Читать книгу Dünner als Blut - Schweden-Krimi - Åsa Nilsonne - Страница 7
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ОглавлениеBo Ekdal entschloß sich im Jahre 1984, im Alter von 41 Jahren, keine Zeitungen mehr zu lesen. Er hatte von einem Tag auf den anderen eingesehen, daß von nun an nicht nur seine Jahre und Tage begrenzt waren, sondern auch seine Stunden und Minuten, und überrascht und mit einem Hauch von Trauer war ihm klargeworden, daß es weder ihn selber noch irgendwen sonst interessierte, was er sich für Meinungen über die Lage im Mittleren Osten, die neuesten Steuererhöhungen oder den Lyriker des Jahres gebildet hatte. Von nun an sortierte er lieber die von ihm selbst verfaßten Fachartikel, während er sein cholesterinfreies Frühstück verzehrte, oder er nahm sich, wenn sein Gewissen das zuließ, seine liebsten griechischen Dramen vor, in denen er voller Erstaunen immer noch bei jedem neuen Lesen neue Tiefen entdeckte. Er hielt ansonsten die übrige Belletristik für überflüssig, sowohl für ihn selber als auch für andere.
Also war es wohl richtig, zuerst mit den Zeitungen aufzuhören, dachte er, ohne zu wissen, warum, während er langsam durch einen langen Backsteinkorridor im Pathologischen Institut schlenderte, in dem er Professor und Chef war. Vielleicht lag es daran, daß Stockholm an diesem Märzmontag in dichten Nebel gehüllt war, wie ein Wertgegenstand sorgfältig verpackt, um in der Post nicht zu Schaden zu kommen, scheinbar ohne Kontakt zur Außenwelt. Vielleicht ließ nun seine Unruhe, die fast schon Panik war, von ihm ab, und es gewann langsam die Ahnung Oberhand, daß alles gutgehen würde, daß sein Leben trotz allem zu irgendeiner Art von Erfolg führen würde, der die anderen dazu bringen würde, seine Eigenheiten, wie das Fehlen der Morgenzeitung, mit Nachsicht oder, warum nicht, mit Respekt zu betrachten: »Es ist eigentlich kein Wunder, daß Professor Ekdal soviel erreicht hat – schon seit Jahren vergeudet er seine Zeit nicht mehr mit den Nachrichten.« Die Nackenmuskeln schmerzten, als er anfing, sich zu entspannen.
Neben ihm ging Professor Hayakawa, Quell seiner Unruhe und, seit einer halben Stunde, auch Quell eines zaghaften Glaubens an eine akzeptable Zukunft. Sein Institut und die dort betriebene Forschung waren von Professor Hayakawa, dem einzigen Gutachter des National Council of Basic Research, überprüft worden. Hayakawa war kein Japaner, wie oft angenommen wurde, sondern Amerikaner, Kind japanischer Einwanderer. Er war ein weltberühmter Pathologe, und er hatte seine Kollegen dadurch überrascht, daß er eine Professur in Harvard mit einer Stelle als wissenschaftlicher Berater der einflußreichsten (lies: reichsten) Stiftung zur Finanzierung von Forschungsarbeiten vertauscht hatte. Aber schon bald war klargeworden, daß Hayakawa in seiner neuen Position mehr Macht und Einfluß auf die Pathologie und verwandte Gebiete hatte denn als Professor. Da in allen Erdteilen und fast allen Ländern immer weniger Mittel zur Grundlagenforschung bereitgestellt wurden, kam dem Geld der Stiftung entscheidende Bedeutung zu, und Hayakawas Unterstützung wurde zu einer immer notwendigeren Grundbedingung für die Forschungsinstitute. In diesem Jahr war es Bo Ekdal gelungen, das Interesse der Stiftung zu wecken, aber ein Entschluß würde erst fallen, nachdem Hayakawa eine »on-site-inspection« durchgeführt hatte, nachdem er also die Voraussetzungen des Institutes, das Geld richtig einzusetzen, beurteilt hatte.
Bo Ekdal brauchte das Geld. Im letzten Jahr war seine Forschung in eine produktive, spannende und teure Phase eingetreten. Er hatte Personal und Material finanziert, indem er Gelder von anderen Konten des Instituts umgeleitet hatte. Außerdem hatte er, als es nicht mehr zu vermeiden war, auf die Standardstrategie bei Liquiditätsproblemen zurückgegriffen. Er hatte aufgehört, Rechnungen zu bezahlen. Dieses Manöver ermöglichte es, aus dem Teufelskreis der Wissenschaft auszubrechen: ohne Ergebnisse keine Gelder und ohne Gelder keine Ergebnisse. Nun hatte er seine Ergebnisse, und wenn alles gutginge, würde er bald seiner Sekretärin den Stapel von Mahnschreiben mit dem kurzen Bescheid übergeben können: bitte bezahlen. Das Aushilfspersonal, das von all dem nichts ahnte, konnte dann feste Stellungen bekommen, und seine Forschungen konnten sich ungebremst von engen finanziellen Rahmen entfalten. Hayakawas Besuch war seit Monaten systematisch vorbereitet worden. Das Institut war geputzt, Routinehandgriffe waren überprüft worden, jede Laborassistentin hatte lernen müssen, auf englisch zu erklären, was sie tat und warum. Das Personal war eine große Hilfe gewesen, und das Arbeitsklima hatte sich verbessert, was Bo Ekdal für eine in Krisenzeiten typische Erscheinung hielt. Alles war bereit gewesen. Kein Staatsbesuch hätte besser geplant sein können. Doch vier Monate vor dem Besuch war Bo Ekdals engste Mitarbeiterin zu ihrer eigenen und zur Überraschung aller im Alter von 45 Jahren zum erstenmal schwanger geworden. Zwölf Tage vor dem Besuch wurde sie von vorzeitigen Wehen überrascht und mußte nun in der Frauenklinik unter strengster Bettruhe am Tropf hängen.
Zehn Tage vor dem Besuch hatte das neu kombinierte Grippevirus aus der Inneren Mongolei Stockholm und das Västra Krankenhaus erreicht. Viele waren erkrankt. Auch viele Gesunde meldeten sich krank, da das Risiko einer Entdeckung im Moment minimal war. Alles in allem erreichten die Arbeitsausfälle wegen Krankheit Rekordhöhen.
Vier Tage vor dem Besuch waren die Obduktionsassistenten aufgrund eines unbegreiflichen Solidaritätsstreiks, der sich um ein Schiff drehte, das in Göteborg nicht gelöscht werden konnte, aus dem Verkehr gezogen worden.
Zum erstenmal, seit man sich erinnern konnte, fehlte Affe, der Hausmeister, der zum für die Instrumente verantwortlichen ersten Obduktionsassistenten umbenannt worden war. Das führte zu einer leichten Desorientierung im Institut, so, als ob eines der auffälligsten Häuser oder Denkmäler der Stadt plötzlich verschwunden wäre. Im Pathologischen Institut war der Krankheitsausfall nicht besser oder schlimmer als sonst überall. Gut die Hälfte des Personals kam zur Arbeit, und Bo Ekdal hatte einen Krisenplan entworfen, nach dem die Arbeit, die er für die wichtigste hielt, verrichtet wurde; der Rest mußte warten.
Er beschloß, Obduktionen und Vorlesungen einzustellen und sich auf die Untersuchungen von Gewebeproben von Menschen zu beschränken, die noch lebten und denen die Untersuchungsergebnisse deshalb von Nutzen sein könnten. Professor Albinsson aus der Chirurgie, bekannt wegen seines vulkanischen Temperaments, rief an und verlangte, daß seine Forschungspatienten wie üblich obduziert werden sollten – der alte Witz von Operation gelungen, Patient tot, war eine recht realistische Beschreibung des Schicksals vieler seiner Patienten, und er mußte diese Fälle von denen unterscheiden können, wo es hieß: Operation mißlungen, Patient tot. Bo Ekdal hatte erklärt, warum das unmöglich war, der Chirurg hatte zuerst angeboten und dann gedroht, selber zu kommen und zu obduzieren. Bo Ekdal hatte abgelehnt und damit eine Explosion ausgelöst, von der er selber nur den Anfang gehört hatte, da er sofort den Hörer aufgelegt hatte. Augen und Ohrenzeugen hatten beschrieben, wie der Chirurg wie ein Berserker auf seiner Station gewütet hatte; Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, aber einige Topfblumen hatten ihr Leben lassen müssen.
Jetzt war der Besuch Hayakawas jedenfalls schon fast vorbei. Vor ihnen lag noch das Mittagessen, das wohl kaum zum Problem werden konnte. Sie gingen immer noch schweigend durch den Flur. Der Besuch war außerordentlich gut verlaufen, und Hayakawa hatte ihm schon mitgeteilt, daß er Bos Gesuch unterstützen würde. Die Ungewißheit und Unruhe, mit denen Bo so lange gelebt hatte und die in den letzten Wochen so quälende Ausmaße erreicht hatten, fielen schon von ihm ab. Hayakawa unterbrach Bos Grübeleien. »Und wann findet die Vorführung statt? Ich habe wohl erwähnt, daß ich um drei Uhr abgeholt werde?« Bo sah auf seine Uhr, und er hoffte, mit dieser Geste leicht zerstreut zu wirken. Die Uhr zeigte Viertel vor zwölf. »Um eins«, improvisierte er, während die Panik voll zurückkehrte, als ob sie nur auf den richtigen Moment gewartet hätte.
Die Vorführung! In all der Aufregung hatte er die Vorführung vergessen! Hayakawa schloß alle seine Besuche mit einer Vorführungsobduktion ab. Hayakawa, in seinem Auftreten eher Japaner als Amerikaner, durchlebte eine merkwürdige Verwandlung, wenn er vor Publikum stand. Er war so sensibel, eitel und oft auch arrogant wie irgendein Solokünstler oder eine Primadonna. In einigen Fällen hatte er mit Instrumenten, die er für unbrauchbar hielt, um sich geworfen. In einem anderen Fall hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und den Saal verlassen: Die Leiche war ihm nicht mager genug gewesen. In allen Fällen waren die Gelder eingefroren worden, auch wenn der eventuelle Zusammenhang zwischen beidem unklar war.
Hayakawas Vorführungen waren Anlaß verschiedener Spekulationen, Tratschereien und Psychologisierungsversuche, aber in einem Punkt waren sich alle einig: Er war ein glänzender und virtuoser Obduzent und außerdem ein ausgezeichneter Entertainer, was in diesem Fach schon seltener vorkam. Die am häufigsten auftretende Erklärung für den Grund seiner Vorführungen war, daß er ganz einfach beweisen wollte, daß er den Schreibtischjob nicht aufgrund mangelnder Begabung oder unzureichender Fähigkeiten erhalten hatte und daß er noch immer dazugehörte. Andere neigten eher zu der Ansicht, daß er Bewunderung brauchte, Applaus, daß seine Anspruchslosigkeit und sein reserviertes Auftreten mit Augenblicken von Expansivität und Selbstbehauptung abwechselten. Eine dritte Erklärung war, daß es ihm nicht gelungen war, sein japanisches und sein amerikanisches Wesen zu verschmelzen, und er deshalb auf diese Weise zwischen beiden pendelte.
Bo hatte jedenfalls noch nie gehört, daß irgendwer das alles vergessen haben könnte, daß jemand die Möglichkeit verpaßt hätte, diesem mächtigen Mann den Auftritt zu sichern. Ausgerechnet er hatte es vergessen. Um eins, hatte Bo mechanisch gesagt, als ob er einen Schlag abwehren müßte. Um eins. Gab es denn irgendeine Möglichkeit, innerhalb von eineinviertel Stunden eine Obduktion zu arrangieren? Dazu mußte er aber zuerst Hayakawa loswerden.
Sie erreichten die Kantine, die fast die ganze sechste Etage einnahm – man hatte Aussicht in alle Himmelsrichtungen außer nach Süden. Fünf Schlangen zogen sich bis zur Mitte der Kantine hin, zwei führten zum Stammessen, zwei zum leichten Imbiß und eine zur vegetarischen Mahlzeit. Hayakawa ließ sich nicht dadurch stören, daß die Speisekarte auf schwedisch war. Er betrachtete sie und stellte fest: »Sie haben eine vegetarische Alternative – das ist ausgezeichnet. Können wir die nehmen?« Der Mittagsbetrieb war auf seinem Höhepunkt, und Bo glaubte, noch nie ein solches Gedränge erlebt zu haben. Vielleicht war die Schlange am vegetarischen Stand kürzer, aber Bo hatte weder Zeit noch Ruhe, darauf zu achten, daß die schöne Chinesin ihnen Kichererbseneintopf mit Crème fraîche servierte. Bo blickte sich um. Er suchte nach einem passenden Tischpartner für Hayakawa. Er konnte fast keine Bekannten entdecken und schon gar keine, mit denen sich Hayakawa vielleicht eine Stunde lang wohl fühlen könnte. Wie ein Falke, der Beute erspäht, sah er plötzlich Ann Lilja, eine jüngere Chirurgin, durch die große Tür eintreten. Sie blickte sich suchend um, als sei sie nicht sicher, ob sie sich anstellen oder lieber nebenan in der Cafeteria ein Brot essen sollte. Bo hatte Angst, sie könnte in irgendeinem Fahrstuhl verschwinden, ehe er sie dingfest machen konnte.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Er lachte gezwungen und lief zu Ann hinüber, die ihn überrascht ansah. Niemand im Krankenhaus hatte je gesehen, daß Bo Ekdal sich so rasch bewegt hätte.
»Ann, kannst du mir helfen, ich habe hier einen Typen, der das Institut inspiziert, um zu entscheiden, ob wir Gelder bekommen sollen, die uns für fünf Jahre aller finanziellen Sorgen entledigen könnten. Ich muß noch ein paar Einzelheiten in die Wege leiten, kannst du dich eine Stunde lang um ihn kümmern? Das wäre die gute Tat des Jahres.«
Sie schien belustigt, lachte und nickte. »Sicher.«
Bo fand, daß sie eine seltsame und sympathische Beziehung zu ihrem Äußeren hatte. Er fand sie sehr schön, und es beeindruckte ihn, daß sie ihre klassischen Züge und Formen weder verbarg noch betonte. Sie schien sich wohl in ihrer Haut zu fühlen. Zusammen gingen sie zurück zu Hayakawa, der noch immer in seiner Schlange stand. »Professor, darf ich Ihnen Dr. Lilja vorstellen? Eine unserer vielversprechendsten jungen Chirurginnen.«
Bo Ekdal hatte Ann Lilja nur wenige Male getroffen, wenn sie mit ihrem Chef, dem cholerischen Professor Albinsson, die Pathologie aufgesucht hatte. Er hoffte nun, daß ihre sozialen Fähigkeiten genauso hochentwickelt waren wie die medizinischen. Er hoffte auch, daß sie gutes Englisch sprach. Ann lachte wieder, grüßte, und Bo sah, daß er keinen Gedanken an Hayakawa zu verschwenden brauchte, so lange Ann bei ihm war. Ihr Englisch erwies sich als hervorragend, und Hayakawa schien kaum zu merken, daß Bo mit dem Versprechen ging, ihn rechtzeitig zur Vorführung wieder abzuholen. Draußen mußte Bo auf den Fahrstuhl warten. Die Sekunden schlichen dahin, und er spielte mit dem Gedanken, die Treppe zu nehmen, fand aber, daß es doch besser sei, auf den Fahrstuhl zu warten. Er rannte in sein Zimmer, ohne die besorgte Nachfrage seiner Sekretärin zu beantworten, wie alles abgelaufen sei.
Auf den erstbesten Zettel schrieb er:
1 Studenten, evtl. anderes Publikum
2 Instrumente
3 Leiche
Er überdachte die drei Punkte.
Punkt eins schien das schwierigste Problem zu sein. Seine eigenen Studenten hatten wegen der Grippewelle die ganze Woche frei bekommen, um zu Hause zu lernen. Es war kaum denkbar, daß sie zu erreichen waren. Woher konnte er Studenten nehmen? Von den anderen Stationen natürlich. Er wählte aufs Geratewohl die Nummer einer Station. Das war kein Problem, da alle Abteilungen mit 50 anfingen.
»Station zweiundsiebzig, Inger, Krankenpflegerin.«
»Hier ist Professor Ekdal in der Pathologie. Haben Sie auf Ihrer Station ein paar Studis?«
Wenn diese Frage Schwester Inger überraschte, so ließ sie sich das nicht anmerken. Eine Berufskrankheit, von der Krankenschwestern leicht befallen werden. »Wir haben drei.«
»Schwester, bitte, sagen Sie denen, daß sie um fünf vor eins in der Pathologie erscheinen sollen, im Obduktionssaal.«
Das ist ein Befehl, hätte er in seiner Verzweiflung hinzufügen können, aber das schien nicht nötig zu sein. Schwester Inger antwortete, überraschenderweise, wie eine Schwester aus dem Arztroman: »Selbstverständlich, Professor.«
Von diesem Erfolg ermuntert streckte er den Kopf zur Tür hinaus und begegnete dem ängstlichen Blick seiner Sekretärin. Sie saß doch wohl nicht, seit er an ihr vorbeigesaust war, so verängstigt und fragend da? Er bat sie, weitere Stationen anzurufen, um Studenten aufzutreiben – sie brauchten mindestens zwanzig, was doch trotz der Grippe nicht unmöglich sein konnte.
Punkt eins hatte er in zehn Minuten gelöst. Konnte er den Rest in einer Stunde schaffen?
Punkt zwei waren die Instrumente. Zu einer normalen Obduktion waren viele Einzelheiten nötig. Skalpelle, diverse Messer, Scheren, Sonden und noch einiges mehr. Es müßte eigentlich möglich sein, ein akzeptables Sortiment zusammenzuraffen – falls sie nicht weggeschlossen waren. Und wenn nun Affe, ordentlich, wie er war, alles abgeschlossen und den Schlüssel mit nach Hause genommen hatte? Konnte Bo dann wohl bei den Chirurgen andere Instrumente leihen? Ihre ließen sich im Notfall doch bestimmt verwenden. Und konnte er das schaffen, ohne Professor Albinsson mit hineinzuziehen, von dem er sich nach dem letzten Gespräch keinerlei Zusammenarbeitsbereitschaft erwartete? Oder sollte er sich in der Gynäkologie erkundigen?
Bo lief durch den Korridor und zog, während er nachdachte, seinen Schlüsselbund aus der Tasche. Er hatte keine Ahnung, welcher Schlüssel zum Obduktionssaal gehörte, er wußte nur von der Sekretärin, daß einer angeblich paßte. Er rannte durch das Umkleidezimmer, in dem die vielen gelben Schutzkittel hingen. Zwei große Mattglastüren führten in den eigentlichen Obduktionssaal. Der süßliche und leicht fade Duft dieses Saals hing in der Luft, als ob er nicht den Leichen und den Reinigungsmitteln zu verdanken sei, sondern aus Wänden und Fußboden gekrochen komme.
Bo ging zur Tür und wollte gerade den ersten Schlüssel ausprobieren, als er hinter der Tür eine Bewegung registrierte. Für einen kurzen Moment überkam ihn eine archaische, unvernünftige Angst vor Toten, die zum Leben erwachen, vor Ratten und vor Leichenschändern. Seine Nackenhaare sträubten sich wie die eines Hundes, der sich fürchtet. Die Angst wich einer realistischen Sicht der Dinge: Waren hier vielleicht Einbrecher am Werk? Was sollte er jetzt tun? Ob sie gefährlich sein konnten? Während er bewegungslos vor den Türen verharrte, durch die er tausendmal gegangen war, ohne sie als Grenze zu betrachten, überkam ihn der Zorn: auf das Schicksal und vor allem auf das derzeitige Auftreten des Schicksals. Kleine Gauner, die auf ihrer Jagd nach Schnaps und Geld nicht vor einem Einbruch in der Pathologie zurückschreckten. Er beschloß, die Einbrecher zu vertreiben, legte die Hand auf die eine Türklinke und probierte den ersten Schlüssel, als er bemerkte, daß die Tür nachgab. Sie war nicht verschlossen. Kleine Gauner hatten wohl kaum den passenden Schlüssel, revidierte er seine Annahme, vorsichtig öffnete er die Tür. Der Obduktionssaal sah aus, als ob er schon länger leer gestanden hätte als während der letzten acht Tage, seitdem hier die Tätigkeit eingestellt worden war; die weißen Fliesen an den Wänden, die rostfreien Tische, die an der Wand festgeschraubten Bänke hatten etwas Museales.
Bo ging hinein und räusperte sich laut. »Jaja«, hörte er aus der Materialkammer. Es war Affe, der in Streik Getretene. Auf den hintersten Bänken lagen die Instrumente des Institutes in Reih und Glied, und Affe kam langsam aus der Kammer, eine kleine Schere und einen noch kleineren Schraubenzieher in der Hand. Affe war fast Albino und hatte folglich in all den Jahren, in denen Bo ihn nun schon kannte, ungefähr gleich ausgesehen.
Weiße Haare, hellblaue Augen – möglicherweise ging er, wie wir alle, jetzt etwas gebeugter, war im Laufe der Zeit etwas runzeliger geworden, aber in diesem Moment wirkte er vor allem wie ein Lausbub, der verbotenerweise auf Nachbars Apfelbaum erwischt wird, schuldbewußt, aber nicht ganz unzufrieden mit seiner Unternehmung.
»Ich wollte alles mal durchsehen, immer muß irgendeine Schraube nachgezogen oder irgendwas geschliffen werden.« Bo und Affe hatten aus Vorsicht niemals über Politik gesprochen, als ob unterschiedliche Ansichten ihre schweigsame, aber sehr gute Zusammenarbeit aufs Spiel setzen könnten. Nun hing das Schiff in Göteborg zwischen ihnen.
»Immerhin mach’ ich ja keine sichtbare Arbeit«, sagte Affe schließlich, ohne Bos Blick standzuhalten.
»Affe, möglicherweise hast du ein Dutzend Jobs hier im Institut gerettet, von allem anderen ganz zu schweigen. Hör zu.«
Bo erklärte Affe die Lage, und Affe engagierte sich immer mehr. Schließlich sagte er: »Wir lassen alles hier liegen, dann kann er sich selber seine Instrumente aussuchen. Hast du eine Ahnung, wie es leichentechnisch bei uns aussieht?«
»Im Flur liegen welche.«
Bo ging hinaus und hoffte, eine obduzierbare Leiche zu finden, und Affe sortierte die Instrumente. Im Flur lagen auf Rolltischen wirklich vier Leichen, deren Gesichter mit Laken abgedeckt waren. Eine konnte wegen ihres Fettes ausgeschlossen werden. Bo sah sich die nächsten an: einen sehr alten, sehr mageren Mann. Der schien zu passen, bis Bo sein Patientenarmband las: Abraham Roskowski. Eine Obduktion war aus religiösen Gründen unmöglich, wenn Abrahams Bekenntnis das war, was sein Name annehmen ließ.
Und wenn nun auch die nächste Leiche sich als unbrauchbar erwies? Es war halb eins, also konnten noch immer neue kommen, aber auf diese Möglichkeit wollte Bo sich nicht verlassen. Er trat an den letzten Rolltisch heran, hob die Decke und blieb bestürzt stehen. Dort lag ein schmächtiger Mann von vielleicht fünfzig mit kindlichem Gesicht und schütteren blonden Haaren. Seltsamerweise war er noch vollständig bekleidet. Bo betrachtete mißtrauisch Schlips, Hemd, Jacke, als werde er zum Zeugen eines ungewöhnlich geschmacklosen Scherzes. Er dachte einen Moment lang über mögliche Erklärungen nach. Ob der Mann zu Hause gestorben und in die falsche Institution gebracht worden war? Dann hätte er doch in die Gerichtsmedizin gehört. War er in der Notaufnahme gestorben, ehe sie ihm die Jacke hatten ausziehen können? Auf dem Rolltisch lagen keine Papiere, aber dann sah Bo das Patientenarmband am dünnen Handgelenk des Mannes. Dann hatte wohl trotz allem alles seine Ordnung. Er mußte eingewiesen und vorschriftsmäßig behandelt worden sein, war aber trotzdem gestorben und hier gelandet. Die Kleider konnte Bo sich nicht erklären, aber das spielte keine Rolle. Er überprüfte den Namen: Gösta Persson. Er überlegte einige Sekunden lang, ob es die richtige Leiche sei – er wußte nichts über Göstas Haltung zu einer eventuellen Obduktion, er hatte keine Ahnung, wie Göstas Familie darüber dachte. Göstas Obduktion brach die meisten Regeln, geschriebene wie ungeschriebene, die Bos Leben sonst leiteten, und er wollte sich alles gut überlegen. Das Risiko dieser Handlung war schwer zu berechnen. Bestenfalls würde niemand Fragen stellen. Schlimmstenfalls konnte Bo angezeigt und vor die Ethikkommission geladen werden. Andererseits mußte er davon ausgehen, daß seine wissenschaftliche Karriere beendet war, wenn er von Hayakawa kein Geld bekam. Bo war kein Spieler, er war niemals Risiken eingegangen, schon gar nicht aus Lust am Risiko. Im Gegenteil, er strebte nach Ordnung und Kalkulierbarkeit in seinem Leben, während die Forschung die Rolle des Unvorhersehbaren einnahm. Sie ließ ihn jeden Arbeitstag voller Erwartung angehen. Die Forschung gab ihm das Gefühl der Existenzberechtigung auf diesem bereits überbevölkerten Planeten. Er konnte es sich nicht leisten, die Forschung zu verlieren.
Mit energischen Schritten schob Bo Göstas Leichnam in den Obduktionssaal, wo Affe sich schon um Beleuchtung, Stühle und – zu Bos Überraschung – auch um eine Videokamera gekümmert hatte, die wie ein großer schwarzer Vogel auf dem Stativ hockte.
»Woher hast du die denn?« fragte er.
»So eine haben vor anderthalb Jahren alle Institute bekommen, und seither steht sie bei mir herum – niemand hat sich dafür interessiert, aber jetzt kommt sie doch wie gerufen, oder?«
»Affe, du bist ein Genie!«
Auch Affe war ein wenig verwirrt, als er sah, daß Gösta vollständig angezogen war. Für einen Moment glaubte er, Bo habe einen Passanten erschlagen. Dann aber zuckte er mit den Schultern. Wie zwei Verschwörer zogen sie Gösta, dessen Körper etliche Blutergüsse aufwies, aus. Bo hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, darüber konnte Hayakawa sich den Kopf zerbrechen. Sie stopften die Kleider in zwei schmale weiße Plastikbehälter, die sie neben Mantel und Schuhe in das Unterfach des Rolltisches stellten. Dann hoben sie Gösta auf den Obduktionstisch. Bo trat einen Schritt zurück und versuchte, alles mit Hayakawas Augen zu sehen. Er fand alles gediegen und wohl organisiert. Er rief seine Sekretärin an, um sich nach den Studenten zu erkundigen. Sie hatte bei den meisten Stationen Glück gehabt, einige hatten sich geweigert, aber an die zwanzig Studenten würden sich wohl einfinden.
Zu seiner Überraschung kam Hayakawa ihm im Flur entgegen. »Ich wollte gern etwas früher kommen, um mir die Instrumente anzusehen.«
Daran hätte er denken müssen. Hayakawa, wie andere Schauspieler, mußte sich natürlich mit der Bühne, den Requisiten und vielleicht sogar mit der Akustik des Raumes vertraut machen. Hayakawa begrüßte Affe, kontrollierte die Aufstellung der Stühle, verschob zwei von ihnen um einige Zentimeter, warf einen raschen, aber eindringlichen Blick auf Gösta und nickte. »Ausgezeichnet.«
Affe zeigte ihm das Instrumentenbuffet. Hayakawa griff aufs Geratewohl zu einigen Scheren, probierte sie aus und legte sie mit leichtem Nicken zurück. Damit begnügte er sich, offenbar überzeugt davon, daß alles in brauchbarem Zustand war. Affe und Bo wechselten Blicke – Erleichterung, Stolz, Triumph.
Hayakawa suchte sich rasch die Instrumente zusammen, die er verwenden wollte, und legte sie auf den Instrumententisch. Dann setzte er sich auf einen der hinteren Stühle und schien in eine Form von Meditation zu versinken. Er wollte ganz offenbar nicht gestört werden. Bo ging hinaus. Er wollte versuchen, Gösta Perssons Krankenbericht aufzutreiben.
Göstas Krankenbericht lag nicht an Ort und Stelle, im Gegensatz zu dem von Abraham Roskowski. Zuoberst lag eine Obduktionsanweisung, was nur bedeuten konnte, daß Abraham und seine Familie mit einer Obduktion einverstanden waren. Verdammt. Bo hatte keine Zeit, sich Vorwürfe zu machen, weil er nicht zuerst nach den Krankenberichten und dann erst nach der Leiche gesucht hatte. Ob er in der letzten Minute noch die Leichen tauschen könnte? Nein, es war zu spät, es war überhaupt zu spät für alles andere, er konnte nur noch nach unten rennen und das Schauspiel beginnen lassen.