Читать книгу Dünner als Blut - Schweden-Krimi - Åsa Nilsonne - Страница 6
PROLOG
ОглавлениеLangsam verbreitete sich ein Grippevirus in der Inneren Mongolei, einem spärlich bevölkerten Teil des sonst so dichtbesiedelten China. Die Bevölkerung, die vor allem aus Viehzüchtern bestand, wurde krank und nach einigen Tagen mit Fieber und Muskelschmerzen auch wieder gesund. Die dreijährige Olan bekam, wie viele andere, hohes Fieber, sie weinte und klagte über Schmerzen im ganzen Körper, sie schwitzte und hatte Durst, während sich das Grippevirus in ihrem Körper verbreitete. Bei einer seiner unzähligen Milliarden von Kopien änderte das Virus seine Eigenschaften, indem es sie neu kombinierte, wie die Glasstücke in einem Kaleidoskop neue, einzigartige Bilder ergeben, wenn sie die Plätze vertauschen. Die neue Kombination unterschied sich nur in einem einzigen Punkt von den anderen Varianten, die im Umlauf waren: Es fiel der menschlichen Immunabwehr sehr schwer, sie zu entdecken. Olan ging es nicht besser, ihr Zustand verschlechterte sich in den nächsten Tagen. Ihre Eltern begriffen langsam, daß sie sterben würde, und baten deshalb den Arzt bei einem seiner regelmäßigen Besuche in der Stadt um Rat.
Der Barfußarzt, der Olan auf Gedeih und Verderb fiebersenkende Mittel und Antibiotika verpaßte, nahm das neue Virus in die nächsten beiden Städte auf seiner Besuchsliste mit, dann wurde er selber krank und mußte das Bett hüten, bis er wieder schmerzfrei war.
Olan überlebte, ohne Hilfe der Medikamente, aber ihre Genesung erhöhte das Ansehen des Arztes in ihrem Ort, und die Nachfrage nach seinen Diensten stieg.
Das Virus brauchte ein Jahr, um Zhenshou zu erreichen, dann wanderte es im Laufe einiger Wochen nach Shanghai weiter, von wo kein Anstieg der Todesfälle berichtet wurde, was vermutlich daran lag, daß in dieser riesigen Stadt nicht so genau über Todesfälle Buch geführt wurde. Vielleicht lag es auch daran, daß solche Auskünfte in Folge der neuen politischen Zurückhaltung dem Ausland gegenüber geheimgehalten wurden.
Seltsamerweise wurde Mexiko City – als erste Stadt mit voller Informationsfreiheit – voll getroffen. Unter dem millionenstarken Menschengewimmel verbreitete sich das Virus mit überraschender Geschwindigkeit und hinterließ dabei eine reiche Ernte an Todesfällen. Wie immer kamen die sehr Alten und die sehr Jungen zuerst an die Reihe, aber auch unter erwachsenen, nicht besonders unterernährten Menschen kam es zu Todesfällen. In einigen Stadtteilen, in den Slumgebieten der Stadt, schien die Pest gewütet zu haben. Manche Familien verloren innerhalb einer Woche die Hälfte ihrer Kinder, und nun plötzlich erwachte die selbsternannte »entwickelte Welt« zum Leben. In Mexiko City gibt es ja Ausländer genug, und in direkter Nachbarschaft liegt eines der leistungsstärksten menschlichen Gemeinwesen der Welt.
Sofort wurde mit allem erdenklichen virologischen und bakteriologischen Fachwissen eine Hilfsaktion eingeleitet, und bald war die Ansteckungsquelle erkannt: ein normales, mutiertes Grippevirus. Diese Nachricht war in gewisser Hinsicht beruhigend, da zur Identität der Krankheit schon wesentlich phantasievollere und beängstigendere Vorschläge gemacht worden waren. Aber sie breitete sich weiter aus, und eine effektive Behandlungsmethode wurde nicht gefunden.
In westlichen Zeitungen beruhigten die Journalisten ihr Publikum mit bekannten Tatsachen: Epidemien in der Dritten Welt, die die Armen, Obdachlosen und Unterernährten ums Leben bringen, müssen für uns oder für unsere Kinder noch lange keine Gefahr bedeuten. Die Berichte über die Verbreitung der Krankheit, die zuerst Schlagzeilen geliefert hatte, schrumpften zu Kurznotizen auf den Auslandsseiten.
Einige Wochen später wurde die Bevölkerung von Rom, London, Seattle und Kopenhagen durch die Entdeckung geschockt, daß das neue Virus die Grenze zwischen der armen und der reichen Welt nicht respektierte. In der westlichen Welt starben zwar nur sehr alte und schwache Menschen, aber fast ein Drittel der Bevölkerung dieser Städte erkrankte, Block um Block, Stadtteil um Stadtteil. Läden schlossen, Buslinien mußten eingestellt werden, in den Straßen stapelten sich die Abfälle.
Die geringen bisher produzierten Impfstoffmengen wurden zur heißesten Handelsware auf dem Schwarzmarkt. Es kam zu verwirrenden und quälenden ethischen Diskussionen: Wer geht vor? Der Regierungschef, der 89jährige Greis im Pflegeheim oder die 35 jährige asthmakranke Frührentnerin? Ab und zu mutierte das neue Virus wieder, aber die neuen Kombinationen waren fast alle weniger dramatisch in ihren Interaktionen mit dem menschlichen Körper, und sie wanderten weiter in die Welt und aus der Welt hinaus, neben ihren besser getarnten Verwandten, die mit ihrem einzigen Ziel solchen Erfolg hatten: sich zu vermehren.