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5. Geerbte Sätze

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Sie machen uns manchmal das Leben schwer und beschränken uns in unseren Möglichkeiten. Über Glaubenssätze und innere Richter und wie sie unser Denken und Handeln prägen.

Sie und er sind mit ihrem sechsjährigen Sohn unterwegs, da treffen sie auf der Straße eine Bekannte.

Er: Wir waren gerade dabei, eine geeignete Volksschule in der Umgebung zu finden.

Bekannte: Ach, so groß ist euer Sohn also schon! Ja, ja, jetzt beginnt der Ernst des Lebens!

Zu Hause im Vorzimmer legen sie alle drei ihre Jacken und Schuhe ab.

Sie: Ich weiß nicht, irgendetwas ist mir über die Leber gelaufen.

Er: Du bist schon komisch, seit wir unsere Bekannte getroffen haben.

Sie (nach einigem Nachdenken): Jetzt, wo du es sagst: Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand meint, mit der Schule beginne der Ernst des Lebens. Da kommen in mir nur noch Stress und negative Gedanken an schwierige Lehrer und Zwänge hoch. Furchtbar!

Stellen wir uns ein Baby vor, ganz frisch zur Welt gekommen. Ist es nicht ein vollkommen wahrhaftiges Wesen? Frei von Zuschreibungen und Bewertungen schaut es in die Welt und saugt alles auf, aus reiner Neugierde, ohne die Nase zu rümpfen oder ein schlechtes Gewissen zu haben, ohne Empörung und Scham. So lang, bis wir es erziehen, denn dann beginnt der Prozess der Sozialisation. Der Begriff „Erziehung“ trifft es auf den Punkt: Wir ziehen an diesem neuen Erdenbürger herum und verbiegen seine neutrale, neugierige Weltsicht, damit er sich aus unserer Sicht richtig verhält.

Es sind viele Sätze, die unser Erwachsenwerden begleiten. „Lass das Baby ruhig schreien, es muss auch lernen, alleine zurechtzukommen“ oder später dann „Das macht man nicht“ oder „Sei ja schön brav und ärgere den Papa nicht“. Mit dem Älterwerden werden diese Sätze vielschichtiger: „Mach schneller!“ oder „Sei nicht so egoistisch“ oder „Es gehört sich nicht, so viele Fragen zu stellen“, „Sei nicht so naiv“ oder „Das steht dir nicht zu“. Die Variationen könnten wir hier wohl endlos fortsetzen, doch wir sind sicher: Sie haben bestimmt sofort selbst Sätze parat, die Sie von klein auf kennen – und die Sie vielleicht auch zu Ihren Kindern sagen oder gesagt haben. Viele dieser Anweisungen sind auch gut und hilfreich: „Setz eine Haube auf, es ist eiskalt draußen“ oder „Sag danke zu der freundlichen Frau“. Damit lernen wir den Umgang mit Gefahren und wie wir uns so verhalten, dass ein gutes und friedliches Miteinander in der Gesellschaft möglich ist.

Jede dieser Anweisungen nimmt das heranwachsende Kind auf. Es geht davon aus, dass sie wahr sind, und irgendwann werden sie zu einer Selbstverständlichkeit. Es verinnerlicht diese Anweisungen. Wenn es also von klein auf hört: „Mach schnell“, dann lernt es, dass man immer schnellmachen muss im Leben. Es lebt entsprechend dieser Prämisse und versagt sich damit aber auch die vielen Erlebnisse, die man nur hat, wenn man sich auch einmal Zeit lässt. Es wird ihm ein Teil seiner Potenziale genommen, die zu seiner Persönlichkeit gehören.

Zunächst – in der Kindheit – ist diese verinnerlichte Stimme unsere Verbündete. Wenn die Mutter vermittelt „Reiß dich zusammen, das tut doch nicht weh“ und wir uns dementsprechend verhalten, werden wir mit der Mutter weniger Konflikte haben. Das heißt, dass diese Verinnerlichung uns als Kind das Überleben sichert, weil wir schließlich in einer Abhängigkeit von den Eltern stehen. Beim nächsten Sturz mit dem Rad werden wir also die Zähne zusammenbeißen, weil wir nicht wehleidig sein dürfen, oder ganz im Gegenteil noch mehr den Schmerz zeigen und übertreiben, um dann endlich doch die ersehnte Aufmerksamkeit von Papa und Mama zu erhalten.

Fatal ist jedoch, dass diese Anweisungen und Ermahnungen sich zu einem inneren Richter entwickeln, den wir mit in unser Erwachsenenleben nehmen. Um beim Beispiel mit der Wehleidigkeit zu bleiben: „Das halte ich schon aus“, sagen wir, wenn wir aufgefordert werden, beim Umzug von Freunden zu helfen, obwohl wir seit Jahren chronische Kreuzschmerzen haben. Heimlich leiden wir dann vor uns hin, und wenn die Freunde merken, wie sehr uns die Schmerzen plagen, wundern sie sich über unser „komisches“ Verhalten: „Warum hast du denn nichts gesagt, es wäre doch in Ordnung gewesen, wenn du nicht geholfen hättest!“

Dieser innere Richter ist ziemlich ungnädig und kann sehr mächtig werden. Er manifestiert sich beispielsweise in den sogenannten fünf Antreibern, die der Psychologe Eric Berne in der Transaktionsanalyse definiert: Sei perfekt! Mach schnell! Sei stark! Mach es allen recht! Streng dich an! Innere Richter bilden sich auch dann in uns, wenn wir das Verhalten der Eltern kopieren oder auf die eine oder andere subtile Art manipuliert werden. Etwa, wenn eine Tochter vom Vater sexuell missbraucht wurde. Als wäre das nicht schlimm genug, wird sie auch noch angewiesen, nur ja nichts zu sagen. So vermittelt er ihr gleichzeitig, dass sie es ist, die etwas Böses getan hat. Die Einstellung „Mit mir stimmt etwas nicht“ kann sich aus dieser tragischen Konstellation entwickeln, eine Überzeugung, die ein überaus strenger Richter in allen Fragen der Körperlichkeit sein kann.

Ähnlich ist das mit Glaubenssätzen, die wir von unseren Eltern oder anderen Bezugspersonen übernehmen. Der Unterschied zum inneren Richter ist, dass Glaubenssätze als eine Art Lebensweisheit in Sprüchen daherkommen: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Frauen gehören an den Herd. Geld verdirbt den Charakter. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Männer denken immer nur an das eine. Frauen können nicht logisch denken. Unternehmer sind Ausbeuter. Oder eben jener, der oben in unserer Szene ausgesprochen wurde: Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens. Wir sind sicher, Sie können diese Liste mit Glaubenssätzen aus Ihrer Familie ergänzen. Wie eine Tradition übernehmen wir diese Sätze und hinterfragen sie meistens nicht.

Sowohl Glaubenssätze als auch diese strengen Sätze des inneren Richters beeinflussen unser Denken und Handeln, indem sie uns einschränken. Frauen sind nicht gut in Mathematik? Wenn ich als Frau diesen Satz verinnerlicht habe und dann während meines Soziologie-Studiums in einer Statistik-Vorlesung nur das Wort „Mittelwert“ höre, werde ich reflexartig abschalten und mich gar nicht erst bemühen, die Zusammenhänge zu verstehen. Oder ein anderes Beispiel: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Es liegt nahe, dass ich viel eher burnoutgefährdet bin, wenn ich an diesem Glaubenssatz festhalte. Der innere Richter kann da ganz schön grausam und ungnädig sein, so sehr, dass wir uns damit gar nicht gerne konfrontieren wollen.

Doch darin liegt auch ein großes Heilungspotenzial, und deswegen haben wir uns eine Partnerin, einen Partner ausgesucht, der dann unbewusst an genau den richtigen Stellen zupft. Um mit diesen inneren Stimmen zurechtzukommen, brauchen wir Menschen als eine Art Blitzableiter, auf die wir diese Stimmen projizieren. Da ist der Partner, die Partnerin die beste Adresse. Mitunter wird daraus ein richtiger Machtkampf, der damit beginnt, dass der Partner einem genau die Sätze des eigenen inneren Richters um die Ohren haut. Denn möglicherweise hat er einen sehr ähnlichen inneren Richter.4 Wenn der Partner zu uns sagt „Jetzt reiß dich zusammen, ist doch nicht so schlimm“, dann hat er vielleicht einen inneren Richter, der ihm zuraunt „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – und schon ist die höllische Mixtur beisammen und wir werden protestieren. Wie komme ich dazu, mir so etwas sagen zu lassen! So redest du nicht mit mir! Denn natürlich haben wir Gefühle und es geht nicht immer nur ums Zusammenreißen. Es geht genauso darum, dass der andere uns zuhört und uns tröstet. Gefühle zu zeigen ist die Würze des Lebens! So weist der eine auf das hin, was sie sich beide als Kinder nicht getraut haben, nämlich sich aufzulehnen gegen dieses strenge Regime. Letztlich aber ringen die zwei kleinen Kinder um die Befreiung von diesen inneren Richtern.

Achten Sie einmal darauf, was Ihr innerer Richter Ihnen so ins Ohr flüstert. Welche Glaubenssätze haben Sie mit auf den Weg bekommen? Prüfen Sie diese Sätze dann genau. Es muss ja nicht sein, dass sie Ihnen Probleme bereiten. „Mach schnell“ beispielsweise hat den großen Vorteil, dass private Projekte schnell voranschreiten und bald abgeschlossen sind, sodass sie einen nicht unnötig lang belasten. Wer jedoch deshalb sein Essen immer so schnell wie möglich hinunterschlingt oder im Urlaub nicht entspannt, weil er von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten rennen muss, tut sich nichts Gutes – und der Beziehung meist auch nicht.

Glaubenssätze prüfen Sie am besten, indem Sie überlegen, wie es wäre, ohne sie zu leben. Wir erinnern uns an ein Paar, bei dem beide den Glaubenssatz „Wir sind etwas Besseres“ hatten. Als sich das Paar vorstellte, ohne ihn zu leben, bekamen beide Angst. Wir haben einen Blick in ihre Vergangenheit geworfen und fanden auch den Grund: Beide kamen aus Familien mit Fluchthintergrund. Dieser Glaubenssatz half schon der Generation davor zu überleben. Das Paar selbst plagten die Ängste, ihre Heimatberechtigung, ihren Platz in unserer Welt zu verlieren.

Es ist eine Herausforderung, all diese geerbten Sätze loszuwerden. Manchmal hilft es, sich nach dem Motto „fake it until you make it“ auszuprobieren, um sich letztlich von ihnen zu befreien und etwas Neues gestalten zu können.

4In den Impulsen zum Thema „Wie konnte ich mich nur in den verlieben!“ können Sie lesen, warum dieser Gedanke naheliegt.

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