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10. Wenn der Partner unangenehm zupft

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Warum Frustrationen ein doppeltes Geschenk sind und über den Sinn, daher auch Unangenehmes anzusprechen.

Sie: Kommt gar nicht in Frage, das mache ich nicht!

Er: Aber warum denn nicht? Es ist doch keine große Sache, sich auf die Bühne zu stellen und diesen Vortrag zu halten.

Sie: Ich sterbe tausend Tode, bevor ich mich auf diese Bühne traue. Nie und nimmer mache ich das! Die vielen Leute im Publikum, die würden mich zerpflücken und in der Luft zerreißen.

Er (ungehalten): So ein Blödsinn. Du bist doch Expertin auf deinem Gebiet.

Sie: Und erst recht all die Neider, die mein Vortrag auf den Plan rufen wird. Das brauche ich wirklich nicht.

Er (mittlerweile richtig wütend): Das ist doch ausgemachter Unsinn! Du glaubst, wenn du dich versteckst, wird dein Leben einfacher? Ganz im Gegenteil!

Sie: Schluss jetzt. Ich will nicht mehr drüber reden.

Der bereits im Impuls Nr. 9 erwähnte Kinoheld Melvin Udall kann im Film „Besser geht’s nicht“ nicht einmal von seinem Psychiater von seinen Zwangsneurosen geheilt werden. Sehr wohl aber von Carol Connelly, gespielt von der genialen Helen Hunt. Nur sie schafft es, ihn in seine Schranken zu weisen. Warum? Weil er sich in sie verliebt und sie wohl die einzige Person in seinem Leben ist, die er ernst nimmt. Weil sie beide Seelenverwandte sind. Sie droht ihm mit Lokalverbot, wenn er sich nicht besser benimmt, und mehrmals macht sie ihm klar, dass es ihr reicht, so unmöglich, wie er sich verhält. Damit „zwingt“ sie ihn, sein Verhalten zu verändern, denn sonst würde er seine Seelenverwandte verlieren. Sie zupft ihn ganz gewaltig an seinen Marotten und Neurosen, und am Ende wird er tatsächlich zu einem erträglichen Menschen. Auch umgekehrt erfährt sie selbst durch diese Beziehung Heilung. Sie ist eine, die sich nicht helfen lassen will und alles alleine stemmen muss, was sie über ihre Grenzen der Belastbarkeit bringt mit ihrem kranken Sohn. Er zeigt sich trotz aller Schrulligkeit als großzügiger Helfer und unterstützt sie, damit ihr Sohn die richtige Behandlung bekommen kann. Und so lernt sie, dass man sich anderen anvertrauen und Hilfe annehmen kann.

In unser aller Leben ist es nicht immer so drastisch wie in diesem Film. Zu Beginn einer Beziehung, wenn wir verliebt sind, sehen wir die meisten Seltsamkeiten ohnehin nicht, oder wenn, dann sind wir voll der Liebe: Ach, sie traut sich nicht, einen Vortrag zu halten – wie bescheiden, wie rührend, wie süß! Das Überlebensmuster der Angebeteten wird schöngeredet. Vielleicht sind wir sogar ein bisschen froh über diese zurückhaltende Art, weil auch wir die Erfahrung gemacht haben, dass zu viel der überschießenden Lebenskraft ganz schön bedrohlich sein kann. Doch spätestens, wenn der Alltag unsere Beziehung bestimmt, kann diese Bescheidenheit unerträglich werden, weil wir erkennen: Sie steht auf der Bremse und stellt sich nicht ihren Herausforderungen.

Als Paartherapeuten orten wir hier jedoch ein Problem: Wir konfrontieren unsere Partnerin mit ihrem Überlebensmuster erst, wenn es uns wirklich schon reicht. Wir haben also quasi den Überlaufschwimmer, der den Wasserfluss rechtzeitig stoppt, viel zu hoch montiert. Und dann, wenn uns ihr Verhalten ohnehin schon viel zu lange gestört hat, bricht es aus uns heraus und wir reagieren verärgert und wütend. Und wie reagiert die Partnerin dann? Ganz klar: mit Abwehr. Es kann sogar nur noch schlimmer werden, weil sie dann ihre Überlebensmuster noch mehr verteidigen muss. Wer sich nicht wertgeschätzt fühlt, muss sich zur Wehr setzen, so ist das nun einmal.

Max Frisch brachte es auf den Punkt, wie man als Überbringer einer Botschaft so ankommt, dass sich etwas verändern kann: „Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“ Wertschätzung ist immer ein passender Mantel. „Ich weiß, dass du dich gern mit deinem Wissen versteckst. Als Kind hast du es gelernt, dass es eine gute Strategie ist, unsichtbar zu bleiben, weil du dadurch glimpflich davongekommen bist, während dein vorlauter Bruder geschlagen wurde. Unsichtbar zu sein war daher für dich eine wichtige Überlebensstrategie. Heute, als erwachsener Mensch, brauchst du diese Strategie jedoch nicht mehr.“ So könnte eine gute Kommunikation lauten, die es möglich macht, in die Lebenskraft zu kommen und sichtbar zu werden.

Unsere Partner und Partnerinnen brauchen nicht nur die Wertschätzung dafür, dass ihre Komfortzone eine wichtige Überlebensstrategie aus der Kindheit war. Sie brauchen auch das Verständnis, dass das Verlassen dieser Komfortzone mit viel Angst, Scheu und Scham verbunden ist. Da nützt es gar nichts zu sagen: „Ach, stell dich nicht so an.“ Es ist so, als würde jemand noch mit Krücken gehen, obwohl seine Fußverletzung schon seit Jahren geheilt ist. Da bringt es auch nichts, wenn man ihm von heute auf morgen die Krücken wegnimmt – die Muskeln wären so verkümmert, dass dieser Mensch trotz geheiltem Fuß nicht gehen könnte, und er würde umfallen. Da braucht es eine langsame Annäherung: zunächst mit nur einer Krücke üben und fleißig Kräftigungsübungen machen, und erst dann kann man den ersten Versuch wagen, ohne Krücken zu gehen.

Eines jedenfalls ist gewiss: Niemand hat große Lust darauf, das ganze Leben lang mit Krücken zu gehen. Es ist nur die Angst, die uns im Vertrauten hängen bleiben lässt. In Wahrheit sind wir wohl eher ambivalent: Wir wollen in der Komfortzone bleiben und wir wollen in die Lebensfreude kommen. Also zupfen Sie sich ruhig gegenseitig immer wieder! Idealerweise nicht erst, wenn das Fass schon am Überlaufen ist, und auf jeden Fall in Liebe und Wertschätzung.

Um Sie zu motivieren, aus Ihrer Komfortzone zu steigen: Frustrationen sind ein Geschenk – und nicht nur das, sie sind sogar gleich ein doppeltes Geschenk! Falls Sie uns jetzt für verrückt erklären: Wir beweisen es Ihnen anhand eines Beispiels aus unserem eigenen Leben.

Eines unserer Streitthemen früher war, dass Roland sich mit seinen Ängsten vor Krankheiten und dem Tod von Sabine nicht ernst genommen fühlte. Wenn er ihr seine Sorgen erzählte, schob sie diese schnell vom Tisch: „Ach, was du schon wieder hast. Da ist doch nichts!“ Dieses Verhalten frustrierte ihn sehr. In einer der damals zahlreichen Therapiesitzungen, die sie besuchten, erzählte er ihr dann von seiner Oma, die ihr Zimmer neben ihm hatte und ständig davon redete, dass sie sterben wolle, wie wir das in Impuls Nr. 9 schon erzählt haben.

Dieses Bewusstwerden über den Zusammenhang mit dieser alten Geschichte, das Aufarbeiten, das Heilen dieser alten Wunde und der damit entstehende Gewinn von Lebensfreude war das erste Geschenk für Roland. Und das zweite Geschenk kam gleich dazu: Indem Sabine diesen tiefen Schmerz verstehen konnte, konnte sie auch ihr Verhalten ihm gegenüber verändern und sich mutig als Frau zeigen.

So ist das mit dem Frust: Er entsteht, weil der größte Schmerz der einen Person mit der größten Not der anderen zusammenkommt. An diesem Punkt kann der eine seine alten Wunden heilen und die andere wachsen und sich entwickeln. Sie sehen: Beide profitieren! Eigentlich könnten Sie ab nun bei jedem Frust die Arme hochreißen und rufen: „Hurra, wir haben ein Problem!“ Denn dann sind Sie im Grunde genommen mitten drin in dem, was wir in unserer Einleitung geschrieben haben: Beziehungen sind wie ein Labor, in dem es darum geht, dass zwei Menschen sich zu reifen Individuen entwickeln.

Liebe, wie geht's?

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