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Hayakawa hatte den Saal verlassen, als sich die ersten Zuschauer einfanden, denn die Vorstellung mußte schließlich mit dem Einzug des Hauptdarstellers anfangen, unterstellte Bo. Der fiel auch äußerst professionell aus: Hayakawa blieb kurz in der Türöffnung stehen, so daß sein Publikum ihn bemerken mußte. Er blickte erwartungsvoll in die Runde aus Studenten und jungen Pathologen, die sich im letzten Moment hatten freimachen können. Als der Kontakt hergestellt war, schritt er majestätisch zum Obduktionstisch, legte seine Hand, die in dem dünnen Gummihandschuh hellgrau und künstlich aussah, auf Göstas weißgelben Brustkorb und fragte lächelnd eine Studentin ganz hinten: »Können Sie gut genug sehen?« Sie nickte. Hayakawa zögerte einen Moment, dann fragte er einen großen rothaarigen jungen Mann, der kurz vor der Ohnmacht zu stehen schien: »Und Sie? Sie sollten vielleicht ein wenig näher kommen und sich setzen?«

Charisma.

Bo spürte, wie sogar die Studenten, die die Pathologie längst hinter sich gelassen hatten (und die deshalb wirklich in Ohnmacht fallen konnten – man gewöhnt sich in wenigen Wochen an Obduktionen, wird aber ebenso rasch wieder entwöhnt), von der Stimmung ergriffen wurden, die Hayakawa herbeizauberte. Aus dem Augenwinkel sah Bo Ann Lilja hereinkommen, leise und vorsichtig, und Hayakawa begrüßte sie mit einer kleinen, aber ausdrucksvollen Geste. Bo fragte sich, wie sie sich hatte freimachen können, aber diese Überlegung wurde von Hayakawa gestoppt, der zu erzählen begann, wer er sei, was ihn nach Stockholm geführt habe und wie sehr er von Bo Ekdals Arbeit beeindruckt sei. Dann richtete er seinen Blick auf Gösta.

»Ehe wir anfangen, möchte ich Ihnen die Frage stellen, die fast nur Pathologen korrekt beantworten können. Wie hoch ist die statistische Wahrscheinlichkeit, daß wir zur selben Diagnose kommen wie der behandelnde Arzt des Patienten? Mit anderen Worten, wir erhalten durch die Obduktion das endgültige Ergebnis, aber wieviel wußte man schon vorher? Möchte jemand das schätzen? Oder fragen wir lieber Ihren Professor?«

Bo sprach gern über seine Arbeit. »An die fünfundsiebzig Prozent. In jedem vierten Fall stellt sich heraus, daß der Patient aufgrund einer fehlerhaften oder unvollständigen Diagnose behandelt worden ist.«

Hayakawa nickte.

»Vergessen Sie das nicht, wenn Sie erst eigene Verantwortung tragen. Aber nun wollen wir uns den Mann ansehen, den wir hier vor uns haben. Wir fangen wie üblich mit der äußerlichen Leichenschau an. Wissen Sie, daß es Pathologen gibt, die davon träumen, die äußeren Zeichen so klar deuten zu können, daß sie nicht mehr weitergehen müssen? Manche glauben, daß dem Körper alles von außen anzusehen ist, wenn wir nur die subtilen Veränderungen, die den inneren Krankheitsprozeß widerspiegeln, entdecken und lesen können. Was sehen wir nun hier? Wie weit, glauben Sie, können wir kommen, wenn wir sehr, sehr neugierig sind und sorgfältig und vorsichtig vorgehen bei unserer Untersuchung? Wollen wir es versuchen? Wir beginnen mit seinem Alter, möchte jemand einen Versuch machen?«

Bo Ekdal verfluchte sich selber noch einmal. Hayakawa würde bald entdecken, wie improvisiert das Ganze war. Niemand wußte doch irgend etwas über Gösta. Hayakawa würde nach Diagnosen fragen, nach Behandlungsdauer, den Ergebnissen der Laboruntersuchungen. Bo fragte sich abermals, warum er nicht von Anfang an reinen Tisch gemacht hatte. Ein Wissenschaftler muß doch ganz besonders darauf achten, niemals zu lügen, und sei es auch nur ganz indirekt. Das Alter, ja. Das war das einzige, was Bo über Gösta wußte, abgesehen von Namen und Adresse, die auch auf dem Armband standen. So weit würde alles gutgehen, aber was dann?

Hayakawa diskutierte Göstas Alter mit den Studenten. Er sprach über Falten am Ohr, Zähne, Hautelastizität. »Wir tippen auf achtundvierzig Jahre«, sagte er schließlich und wandte sich Bo zu. Er sah aus wie der Zauberer mit dem Kaninchen aus dem Zylinder, so sicher war er sich seiner Sache.

Bo lachte resigniert. »Um zwei Tage falsch geraten, Professor, er war bei seinem Tod 47 Jahre, elf Monate und 29 Tage alt.«

Hayakawa verbeugte sich leicht, und einige Studenten fragten sich, ob ein kurzer Applaus erwartet werde. Hayakawa fuhr fort: »Bei der Betrachtung des Allgemeinzustands ist es wichtig, nicht blind das Augenfälligste anzustarren. Wir sollten uns fragen, wie es ihm wohl gegangen ist, wie er gelebt hat, wie wir seinen Tod mit seinem Leben in Verbindung bringen können.«

Hayakawa zeigte, führte vor, hob Hautfalten hoch, untersuchte das Innere der Augenlider, klopfte auf die Bauchdecke und sprach währenddessen darüber, daß der Mann vermutlich über einen langen Zeitraum hinweg schlecht gegessen habe, daß er wenig Bewegung hatte, daß seine Hoden etwas kleiner waren als erwartet, daß alles zusammen dem typischen Bild des chronischen Alkoholikers ähnelte.

»Darüber hinaus gibt es noch etwas, was bemerkenswert und ungewöhnlich ist, und worüber Sie sicher schon kurz nachgedacht haben. Nämlich?«

»Er hat Blutergüsse«, meinte schließlich eine junge Frau in der ersten Reihe.

»Richtig. Und ich glaube zu wissen, warum Sie zögern: Sie fragen sich, ob Sie normale Leichenflecken sehen oder ob es sich um Blutergüsse handelt, die er sich vor seinem Tode zugezogen hat. Leichenflecken, wie Sie wissen, beruhen auf der Schwerkraft, sie befinden sich immer an den untersten Körperteilen. In Krankenhäusern werden die Toten immer auf den Rücken gelegt, ich weiß nicht warum, aber ich kann Ihnen versichern, daß das überall auf der Welt der Fall ist. Deshalb finden wir Leichenflecken auf dem Rücken und den Unterseiten von Armen und Beinen. Sehen Sie, hier sind sie. Was passiert übrigens, wenn man eine Leiche mit entwickelten Leichenflecken umdreht?«

Bertram Schwieter, der junge Aushilfspathologe, der nicht wußte, ob seine Aushilfsstelle verlängert werden würde, ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, auf seinen Professor einen guten Eindruck zu machen, und antwortete: »Wenn es innerhalb von sechs Stunden nach dem Todesfall geschieht, dann wandern die Flecken, sonst bleiben sie, wo sie sind.«

»Und wann sind sie zuerst zu sehen?«

»Ungefähr zwei Stunden nach dem Tod.«

»Ganz recht! Aber um zu unseren Blutergüssen zurückzukehren, denn darum handelt es sich hier ja, so sehen Sie, daß sie durchaus keine Ähnlichkeit mit Leichenflecken haben, was Farbe und Verbreitung angeht. Was ist hier passiert, was sollen wir glauben? Alle Blutergüsse weisen dieselbe Farbe auf, mit Ausnahme eines viel älteren, hier an der linken Wade. Wieso bekommt man überhaupt Blutergüsse? Nun, weil das Blut aus dem Gefäßsystem austritt, und wie geschieht das? Gewalt gegen den Körper, so daß die Gefäße zerreißen, oder irgendein Problem mit dem Blut selber, wodurch geringe Blutungen, die eigentlich von selber aufhören sollten, einfach weiter Blut ins Gewebe entlassen. Woher sollen wir wissen, womit wir es hier zu tun haben? Sehen Sie hier einen Betrunkenen, der stürzt, der gegen Möbel rennt, der vielleicht von jemandem, dem es ebenso elend geht wie ihm selber, einen Schlag in den Magen verpaßt bekommt? Wonach müssen wir jetzt suchen, was meinen Sie?«

»Nach Hautverletzungen.«

Der Rothaarige, der geantwortet hatte, durfte nun selber nachsehen. Er beugte sich über Gösta und untersuchte die Haut an zwei Blutergüssen am Rumpf und drei an den Beinen.

»Die Haut wirkt völlig unverletzt.«

»Gibt es Grund zu der Annahme, daß er ganz nackt war?«

»Sicher, ja, die Kleider können seine Haut geschützt haben. Dann sollte ich mir wohl lieber Hände und Gesicht ansehen.«

»Sicher. Aber wenn wir uns Hände und Gesicht ansehen, dann finden wir keinen Hinweis auf eine Schlägerei, keinen Hinweis darauf, daß er so oft und auf die Weise gefallen ist, die nötig wäre, um die seltsamen Flecken zu ergeben, die seinen ganzen Körper bedecken. Seltsamerweise haben wir sogar einen in der rechten Achselhöhle und mehrere auf der Innenseite des Oberschenkels. Warum ist das so seltsam?«

Die Frage wurde einer Studentin gestellt, die tief errötete und ihren Blick senkte.

Hayakawa nickte also ihrem Nachbarn aufmunternd zu, und der antwortete: »Wahrscheinlich, weil man sich durch Stürze oder bei Prügeleien da normalerweise nicht verletzt.«

Hayakawa schien entzückt zu sein.

»Exakt. Wenn wir nun nicht annehmen, daß er gefallen ist, können wir uns dann vorstellen, daß er aus anderen Gründen geblutet hat?«

»Leberversagen«, schlug ein großer, yuppiehafter Student vor. »Natürlich. Seine kleinen Hoden weisen auf eine schlechte Leberfunktion hin. Sie wissen sicher noch, daß die Leber die kleine Menge von weiblichen Sexualhormonen abbaut, die es bei Männern gibt, aber wenn die Leber nicht mehr mitmacht, steigen die Werte im Blut, weswegen die Hoden langsam verschwinden. Die Leber produziert schließlich auch einen Teil der Stoffe, durch die das Blut gerinnt; wenn die Leber nicht funktioniert, dann funktioniert auch das Blut nicht. Und was denken wir nun über die Todesursache? In einem Mundwinkel und, soviel wir sehen können, auch in der Mundhöhle finden wir Reste von eingetrocknetem Blut. Außerdem sind Magenblutungen meine Spezialität, eine Spur, die nun auch nicht zu verachten ist. Wollen wir beschließen, daß wir zu dem Ergebnis gekommen sind, daß der Mann Alkoholiker war, daß er an einer Magenblutung gestorben ist und daß sein Blut nicht richtig geronnen ist, was dann zur Todesursache beigetragen haben muß?«

Diese Frage brauchte nicht beantwortet zu werden, und Hayakawa fuhr fort: »Jetzt wollen wir sehen, ob wir der Wahrheit näher kommen, wenn wir einen Blick auf sein Inneres werfen.« Er griff zum auserwählten Skalpell, trat dicht an Göstas Körper heran und machte einen langen Schnitt, der unter der rechten Wange ansetzte, sich mit einem kleinen Bogen um den Nabel bis zur Taille fortsetzte und bei den Schamhaaren endete. Es war eine einzige Bewegung, geschmeidig und exakt, ein schöner Anblick.

»Schauen Sie, schon jetzt sehen wir, daß er nicht nur Blutergüsse hatte, die von außen zu sehen waren, sondern daß auch hier und dort innere Blutungen aufgetreten sind, wenn auch nicht unmittelbar unter den Blutergüssen, was ebenfalls dagegen spricht, daß er in eine Schlägerei verwickelt war«, er blickte augenzwinkernd auf, »aber das wußten wir ja schon, oder?«

Hayakawa richtete sich auf und schaute auf die Uhr. Halb zwei. »Das geht ja gut. Wonach sollen wir jetzt suchen? Woran sollen wir denken?«

»Verletzungen der Speiseröhre«, schlugen zwei Studenten gleichzeitig vor.

»Warum das?« Die beiden wollten gleichzeitig antworten, aber diesmal verstummte die Frau, und ihr Kommilitone sagte: »Bei Leberschädigungen wird der Blutfluß behindert, und eine der Alternativrouten, die das Blut einschlagen kann, geht durch die Gefäße, die außen an der Speiseröhre liegen. Diese Gefäße werden ausgedehnt und überlastet, was zu Brüchen führt, an denen man verbluten kann.«

Seine Kommilitonen kicherten über seinen Ernst, seine Wortfülle, aber Hayakawa nickte. Er verbreitete sich nun über die verschiedenen Methoden, die Speiseröhre herauszunehmen, wenn man die Gefäße untersuchen wollte. Während er sprach, holte er Göstas Organe aus dem Leichnam, als ob sie lose in der Bauchhöhle gelegen und nur darauf gewartet hätten, herausgenommen zu werden. In zwei Minuten war Hayakawa weiter gekommen, als Bo das normalerweise in einer halben Stunde schaffte. Bisher hatte er noch keine unnötige Bewegung gemacht, er hatte sich in keinem Fall in der Anatomie verirrt, und immer wieder beschrieb er, welche Alternativen er hatte und weshalb er sich für diese hier entschied. Bo ließ sich widerwillig beeindrucken. Das war um Klassen besser als alles, was er je gesehen hatte. Nun setzte Hayakawa zu seiner Zusammenfassung an: »Und nun zur Speiseröhre. Hier sehen Sie die Gefäße, die zweifellos etwas erweitert und schlaff sind, aber dadurch kann er nicht verblutet sein. Aber warten Sie, die Gefäße wirken dicht, aber wenn wir sanft und sehr vorsichtig nachfühlen, dann entdecken wir auf einem eine Narbe. Sie ist nicht zu sehen, aber hier ist das Gewebe etwas härter als an anderen Stellen. Er hat hier vor langer Zeit eine Blutung gehabt und hatte das Glück, sie zu überleben. Ansonsten finden wir nur eine diffuse Blutung in der Schleimhaut. Im Magen finden wir recht viel Blut, aber keine spezielle Blutungsursache. Keine gemeine kleine Arterie, die gesprudelt hat, kein Magengeschwür, keine Kratzer oder Löcher. Aber sehen Sie her, hier haben wir auch schon frühere Blutungen, mehrere sogar. Er hatte Magengeschwüre, hier haben wir mehrere alte Narben und eine kleine Wunde, die erst vor kurzer Zeit verheilt zu sein scheint. Und wieder die Blutung der Schleimhäute, die wir schon vorhin gesehen haben. Aber nun müssen wir seine Leberwerte zu Hilfe nehmen, hier gibt es ja einiges, worüber wir uns nur wundern können.«

Bo Ekdal wurde es schwindelig. Vielleicht würde er jetzt in Ohnmacht fallen. Das wäre dann immerhin seine Rettung – nicht einmal Hayakawa würde wohl weitermachen, wenn sein Gastgeber bewußtlos auf dem Fußboden lag.

»Der Patient ist gestorben, nachdem er dreimal wegen Blutungen behandelt worden war, erstmals vor achtzehn Monaten mit blutenden Speiseröhrenvarizen, dann ein halbes Jahr später wegen eines blutenden Magengeschwürs und schließlich vor einem Monat.« Eine klare Frauenstimme, die Bo nicht sofort lokalisieren konnte, die sich jedoch als die von Ann Lilja entpuppte. Wundersamerweise schien Gösta auf ihrer Abteilung gelegen zu haben, und Bo fiel Professor Albinssons Kommentar ein: »Die Kleine ist tüchtig, und außerdem hat sie ein photographisches Gedächtnis.«

Hayakawa hatte die Leber gerade in Scheiben geschnitten, zeigte Gefäße und Gallengänge, die überraschend deutlich waren, und sprach über den Grund der Blutungen.

»Da stimmt was nicht, liebe Leute. Um so zu bluten, hätte die Leber in einem viel schlechteren Zustand sein müssen. Schauen Sie her!«

Er hob eine Leberscheibe hoch und ließ ein schmales Messer darüber hinweggleiten. Dahinter zeigte sich das gesunde Lebergewebe rotviolett und fleischig, während die zerstörten Adern eingesunken und starr dazwischen lagen.

»Hier gibt es zwar große Schäden, aber sie sind nicht groß genug, um daran zu verbluten.«

Hayakawa dachte laut nach: »Ob er wohl ein Bluter gewesen sein kann?«

Er blickte Ann Lilja an, die den Kopf schüttelte. Göstas Blut sei nicht in ausreichender Menge vorhanden gewesen, da er so viel geblutet habe, aber das vorhandene Blut sei immerhin bei allen drei Behandlungsrunden normal gewesen.

»Also stehen wir vor einem Mysterium. Der Mann ist verblutet, er hat diffus im Magen-Darm-Kanal geblutet. Das wissen wir immerhin. Er hat auch subkutan geblutet, deshalb die Blutergüsse, er hatte Blutungen in den Muskeln und in den inneren Organen. Aus irgendeinem Grund ist sein Blut nicht geronnen, aber dafür gibt es in seinem Körper keine Erklärung. Die Frage ist, wie das möglich sein kann. Haben wir nicht alle möglichen Erklärungen gesucht, die wir doch ablehnen mußten? Dann müssen wir wohl zu den weniger normalen Ursachen übergehen, die Wirklichkeit liegt ja vor uns, und wenn wir nicht an Voodoo oder andere Formen der Magie glauben, muß sie sich erklären lassen. Was meinen Sie? Was kann passiert sein?«

»Mißlungene Bluttransfusion?« kam ein Vorschlag aus den hinteren Reihen.

Hayakawa schüttelt den Kopf und fragte weiter: »Warum nicht?« Bertram Schwieter wartete, ob irgendein Student antwortete, das müßten sie können, aber nach einigen langen Sekunden antwortete er selber: »Falsche Symptome. Dann hätten sich die roten Blutkörperchen auflösen müssen, was nicht zu dieser Art von Blutungen führt.«

»Außerdem gibt es keine mißlungenen Bluttransfusionen, ich habe in der Blutzentrale gearbeitet, deshalb weiß ich das«, fügte ein bärtiger Student hinzu.

Hayakawa fuhr herum und musterte den Bärtigen.

»Vorsicht! Das ist ein gefährlicher Gedanke. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Einmal habe ich einen Rasenmäher zur Reparatur gebracht, der nicht funktionierte, und der Mechaniker sah ihn sich an und sagte: ›Diesen Fehler kann es bei diesem Gerät nicht geben‹. Er schenkte der Bedienungsanleitung größeren Glauben als seinen eigenen Augen, und davor müssen Sie sich hüten. Sie müssen darauf pfeifen, ob in den Büchern etwas anderes steht. Daß Ihre Blutzentrale unmöglich einen Fehler begehen kann, könnte ich möglicherweise als religiöse These akzeptieren, aber nicht als Wahrheit, die uns bei unserer Arbeit helfen kann. Aber welche weiteren Erklärungen für das Vorgefallene kann es geben?«

»Er hat vielleicht irgend etwas eingenommen, was die Blutgerinnungsfähigkeit herabsetzt?« schlug der Rothaarige vor, der seine normale Gesichtsfarbe zurückgewonnen hatte.

»Ach, und wie soll das möglich gewesen sein?«

»Selbstmord«, wurde in den hinteren Reihen zögernd vorgeschlagen.

Hayakawa zuckte leicht mit den Schultern. »Sie sind alle denkende Menschen, also muß Ihnen auch die Möglichkeit des Selbstmordes eingefallen sein. Aber nun sagen Sie mir, würde irgendwer unter Ihnen ein Mittel benutzen, das erst nach mehreren Tagen wirkt? Ein Mittel, das vielleicht mehrmals eingenommen werden muß?«

Diese rhetorische Frage blieb unbeantwortet.

»Aber ganz unmöglich ist das natürlich nicht. Welche Erklärungen könnten wir uns noch vorstellen?«

Das Publikum blieb stumm.

»Sagen Sie’s schon. Sie denken doch alle dasselbe, das sehe ich Ihnen an. Was meinen Sie?«

Er zeigte auf Bertram Schwieter, der antwortete: »Ein Unglücksfall, also unbeabsichtigte Vergiftung, oder Mord.«

»Genau! Sie sind wirklich phantastisch tüchtig! Da wir uns an die Pathologie halten müssen und keine Gerichtsmedizin betreiben wollen, machen wir hier wohl Schluß, aber ich möchte doch wissen, ob noch Unklarheiten bestehen. Fragen Sie also jetzt, in fünf Minuten ist es zu spät.«

Bo Ekdal hatte das Geld inzwischen schon so oft verschwinden sehen, daß er sich nicht mehr aufregen konnte. Er überlegte, daß er sein Bestes und noch etwas mehr getan hatte, daß das jedoch nicht ausreichte. Ein pathologisches Institut, das seine aus normalen Gründen Verstorbenen nicht von eventuellen Mordopfern unterscheiden kann, flößt kein Vertrauen ein, und noch schlimmer ist es, wenn die Krankenhausärzte nicht einmal bemerken, daß ihre Patienten ermordet werden. Wer würde schon mit einer solchen Klinik zusammenarbeiten wollen? Wer würde unter solchen Umständen dieser Klinik ein Vermögen anvertrauen? Bo wünschte sich abermals und nutzlos, von Anfang an eine andere Strategie gewählt zu haben. Er wünschte, er hätte die Wahrheit gesagt. Er hätte zum Beispiel Hayakawa bitten können, einige Wochen später zu kommen – warum mußte der Besuch ausgerechnet jetzt stattfinden? Warum hatte er nicht zuzugeben gewagt, daß er diese blöde Obduktion im ganzen Trubel vergessen hatte? Hätte Hayakawa das denn nicht verstehen können?

Aber nun war wohl alles vorüber, das Publikum verließ den Saal. Plötzlich stand Hayakawa vor ihm. Bo bereitete sich auf das Schlimmste vor, wurde zu seiner Überraschung jedoch zuerst in den Rücken, dann gegen den Oberarm gestupst.

»Lieber Professor! Ich habe lange nichts so Lustiges mehr erlebt! Magenblutungen bekomme ich jedesmal, und ich weiß das ja auch zu schätzen, aber das hier! Ein möglicher Mord! Was für ein denkwürdiger Tag für mich, und was haben Sie in Ihrem Krankenhaus für außerordentlich kompetente Ärzte! Dieser Besuch war das reinste Vergnügen, sowohl wissenschaftlich als auch sozial. Ich bin sehr, sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben. Ich werde meinem Aufsichtsrat mitteilen, welchen guten Eindruck ich von Ihrer Tätigkeit gewonnen habe. Aber nun muß ich zurück ins Hotel, dieses Mal bin ich leicht verspätet.«

»Kann ich Sie ins Hotel fahren?« fragte Bo Ekdal unter Aufbringung seiner absolut letzten Kräfte.

»Danke, aber das ist nicht nötig, ein junger Mann von der Botschaft holt mich ab, er fährt mich erst zum Hotel und danach zum Flughafen.«

Bo begleitete Hayakawa zur Limousine, die ihn tatsächlich als langer, grauer Schatten beim Haupteingang des Krankenhauses erwartete.

»Es war mir wirklich ein großes, großes Vergnügen«, wiederholte Hayakawa, als er nach einem herzlichen Abschied ins Auto stieg.

Bo sah das Auto im Nebel verschwinden, er winkte und fragte sich dann, was er als nächstes zu tun habe. Beim Verdacht auf Mord oder ähnliches mußte man wohl Kontakt zur Polizei aufnehmen, aber wie verhält man sich, wenn das potentielle Mordopfer schon obduziert worden ist? Er konnte nicht einmal anfangen, daran zu denken, wie er erklären sollte, was passiert war, er hatte nicht mehr genügend Energie, um ein weiteres kleines Problem zu lösen, ganz zu schweigen von einem dieser Größenordnung.

Als er zur Pathologie zurückging, holte ihn auf dem Flur Ann Lilja ein. Sie hielt einen dicken Stapel Papiere in der Hand.

»Bitte sehr. Du wirst das hier wohl brauchen, nehme ich an.« Es war Gösta Perssons Krankenbericht.

»Hattest du Göstas Papiere?«

»Ja sicher, ich habe sie mir vor dem Mittagessen gerade durchgesehen, ich mußte nämlich den Totenschein ausstellen. Einen ganz falschen Totenschein, und ich bin gerade noch davor gerettet worden, den auszuschreiben. Vielen Dank.«

Sie war ausnahmsweise einmal ernst, und Bo fand ihre kurze Oberlippe und ihre füllige Unterlippe noch gemeißelter denn je. »Ich habe mich für deine Hilfe bei der Vorführung zu bedanken. Ich weiß nicht, was ohne dich passiert wäre. Aber wie in aller Welt konntest du dich fürs Mittagessen und dann auch noch für die Vorführung freimachen?«

Wieder lachte Ann: »Reiner Zufall. Ich wollte eigentlich meinen Schreibtisch aufräumen, mir gehen die Papiere bis hierhin«, sie zeigte ein Niveau dicht unter ihrer Nase, »und ich schaff’ sie einfach nie alle, ja, du weißt sicher, wie das ist.«

»Ich habe allerdings noch eine Frage: Weißt du, ob Gösta oder seine Angehörigen etwas gegen eine Obduktion gehabt hätten?«

»Ja oder nein, wie du willst. Ja, ich weiß, und nein, er hatte keine Einwände, sonst hätte er nicht an unserem Versuch teilgenommen.«

»Ann, bist du ganz sicher, daß du kein Engel bist? Oder eine griechische Göttin, die Menschengestalt angenommen hat, um mit uns gewöhnlichen Sterblichen ihre kleinen Scherze zu treiben?«

Wieder ein fast lautloses Lachen, einige Locken, die sich aus den Kämmen befreit hatten, die die Haare aus dem Gesicht hielten, und die das Licht einfingen, als sie den Kopf schüttelte.

»Ich bin ganz sicher, daß ich weder das eine noch das andere bin. Viel Glück mit der Polizei.«

Obwohl ihm ganz flau zumute war, ließ er sich mit der Polizei verbinden und wurde nach und nach zur Gewaltsektion durchgestellt, wo er so gut wie möglich mehreren verschiedenen Personen alles erklärte und jedesmal weitergereicht wurde. Am Ende kam er zu richtigen Stelle, mußte jedoch auf einen Rückruf warten. Nach weiteren sich in die Länge ziehenden Minuten wurde ihm mitgeteilt, daß sofort jemand von der Kriminalpolizei kommen würde. Er dachte kurz nach und bat dann seine Sekretärin, sich auf die Suche nach Bertram Schwieter zu machen, dem Unterarzt, der bei der Vorführung dabeigewesen war.

»Bertram, demnächst kommt jemand von der Polizei, um zu entscheiden, was mit der Leiche geschehen soll. Es hört sich blöd an, aber ich kann heute kein einziges Gespräch mehr durchhalten, ich glaube, ich sterbe, wenn ich jetzt nicht nach Hause fahren und schlafen kann. Du mußt mich vertreten, erzählen, was du weißt. Mehr hätten sie aus mir auch nicht herausholen können. Hier ist der Krankenbericht, den ich noch nicht gelesen habe, nutz deinen gesunden Menschenverstand, wenn du nicht weißt, wie du dich verhalten sollst, ich rede gern übermorgen mit der Polizei oder mit sonst wem, aber jetzt hau’ ich ab, mach’s gut.«

Bo Ekdal nahm ein Taxi nach Hause, zog den Telefonstecker heraus, entkleidete sich und fiel ins Bett. Seine Gedanken kreisten um diesen turbulenten Tag. Immerhin habe ich mich nicht mit der Grippe angesteckt! dachte er vor dem Einschlafen.

Da seine Kinder nicht mehr bei ihm wohnten und seine Frau ihn damals, als die Selbstverwirklichung in Mode kam, verlassen hatte, konnte er die vierzehn Stunden, die er brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen, ungestört durchschlafen.

Dünner als Blut - Schweden-Krimi

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