träumen erfüllt war. Monika spürte noch immer die mißbilligenden Blicke ihrer Mutter, aber es kam immer seltener vor. Jetzt, als sie mit langen, geschmeidigen Schritten durch den immer lichter werdenden Nebel ging, hatte die Mißbilligung dem Gefühl weichen müssen, stark zu sein, an der richtigen Stelle zu stehen, Teil eines Ereignisses zu sein, das etwas bedeutete. Sie hatte ihren Bericht geschrieben, und nun folgte sie dem niedrigen schwarzen Gitter, das am Bürgersteig der Polhemsgatan entlangführte. Ein kleines Auto kroch vorbei, der Fahrer schaltete optimistisch zwischen Fern- und Abblendlicht hin und her, als ob er glaubte, im nächsten Moment klar sehen zu können.
Bei normalem Wetter wohnte Mikael nur wenige Gehminuten vom Polizeigebäude entfernt am Jaktvarvsplan, einer Straße, die so kurz ist, daß ihr Name nur auf den allergrößten Detailausschnittskarten steht. Ein kurzes Straßenende, das eine kleine ovale Grünfläche, in deren Mitte ein Kastanienbaum steht, umschließt. Für Monika war der Jaktvarvsplan das Bühnenbild eines modernen Theaters.
Die Wohnung gehörte Mikaels Großmutter, und Mikael war vor sieben Monaten hier eingezogen, als der letzte Versuch, die Großmutter mit Heimdienst, Nachtwachen und Alarmarmband zu Hause wohnen zu lassen, fehlgeschlagen war. Im Krankenhaus wollte sich niemand zur Zukunft äußern, es war durchaus möglich, daß noch einmal ein Versuch gemacht wurde, und deshalb hatte Mikael sich provisorisch einquartiert, wie ein zufälliger Gast, der keine Spuren hinterläßt. Er kümmerte sich um die Topfblumen seiner Großmutter und hatte nur einige ihrer empfindlichsten Ziergegenstände weggepackt. Wenn er sie an den Wochenenden besuchte – dabei wechselte er sich mit seinen Schwestern ab –, fragte sie immer nach den Begonien und den Fleißigen Lieschen, als ob sie nicht glaubte, daß ihm diese letzten lebenden Wesen, die sie in ihrer Obhut gehabt hatte, wirklich anvertraut werden könnten.
Und das war schon richtig so. Er goß die Blumen zwar nach ihren Anweisungen, aber die schienen sie zu vermissen; sie wuchsen weniger üppig als zuvor.
Monika hatte sich daran gewöhnt, daß Mikael in einer Wohnung lebte, die wenig zu ihm paßte. Mikaels hervorstechendste Eigenschaften waren seine Vitalität, seine Energie, seine Neugier. Mikael ließ sich Strähnen in sein mittelblondes Haar färben, trug noch als Erwachsener ein Jahr lang eine Zahnklammer. Mikael konnte zwischen größtem Glück und tiefster Verzweiflung hin- und herpendeln, schneller als irgend jemand sonst in Monikas Bekanntenkreis. Mikael war offen, reagierte auf alles, was sich um ihn herum bewegte. Monika hatte mehrere Jahre gebraucht, um zu glauben, daß er sich freute, wenn er sie sah. Jetzt kannte sie ihre Bedeutung in seinem Leben, sie staunte nicht mehr über die Wärme in seinem Lächeln, sein fast kindliches Entzücken, wenn sie kam. Fast unbewußt ließ sie sich auf die Wange küssen, hängte ihre Lederjacke neben den Persianerpelz der Großmutter, Größe 36, und setzte sich an den Küchentisch.
»Du siehst vor dir Monika Pedersen, Kriminalinspektorin, wenn auch nur stellvertretend und ohne offizielle Ernennung, aber immerhin. Ich sehe vor mir einen Menschen, der so tut, als sterbe er in einer kleinen, engen, übermöblierten Wohnung, der aber aussieht wie das blühende Leben. Hast du ein Taschensolarium, oder wie machst du das?«
»Wahre Schönheit kommt von innen, das weißt du doch. Du siehst auch ganz gut aus dafür, daß du fast rund um die Uhr gearbeitet hast, nur ein bißchen feucht.«
Mikael hatte wie immer den Tisch mit Sorgfalt gedeckt.
»Jetzt erzähl, und zwar das Wichtigste zuerst. Hast du interessante Leute kennengelernt, wo du nun endlich bei der Kripo bist?«
Sie machten immer Witze darüber, daß sie eines Tages über einen Wimsey, einen Alleyn oder einen Dalgliesh stolpern würde. Einen großen, eleganten und einsamen Mann, der Frauen nicht nach ihrem Körperbau und ihrem Makeup bewertete. Monika, die gern Krimiautorinnen las, wußte, daß sich alle Helden in die ernsten, netten und tatkräftigen Frauen verliebten. Die schönen, herausfordernden und berechnenden Frauen wurden als die oberflächlichen Glücksjägerinnen entlarvt, die sie auch waren. Obwohl Monika wußte, daß das eine Lüge war – in Wirklichkeit ziehen Männer schöne Frauen vor –, las sie eben gern Romane, in denen sie sich ausnahmsweise mit den Frauen identifizieren konnte, denen das Happy-End beschert wurde.
Auf Mikaels Frage schüttelte sie den Kopf.
»Keiner, soweit das Auge reicht. Aber niemand macht ja einen vorteilhaften Eindruck, wenn er gerade diese elende Grippe gehabt hat oder sie bekommt. Sie waren müde, blaß und völlig in Anspruch genommen von dieser Botschaftsgeschichte. Ich glaube, Madonna könnte nackt bei ihnen herumspazieren, ohne eine Reaktion hervorzurufen.«
»Warum ausgerechnet Madonna?«
»Mir ist keine andere Frau eingefallen.«
Mikael lachte, sagte aber nicht warum.
»Jetzt essen wir. Weil ich doch nicht wußte, daß du kommen würdest, habe ich nichts richtig Festliches, aber ich habe Mutterns Frikadellen aufgetaut . . .«
Monikas Mutter hatte niemals, soweit sie sich erinnern konnte, ihre Frikadellen selber hergestellt. Für Monika gehörte der Begriff »Mutterns Frikadellen« in dieselbe Kategorie wie »das edle Roß des Ritters«, »die Türme und Zinnen der Burg« oder »der riesige funkelnde Diamant«, Dinge, die in einer abstrakten Welt existierten, mit denen man im täglichen Leben jedoch kaum rechnete. Als sie Mikael kennenlernte, hatte sie entdeckt, daß Mutterns Frikadellen für ihn eine ebenso selbstverständliche physische Existenz hatten wie Buttermilch oder Knäckebrot. Sie waren groß, unregelmäßig und weich, und sie schmeckten wie ein ganz anderes Gericht als die kleinen, harten, leicht elastischen Frikadellen, an die Monika gewöhnt war. Außerdem waren sie grün gefleckt; Petersilie, wegen des Eisens, hatte Mikael erklärt, als ob es das Natürlichste auf der Welt sei, daß eine Mutter frische Petersilie ins Essen schneidet, damit es gesünder wird. Monika hielt die Frikadellen von Mikaels Mutter für eine der größten Delikatessen.
Bei Frikadellen und Bier erzählte Monika von den Ereignissen des Tages. Beide träumten vom Dienst bei der Kripo, wenn sie nicht mehr Streife fahren sollten.
»Verstehst du – plötzlich habe ich meine eigene Mordermittlung! Obwohl die Götter wissen mögen, was dabei herauskommt.«
»Mordermittlung! Ein Pedant würde das Voruntersuchung nennen, aber wie du weißt, bin ich keiner. Obwohl man ja nicht ganz sicher sein kann, daß der Dahingeschiedene wirklich einer fremden Hand zum Opfer gefallen ist. Hast du nicht gesagt, mit seinem Tod sei gerechnet worden und sein behandelnder Arzt sei bereit gewesen, den Totenschein auszustellen? Ich finde, dieser Amerikaner oder Japaner wirkt verdächtig. Meinst du nicht, daß er vielleicht alles erfunden hat, um seine Vorführung ein bißchen spannender zu machen? Es kommt mir komisch vor, durch die Gegend zu fahren und vor Publikum Leute aufzuschneiden, aber was weiß ich, vielleicht ist das ja auch eine Art Kunst.«
»Meinst du, daß Hayakawa vielleicht alles zusammengelogen hat? Daß er einen schnöden kleinen Suffkopp gesehen und obduziert hat, der einen schnöden Sufftod gestorben ist, und daß der Typ dann sagt, es sei ein unnatürlicher Tod gewesen, damit das Publikum für sein Geld mehr Spannung kriegt?«
»Sie haben doch nicht bezahlt, der Vergleich hinkt also, aber ich finde diese Idee plausibel. Mach nicht so ein trauriges Gesicht, du wirst doch das Vergnügen haben, den Bluff zu entlarven!«
»Aber dieser Professor, Ekdal, der hätte doch gemerkt, wenn der Japaner zu weit gegangen wäre!«
»Der ist sicher höflich. Und außerdem konnte er nur gewinnen, wenn er gute Miene zum Spiel machte. Das übrige Publikum wußte sicher nicht genug, um sich eine Meinung zu bilden.«
»Denkbar ist das schon, aber wenn das so wäre, dann hätte er uns doch sicher nicht angerufen, nachdem der Typ weg war. Nein, sie müssen genügend überzeugt davon sein, daß etwas nicht stimmt, um uns einzuschalten. Das einfachste für sie wäre doch, auf alles zu pfeifen, obwohl das vielleicht wegen des Publikums nicht ging. Irgendwer könnte sich ja erkundigen, was nun wirklich passiert ist, und das wäre für die Pathologen dann peinlich gewesen.«
»Merkst du, daß das, was du sagst, meine Auffassung unterstützt, daß sie anrufen mußten, nachdem der Verdacht erst einmal vor einem großen Publikum geäußert worden war, und daß es jetzt deine Sache ist, das Ganze als Bluff zu entlarven? Geiler Job.«
»Wenn es so einfach wäre, dann wäre schon irgendwer darauf gekommen. Du vergißt übrigens, daß sich auch der Gerichtsmediziner die Leiche angesehen hat. Er fand diesen Todesfall auch seltsam, und wenn die Ansicht der Gerichtsmedizin für dich keinen Wert hat, dann weiß ich auch nicht, was du willst.«
Monika war genervt.
»Wunderbar, ich wollte nur überprüfen, ob die Maschinerie hier oben«, er zeigte auf ihren Kopf, »in Gang ist, und das scheint ja der Fall zu sein. Hier stimmt etwas nicht, und Monika Pedersen, das aufsteigende Genie der Kripo, wird den Fall übernehmen. Sie wird die Frage des unerklärlichen Motivs lösen – die üblichen Motive, Liebe oder Geld, scheinen wenig aktuell zu sein, aber was weiß ich, ich kann mich irren. Sie wird herausfinden, wann, wie und wo. Alles in Zusammenarbeit mit ihrem verletzten, aber brillanten Kollegen, mit mir.«
»Das hört sich ausgezeichnet an. Du kannst mein Watson sein. Watson wegen der Invalidität.«
»Du scheinst zu vergessen, daß ich das Bein gebrochen habe, nicht das Gehirn. Ich weigere mich, Watson zu spielen.«
»Dann bist du eben Nero Wolfe. Weil er so fett war, konnte er das Haus nicht verlassen, und das läßt sich wohl mit deinem Bein vergleichen. Obwohl das ja umgekehrt war – Nero schickte Archie durch die Gegend, und Archie verstand nur Bahnhof, bis Nero am Ende alles erklärte. Ich will nicht Archie sein – das hier ist schließlich meine Ermittlung, und wir sind außerdem keine Amateure. Du mußt dich schon nach mir richten, sonst erzähle ich dir überhaupt nichts.«
»Meinst du, ich soll mich in deine Gewalt begeben? Daß ich nicht lache. Du hast doch keinen einzigen Menschen, mit dem du über das reden kannst, was passiert, aber ohne das kannst du nicht arbeiten. Also bist du in meiner Gewalt.« Er warf einen Apfel in Monikas Richtung. »Gib’s zu!«
Monika fing den Apfel auf und schleuderte ihn zurück.
»Was tut man nicht alles, um kranke Freunde aufzumuntern. Warum hast du übrigens kein Videogerät, dann könnten wir uns jetzt die Kassette ansehen.«
»Die Kassette?«
»Sie haben die Obduktion gefilmt, ich wollte sie mir morgen ansehen.«
Mikael war schon unterwegs zur Wohnungstür. Er bewegte sich trotz des Gipsverbandes überraschend leicht, und Monika hörte durch die geöffnete Wohnungstür, daß er bei den Nachbarn anklopfte. Einige Minuten später erschien ein muskulöser junger Mann mit langen schwarzen Locken mit einem Videogerät, das er an Mikaels gemieteten Fernseher anschloß.
»Das ist Seppo, er wohnt nebenan. Wir haben ein Tauschsystem. Er leiht meinen Korkenzieher, ich sein Video«, erklärte Mikael. »Seppo, das ist Monika, eine Kollegin.«
Monika und Seppo nickten einander mit gegenseitigem Mißtrauen zu.
»Danke, Seppo.«
Mikael fertigte ihn kurz mit einem freundlichen, fast nachsichtigen Gesichtsausdruck ab, der Monika sehr fremd vorkam. Seppo gehorchte sofort und verschwand winkend und mit einladendem Lächeln.
Das Video war eine Enttäuschung.
Fast alles war unscharf, und da sich die Kamera nur selten bewegte, war Hayakawa nur in den wenigen Fällen zu sehen, da er sich auf der Höhe des Oberschenkels der Leiche befand. Monika stellte fest, daß sie mehr mitbekam, wenn sie die Augen schloß, da die Klangqualität akzeptabel und trotz der sehr schlechten Akustik, die jedes Kratzen und jedes Geräusch von Metall auf Metall verstärkte, fast alles, was gesagt wurde, zu hören war.
Als sie sich die Kassette angehört hatten, wandte Mikael Monika ein ernstes Gesicht zu. So, dachte sie, wird er in zehn Jahren aussehen. Erwachsen, ohne Glanz, ohne den tarnenden Firnis von Charme und Sexualität.
»Du hast recht, du stehst offenbar wirklich vor einem messerscharfen Fall – nein, so war das nicht gemeint, ich schwöre, das war ganz unabsichtlich, vor einem schweren Fall, meine ich. Ich verspreche, dir so gut ich kann zu helfen, aber das setzt natürlich voraus, daß du mich auf dem laufenden hältst. Was hast du zum Beispiel jetzt vor?«
»Nach Hause gehen und schlafen. Danach müssen wir die Dinge wohl nehmen, wie sie kommen. Morgen werde ich jedenfalls zuerst versuchen herauszufinden, wie er gestorben ist, das Ganze hört sich ja ziemlich wirr an, jedenfalls für mich. Alles unter der Voraussetzung natürlich, daß Kommissar Ek meint, mir die Ermittlung anvertrauen zu können, worauf ich allerdings nicht mal einen Zehner wetten würde. Aber egal, ich habe vor, wenn ich den Auftrag bekomme, zuerst zur Psychiatrie zu gehen, wo Gösta Persson gestorben ist, und dann zur Chirurgie, wo er zuletzt behandelt wurde. Danach werde ich versuchen, mit seinen Angehörigen zu sprechen, er hat wohl nur eine Schwester. Und wenn möglich, möchte ich gern seine Wohnung sehen.«
Monika starrte Mikael an, als ob sie ihn auffordern wollte, etwas anderes vorzuschlagen, aber er nickte nur und sagte, das höre sich gut an, sie sei am nächsten Abend zu einem ebenso köstlichen Essen willkommen, und er hoffe, alles werde klappen. Er war sicher, daß sie die weiteren Ermittlungen gut durchführen werde und daß Ek blind sei, wenn er das nicht einsehe. Sie umarmten sich, als sie ging, zum erstenmal an diesem Tag.
Sie brauchte Milch und machte einen Umweg, um ein noch spät geöffnetes Geschäft an der Ecke Hantverkargatan und Scheelegatan zu erreichen, aber der Laden war, das teilte ein von innen an die Tür geklebter handgeschriebener Zettel mit, wegen Krankheit geschlossen. In der U-Bahn-Station gab es noch einen geöffneten Kiosk, aber dem war die Milch ausgegangen. Der Verkäufer oder Kioskbesitzer, was er vermutlich war, da er einige Extrastunden geöffnet hielt, erklärte, daß die Molkerei wegen der Grippe so gut wie funktionsunfähig sei und daß sie deshalb in den nächsten Tagen keine Milch mehr liefern könne. Monika war geschockt, wie wenig dazu gehörte, die Lebensmittelversorgung zu unterbrechen, und fragte sich, ob als nächstes wohl das Brot ausgehen würde. Würden sie dann von den Konserven leben müssen, die noch in den Regalen standen? Und wenn auch die aufgebraucht waren?
Und sie fragte sich, wie sie ihren Morgenkaffee ohne Milch trinken sollte.