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9. Überlebensmuster sind kompliziert

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Was als Kind überlebensnotwendige Verhaltensmuster sind, sind meist hinderliche Verhaltensmuster im Erwachsenenleben. Über den Sinn des Auflösens.

Sie und er im Urlaub in Südspanien. Die Sonne scheint, der Oleander duftet und die Alhambra, die sie gerade besichtigen, beeindruckt in ihrer Perfektion und Einzigartigkeit.

Sie: Wow, schau dir das an! Ist es nicht beeindruckend, dieses Bewässerungssystem, das die Menschen damals schon entwickelt haben? Und da, diese Fliesen … Hey, du! Was ist mit dir?

Er (sorgenvoll): Du, schau einmal, ich habe doch da etwas auf der Lippe.

Sie: Was denn? (Sie sieht sich die Stelle an.) Da ist doch nichts. Eine leichte Rötung, nichts Besonderes.

Er (entrüstet): Nichts Besonderes? Das könnte Krebs sein!

Sie: Ach geh! Die Sonne hat dir vielleicht ein bisschen die Lippe gereizt. Hier, ich habe einen Lippenbalsam.

Er (geschockt): Was?! Ich habe hier vermutlich Krebs und du kommst mir damit? Ich hab schon mit meinem Hausarzt telefoniert! Er meint, das wäre nichts Schlimmes. Aber er kann das ja aus der Ferne gar nicht beurteilen!

Kurz darauf erreicht ihn ein Anruf aus dem Büro. Die Computer sind abgestürzt. Er telefoniert zwei Stunden lang und schafft es von Spanien aus, das Problem zu lösen. Als sie beim Abendessen sitzen, spricht sie ihn noch einmal darauf an.

Sie: Wie geht es denn deiner Lippe?

Er: Wieso? Was soll mit meiner Lippe sein?

Ja, wir Menschen können uns das Leben schon ordentlich schwermachen. Da könnten wir den Urlaub genießen und uns freuen, weil das Leben gerade sein Füllhorn über uns ausschüttet, und dann sorgen wir uns wegen eines roten Tüpfelchens auf der Lippe. Am wohl unterhaltsamsten und auch drastischsten hat es Hollywood im Film „Besser geht’s nicht“ mit Jack Nicholson als Zwangsneurotiker par excellence dargestellt. Seine Überlebensmuster zeigen sich anhand von Türschnallen, die er nicht angreifen kann, oder der Haustür, die er täglich im selben Ritual fünfmal nach links und dann nach rechts zusperren muss. Er legt damit sich selbst und auch sein Umfeld in Ketten und verpasst das Leben.

Überlebensmuster entstehen immer aus einer Not heraus, in einer Zeit, in der wir mit schwierigen Ereignissen nicht reflektiert umgehen können, also vor allem in unserer Kindheit. Der Dialog oben hat sich zwischen uns vor etlichen Jahren abgespielt. Dieses neurotische Verhalten hat seinen Ursprung, als der kleine Roland sich mit seiner Großmutter konfrontiert sah, die immer nur sterben wollte. „Ich will sterben“ war ihr Standardsatz und ergänzte quasi perfekt das insgesamt düstere Bild der schwarz gekleideten, gebeugten Frau, die am Rollator so oft an Rolands Zimmer vorbeizuckelte. Als kleiner Bub war ihm dieses Verhalten unheimlich und es machte ihm Angst. Doch es war nur selten jemand da, dem er sich anvertrauen konnte. Seine Eltern waren im familiären Betrieb eingespannt, und so war er viel alleine. Wenn er allerdings krank war, war seine Mutter präsenter. So lernte er dreierlei: Zum einen übernahm er die kreisenden Gedanken über den Tod, zum anderen, dass Krankheit manchmal Aufmerksamkeit beschert, und drittens zeigte ihm das Vorbild seiner Eltern, dass Arbeit einen wichtigen Wert hat und einen vor sorgenvollen Gedanken schützt.

Solche Schutzmechanismen bleiben in uns gespeichert und werden im Erwachsenenleben in bestimmten Situationen abgerufen, wie unser Dialog zeigt. Und sie verselbstständigen sich: Im schönsten Ambiente denkt er über den Tod nach, obwohl seine Frau ihm viel Aufmerksamkeit schenkt. Erst als der Anruf kommt, hat er sein vertrautes Überlebensmuster zur Seite gelegt und kann sich mit Arbeit ablenken. Das ist, was Schutzmechanismen ausmacht: Sie sind kompliziert und von außen rein objektiv auch nicht zu verstehen. Man versteht sie erst, wenn man hinter die Kulissen schaut.

Überlebensmuster vergleichen wir gerne mit Krücken. Zu einer Zeit, wo wir mit schwierigen Situationen nicht gut umgehen können, legen wir uns Krücken zu. Rolands Krücke ist, dass er sich gern in die Arbeit stürzt, damit kein Platz für düstere Gedanken entstehen kann. Wenn das nicht möglich ist – wie im Urlaub –, dann kriechen die großmütterlichen Energien hervor, und erst die Arbeit kann ihn wieder beruhigen. Wenn wir noch einmal einen Blick in den Film mit Jack Nicholson werfen, finden wir eine ganze Palette an Krücken: Er vermeidet es, auf Striche zu steigen, oder nimmt sich sein eigenes Besteck ins Restaurant mit, und alles nur, weil ihm das ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Genauso ist es eine Krücke, wenn Sie sich in zu viel Arbeit flüchten, um sich selbst, eine innere Traurigkeit oder einen Frust nicht allzu sehr spüren zu müssen. Oder wenn Sie sich unsichtbar machen aus Angst, etwas falsch zu machen und wie in Ihrer Kindheit geohrfeigt zu werden. Dieses letzte Beispiel zeigt auch ganz wunderbar, wie sehr eine Krücke in der Kindheit notwendig ist – und wie wenig passend sie im Erwachsenenleben ist: Ein Kind, das beobachtet, dass der Bruder immer wieder geschlagen wird, kann verschiedene Strategien entwickeln. Eine davon ist, dass es lernt, sich zu ducken und unsichtbar zu werden, um nur ja nicht auch die strenge Hand der Mutter zu spüren. Das ist eine sehr vernünftige Überlebensstrategie, nicht? Als Erwachsene zeigt sich diese Überlebensstrategie dann zum Beispiel darin, dass sie weiterhin unsichtbar bleibt: Sie kleidet sich unscheinbar, meidet es, Vorträge zu halten, und lehnt Einladungen zu TV-Talkshows ab, obwohl sie als Expertin viel zu sagen hätte.

Doch im Erwachsenenalter gibt es keine schlagende Hand, vor der man sich zu schützen hat. Trotzdem behält man seine Krücke und stützt sich auf sie, weil man sie verinnerlicht hat und gar nicht auf die Idee kommt, dass man auch anders leben kann. Wenn Sie zu jenen Menschen gehören, die sich aus welchen früheren Gründen auch immer zur Unsichtbarkeit entschieden haben, überlegen Sie: Was würde denn heute passieren, wenn Sie laut und klar Ihre Meinung sagen? Wenn Sie auf einer Bühne vor Publikum sprechen? Wenn Sie Ihren Wunsch durchsetzen und nicht wieder klein beigeben? Wäre dann Ihr Überleben bedroht? Höchstwahrscheinlich nicht.

Viel besser wäre es, Sie würden sich vornehmen, Ihr Verhalten zu verändern. Denn mit jedem Akt des Unsichtbarmachens unterdrücken Sie Ihr Potenzial und nützen es nicht. Das ist doch schade!

Wir Menschen werden geboren als Individuen, die sich entfalten wollen und wachsen, die ihre Lebendigkeit dadurch spüren wollen, indem sie alle Register ziehen, die sie zur Verfügung haben.

Diese Krücken stehen – psychologisch betrachtet – für das sogenannte „verlorene Selbst“. Wir sind mit einem Potenzial geboren, doch die Umstände in unserer Kindheit haben dazu geführt, dass wir manches davon verlieren. Und hier kehren wir zur Eingangsfrage zurück: Wie konnte ich mich nur in den verlieben? Genau darum: Weil Ihr Partner, Ihre Partnerin die perfekte Person ist, um Ihr verlorenes Selbst wiederzufinden und es in Ihr Leben zu reintegrieren.

Wir haben im Impuls Nr. 8 über die Seelenverwandtschaft geschrieben, die dafür verantwortlich ist, dass wir uns ineinander verlieben. Gleichzeitig erleben wir es oft, wie gegensätzlich wir sind: Sie ist ein Fels in der Brandung, der sich durch nichts erschüttern lässt – und er ist der quirlige Hans Dampf in allen Gassen. Das ist kein Widerspruch: Diesem konträren Verhalten liegt ein gemeinsames Thema zugrunde, das könnte durchaus ein ähnliches sein wie wir das beispielsweise bei den beiden Damen an der Kasse in Impuls Nr. 2 gezeigt haben. Und genau diese Gegensätze kommen uns beim verlorenen Selbst zu Hilfe.

Die Frau, die ihren Mann beim Verlieben durch ihre Ruhe und Besonnenheit so begeistert hat, hat vielleicht früh gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Wenn es Zoff im Büro gibt, will sie gar nicht weiter drüber reden. Das ist ihr verlorenes Selbst. Das verlorene Selbst des Mannes ist in diesem Beispiel diametral: Er wurde so geprägt, dass Gefühle gut sind und man sie zeigen muss. Was ihm fehlt, ist die Fähigkeit innezuhalten, nachzudenken und einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie erkennen bestimmt, wie schön sich die beiden ergänzen.

Solche Gegensätze führen jedoch zuerst einmal gerne in einen Konflikt: Sie ist eine Langweilerin und er eine Nervensäge, denn sie steigt nicht auf seinen Wunsch nach Abenteuer und Aktivität ein und er nicht auf ihr Bedürfnis nach Ruhe. Der Sinn einer Partnerschaft ist, dass beide die Chance nutzen und ihr verlorenes Selbst mithilfe des oder der anderen wiedererlangen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Wenn Sie sich am Bein verletzt haben und zwei Monate lang mit Krücken durch die Gegend humpeln mussten, werden Sie umfallen, wenn Sie von einem Tag auf den anderen die Krücken weglegen. Da ist es besser, Sie legen vorerst einmal nur eine weg. Doch wenn Sie sich Zeit lassen und langsam einen Schritt nach dem anderen tun, dann entwickeln Sie sich zu einem perfekten Team!

Liebe, wie geht's?

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