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11. Ein Hungerkünstler kommt selten allein

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Wenn zwei sich finden, schaut Amor auf die Seelenverwandtschaft. Und er schaut auch darauf, dass Gegensätze aufeinandertreffen.

Er: Sag, warst du schon einkaufen? Der Kühlschrank ist fast leer! Sie: Ich war doch gestern einkaufen. (Sie schaut erstaunt in den Kühlschrank.) Aber es ist doch alles da, Milch, sechs Eier … Da wirst du doch wohl nicht verhungern!

Er (ungehalten): Bitte schau genau. In der Milchpackung ist gerade einmal ein Tropfen drin.

Sie: Okay, davon hätte ich schon mehr kaufen können, da hast du Recht.

Er (alarmiert): Und überhaupt. Wir wollten doch ein großes Frühstück machen und einen Kuchen backen. Du kaufst immer viel zu wenig ein! Was soll das?

Sie: Ach du, du übertreibst immer. Es ist immer genug da, und trotzdem ist es dir nie genug. Du wirst schon sehen, das passt schon.

Er: Nein, also wirklich. Mir reicht’s! Ich gehe jetzt zum Markt einkaufen.

So ist es oft: Wo der eine gähnende Leere im Kühlschrank sieht, erkennt die andere die Fülle. Wo der eine aufgebracht seine Wünsche einfordert, beschwichtigt die andere und gibt klein bei. Und so kennen Sie es vermutlich auch: Es gibt Themen, da sind Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin eindeutig uneins.

Wenn wir von Liebe sprechen, denken wir gerne an Seelenverwandtschaft – wie wir das im Impuls Nr. 8 mit dem Zebraeffekt dargelegt haben. Gleichzeitig sagt man: Gegensätze ziehen sich an. Auch das ist richtig, und es schließt das eine das andere gar nicht aus. Wenn wir es näher betrachten, erkennen wir, dass beides sogar eng miteinander verbunden ist: Es sind die gemeinsamen Themen und oft auch ähnlichen Gefühlszustände in der Kindheit, die uns den passenden Strichcode erkennen lassen. Doch sind wir in unserer Kindheit mit diesen Themen und Gefühlen unterschiedlich umgegangen, sodass sich daraus Gegensätzlichkeiten entwickeln. Ein Beispiel aus unserer eigenen Geschichte:

Wir haben beide das typische Schicksal der 50er-Jahre-Kinder erlebt, die Eltern waren mit dem Wiederaufbau beschäftigt und haben versucht, manches nachzuholen und zu kompensieren. Da war für uns als Kinder nicht viel Platz, was emotionale Zuwendung und Sichtbarkeit anlangte. Unsere Eltern haben uns natürlich geliebt, wie das fast alle auf dieser Welt damals wie heute tun, und sie haben alles ihnen Mögliche getan, damit es uns finanziell und physisch gutgeht. Doch wir wurden nicht ausreichend gesehen, unsere seelischen Bedürfnisse wurden nur wenig wahrgenommen. Das ist, was unsere – Rolands und Sabines – Seelenverwandtschaft unter anderem ausmacht.

Unsere Gegensätze entwickelten sich daraus, wie wir mit diesem Nicht-Gesehen-Werden umgegangen sind, welche kindlichen Schutzmechanismen wir entwickelt haben. Sabines Schutzmechanismus war der, dass sie sich zurückgezogen hat – so quasi nach der Logik: Wenn ich wenig Energie aufwende, brauche ich auch nicht viel. Außerdem beschloss sie unbewusst: Ich bleibe bescheiden und brav, vielleicht werde ich dann doch belohnt und bekomme ein Stück emotionaler Zuwendung. Ruhig bleiben und sich zurückziehen, das war Sabines Art, mit ihrer Welt damals zurechtzukommen.

Roland hielt es eher wie Pippi Langstrumpf, nach dem Motto: Wenn es etwas Gutes gibt, muss man sich ranhalten, sonst kommt man zu kurz. Natürlich war auch sein Beschluss unbewusst. Er war als Kind schon sehr aktiv. Ein Beispiel: Weil seine Eltern so wenig Zeit für ihn hatten und es eigentlich nur sonntags ein gemeinsames Frühstück gab, war er es, der meist schon am Vorabend den Tisch deckte. So sorgte er dafür, dass er bekam, was er sonst so vermisste: Nähe und Anerkennung. Sonst wäre er ja emotional verhungert!

Genauso können aus derselben emotionalen Kargheit andere Menschen ganz andere Schutzmuster entwickelt haben: Der eine stopft zu viel Essen in sich hinein, die andere isst nur heimlich, der Dritte plündert regelmäßig die Naschlade der Oma und die Vierte hortet kein Essen, dafür aber jede Menge Puppen in ihrem Zimmer. Ja, wir sind als Kinder sehr kreativ, wenn es darum geht, mit unserer Welt umzugehen, wenn wir sonst keine Mittel haben, uns zu wehren oder sie uns zu erklären.

Diese Schutzmuster sind meistens direkt mit unserem Hirnstamm verbunden – das ist der älteste Teil unseres Gehirns, das vier Reaktionsmuster kennt: Angriff, Flucht, Erstarrung (oder Totstellen) und Unterwerfung.8 Sie repräsentieren das, was wir mit allen Tieren gemeinsam haben, nämlich die möglichen Reaktionen auf Gefahr. Angreifen und Flüchten sind zwei Strategien, bei denen wir unsere Energie aktivieren und maximieren. Wenn wir erstarren oder uns unterwerfen, minimieren wir sie. In der Imagotherapie sprechen wir gerne von Hagelsturm und Schildkröte – Sie können sich bestimmt denken, dass der Hagelsturm der Maximierer und die Schildkröte die Minimiererin ist.

In einer Paarbeziehung treffen meistens ein Hagelsturm und eine Schildkröte zusammen, wobei aus unserer Beobachtung heraus mehrheitlich die Frauen der Hagelsturm und die Männer die Schildkröte sind. Haben Sie eine Idee, wer in Ihrer Beziehung welche Rolle hat? Wenn Sie gerade in keiner Beziehung leben: Wie war es in Ihrer letzten Beziehung? Kann sein, dass sich das auf den ersten Blick nicht gleich festmachen lässt. Doch dort, wo Stress auftaucht und wir mit unseren ältesten Schutzmustern konfrontiert werden, wird das deutlich. Hagelsturm und Schildkröte sind Sie nicht nur in Ihrer Paarbeziehung, sondern auch darüber hinaus, und nicht selten zeigt ein und dieselbe Person im Beruf die eine Qualität und privat die andere – und umgekehrt.

Bei uns Bösels ist es so, dass Sabine die Minimiererin ist und Roland der Maximierer. Wenn Sie die Szene zu Beginn dieses Impulses noch einmal lesen, werden Sie sehen, dass die beiden genauso gut wir beide sein könnten: Er, der Hagelsturm, sieht im letzten Tropfen Milch die Hungersnot ausbrechen. Ganz seinem unbewussten Schutzmuster folgend reagiert er alarmiert: Essen muss her! Und er aktiviert seine Energie: Er muss auf den Markt gehen und einkaufen! Sie, die Schildkröte, hat gemäß Schutzmuster gelernt, genügsam zu sein. Für sie ist der Kühlschrank ausreichend gefüllt. Auf seinen „Angriff“ reagiert sie beschwichtigend, sie gibt ihm Recht und zieht sich zurück. Hauptsache kein Streit!

Es liegt auf der Hand, dass aus Gegensätzen leicht Konflikte und Streit entstehen können – doch nur, weil es da ein offenes Thema gibt, das beide nicht aufgearbeitet haben. Deshalb überreagieren beide auch. Gäbe es zwar unterschiedliche Ansichten über die Fülle im Kühlschrank, aber kein emotional aufgeladenes Thema im Hintergrund, würden sie sachlich einen Check machen, ob tatsächlich alles da ist, was sie brauchen, und bei Bedarf einkaufen gehen oder nicht. Und die Sache wäre erledigt.

Hagelsturm und Schildkröte, diese Kombination ist gleichzeitig auch sehr wichtig: Gegensätze ermöglichen es, dass wir uns ergänzen. Stellen Sie sich vor, es gäbe in einer Paarbeziehung zwei Maximierer. Die hätten vermutlich drei Kühlschränke in der Wohnung – sofern sie sich nicht schon längst zerfleischt hätten mit ihrer aufbrausenden, lautstarken Art, mit der sie auf Konflikte reagieren. Und zwei Schildkröten wären vermutlich verhungert, jede in ihrem Panzer zurückgezogen. Nur in der Gegensätzlichkeit können wir gut leben. So wie ein Projektteam bei guter und verständiger Führung umso bessere Ergebnisse liefert, je vielfältiger die Kompetenzen der einzelnen Teammitglieder sind, so wichtig ist es auch für das „Team Liebespaar“, unterschiedliche Qualitäten einzubringen. Hagelsturm und Schildkröte können ganz wunderbar voneinander lernen: die Schildkröte, indem sie sich ihre Bedürfnisse einfordern traut, der Hagelsturm, indem er so manches ein bisschen weniger dramatisiert. Wie so oft hilft auch hier ein Blick hinter die Kulissen. Die Seelenverwandtschaft hat so viele Gesichter: Beide kennen die Einsamkeit als Kind oder haben keinen Platz in der Familie bekommen, beide haben wenig Anerkennung erfahren oder auch ähnliche Schicksalsschläge aller Art in der Familie erlebt wie Tod, Selbstmord, Depressionen oder schwere Krankheiten. Vielleicht haben es beide auch erlebt, entwurzelt zu werden, weil die Familien aus verschiedenen Gründen immer wieder umgezogen sind und dadurch immer wieder Freunde verloren haben. Gehen Sie Ihren Gemeinsamkeiten auf die Spur: Was hat Sie zur Schildkröte, zum Hagelsturm werden lassen? Welches gemeinsame Thema können Sie ausmachen? Lernen Sie ein neues Lied: das dynamische Duett!

8siehe auch Impuls Nr. 19

Liebe, wie geht's?

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