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1. Die Schlacht am heißen Buffet

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Mitmenschen – selbst unsere engsten Vertrauten – verhalten sich oft „komisch“. Was dahintersteckt und wie hilfreich es ist, sich das eigene Verhalten bewusstzumachen.

Er (kommt mit ihr verspätet zu einer Party): Ich sag dir, ich hab so riesigen Hunger! Hoffentlich haben sie ein gutes Buffet.

Sie: Ja, aber zuerst müssen wir schon ein paar Leute begrüßen.

Er sieht das Buffet und stürzt sich wortlos darauf, ohne auch nur einen Blick auf die vielen Freunde rundherum zu verschwenden.

Sie: Du bist so peinlich! Und dann schaufelst du dir auch noch den Teller so voll!

Gastgeber: Hey, ihr zwei! Na, dir schmeckt’s ja. Seid ihr schon länger da? Ich hab euch ja noch gar nicht gesehen.

Er: Ähm …

Wir Menschen sind allesamt ein seltsames Volk. Wir verhalten uns so, wie es uns vertraut ist – und ein anderer findet das eigenartig. Wir vergessen unsere Manieren und kapern das Buffet, weil der Magen knurrt, und wundern uns, dass der Gastgeber patzig reagiert. Oder wir nehmen bei Diskussionen gerne die Rolle des Kritikers ein, weil wir das sinnvoll finden, und müssen uns dann gefallen lassen, zurechtgewiesen zu werden.

Oder auch umgekehrt. Wir heben irritiert die Augenbraue, weil sich ein anderer vordrängelt, weil wir das ungehörig finden und selbst nie tun würden. Wir sitzen im feinsten Business-Outfit in einem Kunden-Meeting und sind sehr erstaunt, wenn die Kundin ungeniert ihre Brotjause auspackt und genüsslich zu mampfen beginnt.

Auf welcher Seite wir auch immer gerade stehen, in jedem Fall gibt diese Irritation des fremdartigen Verhaltens Anlass zur Verwunderung oder auch Verletzung, Frustration, zum Ärger oder Streit. Das liegt daran, dass jeder von uns instinktiv davon ausgeht, dass die eigene Welt die einzig existierende ist. Wir bewerten das Verhalten anderer vor dem Hintergrund unserer eigenen Sozialisierung. Was für uns „normal“ ist, nehmen wir als Maßstab.

Viele Konflikte würden gar nicht erst entstehen, wären wir in der Lage, über den Tellerrand zu blicken und die Welt unserer Mitmenschen ein bisschen besser kennenzulernen. Gleichzeitig kann auch das Konfliktpotenzial größer werden, je näher uns jemand steht, weil wir dann auch seine oder ihre Schattenseiten entdecken. Wenn der beste Ehemann von allen sich nicht benehmen kann und bei der Party nicht einmal die Gastgeber begrüßt, fragen wir uns unter Umständen, welchen Grobian wir da geheiratet haben. Wir schämen uns fremd, und später, auf dem Nachhauseweg, stellen wir ihn dann zur Rede, um ihm klarzumachen, dass man sich so nicht verhalten sollte und es uns peinlich war.

Als Paartherapeuten laden wir in solchen Situationen dazu ein, einen Blick hinter das Verhalten zu werfen. Das hat gleich mehrere Vorteile: Zum einen hat der „Übeltäter“ nur so die Chance, sich sein inadäquates (oft unbewusstes) Verhalten bewusst zu machen und es so leichter verändern zu können. Zum anderen kann die „peinlich Berührte“ den Partner besser verstehen, Toleranz üben und helfen, dieses Verhalten zu verändern. Und nicht zuletzt entwickelt das Paar auf diese Weise auch das Miteinander weiter und vertieft die Beziehung. Dasselbe gilt natürlich auch für seltsames Verhalten von Geschwistern, Eltern, Kindern oder Freunden.

Nehmen wir das Beispiel vom Buffet. Ja, es ist unhöflich, verspätet auf einer Party zu erscheinen und dann nicht einmal den Gastgeber oder auch irgendjemand anderen zu begrüßen, sondern gleich das Buffet zu stürmen. Vielleicht denken Sie sich jetzt auch, dass das nun wirklich kein Drama sei, es käme schließlich öfter vor, dass sich Menschen am Buffet nicht benehmen können. Das stimmt, und gleichzeitig können wir genau deshalb ganz wunderbar zeigen, wie sehr wir alle von unserer Vergangenheit beeinflusst werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Dieser wortlos das Buffet stürmende Mann ist in den 50er Jahren geboren. Der Krieg war vorbei, der Aufbau führte zum Wirtschaftswunder und die Kühlschränke waren voll. Als Kind hörte er zwar davon, dass in Afrika die Kinder Hunger leiden, wenn er einmal nicht aufessen wollte, doch selbst kannte er den Hunger nicht. Es stellte sich heraus, dass sein Vater sehr wohl viel Hunger leiden musste. Er war im Krieg und in russischer Kriegsgefangenschaft, die er nur mit Glück überlebte. Als unser Mann also das Buffet stürmte, schlug sein emotionales Erbe durch: Plötzlich triggerte sein Hungergefühl diese „vererbte“ Angst vor dem Verhungern des Vaters, und er verhielt sich wie ein tatsächlich Verhungernder. Wer nichts zu essen hat, pfeift auf gute Manieren und schaut, dass er schnell etwas in den Magen bekommt!

Eigentlich hätte er dem Gastgeber als Entschuldigung sagen müssen: „Tut mir leid, mein Vater war in Kriegsgefangenschaft und hat sehr viel Hunger gelitten. Ich habe das quasi im Blut und das hat dafür gesorgt, dass ich unhöflich zu dir war.“ Wäre interessant gewesen zu erfahren, wie der Gastgeber darauf reagiert hätte. Vermutlich wäre er gleich noch irritierter gewesen.

Warum, so fragen Sie sich nun möglicherweise, muss ich wissen, welches Blut in meinen Adern fließt, woher es kommt und wohin es geht? Weil Bewusstheit der Schlüssel ist für ein gelungenes Leben! Wenn Sie bei einem „komischen“ Verhalten ertappt werden und sich der Hintergründe nicht bewusst sind, werden Sie immer mit fadenscheinigen Ausreden daherkommen. „Ach ja, ich habe dich seit einer Stunde schon überall gesucht!“, sagen Sie dann vielleicht dem Gastgeber. Oder: „Ja, witzig, oder, kaum war ich da, hat mir schon einer diesen vollen Teller in die Hand gedrückt.“ Wenn wir Pech haben, werden diese Notlügen auch noch schnell entlarvt und dann haben wir uns gleich doppelt danebenbenommen: unhöflich und auch noch unehrlich! Wenn Sie sich hingegen klarmachen, woher Ihr seltsames Verhalten herrührt, es also in Ihr Bewusstsein heben, können Sie es verändern. Nur was uns bewusst ist, können wir auch verändern!

In unserem emotionalen Erbe steckt viel Potenzial, und zwar im Positiven wie im Problematischen. Viele unserer Eltern und Großeltern, die den Krieg miterleben mussten, haben über ihre Erlebnisse nicht geredet. Das bedeutet, dass Ängste und Traumata, von denen es bestimmt genug gab, sich in ihren Seelen eingespeichert haben und unbewusst über die Generationen weitervererbt wurden. Der noch junge Forschungszweig der Epigenetik untersucht, unter welchen Bedingungen ein Gen aktiviert wird oder nicht. So hat man in manchen Studien herausgefunden, dass die Wirkung von Traumata bis in die dritte Generation nachgewiesen werden kann. Das ist der Grund, warum wir auch bei Kriegsenkeln und Kriegsurenkeln darüber nachdenken sollten, inwiefern es noch traumatische Spuren aus dem zweiten Weltkrieg gibt. Üblicherweise kommen diese vererbten Themen in einem ganz anderen Kleid daher, beispielsweise auch in Form psychosomatischer Reaktionen. Es lohnt sich wirklich, sie zu hinterfragen und zu verstehen, denn sonst bleiben sie weiterhin Teil des emotionalen Erbguts und belasten nicht nur uns selbst, sondern auch die nächste Generation.

Doch es sind nicht nur die Kriegserlebnisse unserer Vorfahren, die uns zu seltsamem Verhalten führen. Oft sind es auch Stimmungen im Elternhaus, unbewusste Aufträge, Loyalitäten zu Vater oder Mutter, die uns unbewusst leiten. In unserem Buch „Warum haben Eltern keinen Beipackzettel?“1 haben wir uns ausführlich damit befasst, welches emotionale Erbe die Fäden in unseren aktuellen Beziehungen zieht. An dieser Stelle kommen unsere Partner ins Spiel, denn sie können besser als alle anderen ihren Finger auf dieses emotionale Erbe legen und uns herausfordern, damit uns unser Verhalten bewusst wird und wir es verändern können. Und es hilft uns auch, toleranter zu sein gegenüber all den „komischen“ Menschen auf dieser Welt!

1Orac, 2013

Liebe, wie geht's?

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