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1. Kapitel: Ein Toter im Haus der Gerichte

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Als sie um 7:30 Uhr zum Dienst fahren wollte, gelang es ihr nicht, den Schlüssel aus dem Schloss ihrer Wohnungstür zu ziehen, die sich schon seit einiger Zeit nur noch mit viel Feingefühl öffnen und schließen ließ. Durch die ungewöhnliche Hitze der vergangenen Wochen war vermutlich der Türrahmen verzogen. Hektisch drehte sie den Schlüssel hin und her und dann bewegte er sich gar nicht mehr. Die Tür war auf, der Schlüssel steckte von innen und die Entriegelung war ausgefahren. Es war klar, dass sie so nicht losfahren konnte – ausgerechnet heute würde sie nicht pünktlich im Dienst sein.

Ella Sturm war seit drei Tagen beim Landeskriminalamt. Sie hatte tatsächlich eine Stelle in der Mordkommission bekommen, oder richtig gesagt im Fachkommissariat Tötungsdelikte und Todesermittlungen. Neider gab es da genug. Ja, das war ihr größter Wunsch seit ihrer Ausbildung in der Polizeiakademie in Hamburg. Nach ihrem Studium kam sie zunächst in ein Kriminalkommissariat der regionalen Verbrechensbekämpfung. Es war Zufall und wohl auch Glück, dass sie nach nur einem Jahr bei der Mordkommission anfangen durfte, so wie sie es sich erträumt hatte.

Heute war ihr erster Bereitschaftsdienst. Die Mordbereitschaft bestand aus fünf Personen. Mit dem Ermittlungsleiter, Kriminalhauptkommissar Schlichting, ihrem direkten Chef, hatte sie in den letzten Tagen schon zu tun. Er wusste über alles Bescheid und kannte jeden persönlich, dem eine maßgebliche Rolle im Gefüge der Kripo zukam. Kein Wunder, er war schon ewig bei der Polizei und stand kurz vor seiner Pensionierung. Von ihm konnte sie sicher viel lernen. Einen besseren Chef hätte sie nicht bekommen können, da war sie sich schon nach den wenigen Tagen der Zusammenarbeit sicher. Zwei der anderen Kollegen der Rufbereitschaft waren ihr auch schon vorgestellt worden. Dem dritten, Kriminaloberkommissar Müller, war sie noch nicht begegnet.

Auf ihre WhatsApp-Nachricht, sie komme ein paar Minuten später, antwortete Schlichtung zunächst mit: „Hier ist alles ruhig.“

Bis der Mann vom Schlüsseldienst kam und glücklicherweise in wenigen Minuten das Problem lösen konnte, verging aber eine weitere dreiviertel Stunde. Sie saß gerade im Auto, als Schlichting sie anrief: „Ein Toter im Haus der Gerichte, wir sind schon unterwegs. Kommen Sie bitte auf schnellstem Weg direkt dorthin. Wir warten in der Eingangshalle. Sie wissen, wo das ist?“

Es waren zwar schon einige Jahre seit ihrem Studentenpraktikum im Haus der Gerichte vergangen. Aber das Gebäude und den Weg dorthin kannte sie noch genau. Auch das Praktikum selbst war für sie unvergesslich geblieben. Es waren nicht unbedingt positive, aber immerhin wichtige Erfahrungen über sich und ihre beruflichen Perspektiven, die sie veranlassten, ihr Jurastudium aufzugeben und zur Kripo zu gehen. Die Denkweise eines Juristen lag ihr offenbar nicht, das war klar geworden. Ihr Ausbilder hatte fast jedes Wort in den von ihr gefertigten juristischen Entwürfen auseinandergenommen und bemängelt. Mit der praktischeren Tätigkeit als Polizistin kam sie viel besser zurecht.

Auf der Ludwig-Ehrhardt-Straße in Höhe Rödingsmarkt zeigte ein rotes Licht auf der Tankuhr ihres Skoda an, dass das Benzin zur Neige ging. Bis zum Gericht würde sie es aber schaffen. Es war ohnehin aussichtslos, um diese Zeit in der Lohmühlenstraße oder der Umgebung einen Parkplatz zu ergattern. Ihr würde nichts übrigbleiben, als in die Tiefgarage des Hauses zu fahren und die Parkgebühren auf sich zu nehmen.

Die Justizangestellte, die im Register des Verwaltungsgerichts arbeitete, erkannte sie sofort und begrüßte sie freundlich, als sie direkt neben ihr aus dem Auto stieg. Ohne weiter nachzufragen, was Ella im Haus der Gerichte wollte, nahm sie sie im Aufzug aus dem Unterschoss mit bis in die Eingangshalle des Gebäudes. Dieser Weg war nur Mitarbeitern mit einer Sicherheitskarte frei zugänglich.

Als sich die Aufzugstür zur Halle öffnete, blickte Ella direkt auf eine Gruppe von Personen, die ihr den Rücken zuwandten und zum Eingang sahen, als würden sie jemanden von dort erwarten. Es waren Schlichting, die drei anderen Kollegen aus dem Fachkommissariat und zwei Polizisten in Uniform. Ella war klar, dass die Aufmerksamkeit ihrer Person galt und dass alle wie selbstverständlich davon ausgingen, sie würde durch den Haupteingang und nicht mit dem Aufzug aus dem Untergeschoss kommen. Auch wenn sie sich angesichts ihrer Verspätung eigentlich nicht noch mehr Beachtung gewünscht hätte, genoss sie ein wenig ihren Auftritt, als sich bei ihrem Gruß die ganze Gruppe wie auf ein Kommando umdrehte.

Müller, der Kollege, dem sie bisher noch nicht begegnet war, blickte demonstrativ auf seine Uhr, tickte mit dem Zeigefinger der rechten Hand leicht aufs Ziffernblatt und hielt sie dann an sein Ohr. Die anderen Anwesenden ignorierten seine Vorstellung. Er war hinlänglich als Nörgler gegenüber jedermann und insbesondere gegenüber jungen Kolleginnen bekannt. Ihn störte sein Ruf an sich nicht. Allerdings wollte er sich eigentlich in der nächsten Zeit ein wenig zurückzunehmen. Denn bald würde Schlichtings Stelle als Kriminalhauptkommissar frei werden und er, Müller, hatte gute Chancen, ihm nachzufolgen. Das wollte er sich nicht vermasseln. Vor allem dem Ermittlungsleiter gegenüber versuchte er einen guten Eindruck zu hinterlassen; denn dessen Kontakte, auch zur höheren Ebene, waren allgemein bekannt.

Müller war sich aber sicher, dass dieser Fall ihm keine Gelegenheit bieten würde, sich zu profilieren. Die beiden Polizeibeamten der PK 11, die am Morgen vom Präsidialrichter ins Gericht gerufen worden waren, hatten schon vor dem Eintreffen der neuen Kollegin berichtet, worum es ging. Einer der Richter war kurz vor halb neun Uhr in seinem Zimmer von einem Wachtmeister tot aufgefunden worden. Der wandte sich sofort an den Präsidialrichter. Ein zur Stelle gerufener Notarzt stellte den Tod, aber noch nicht sicher die Ursache dafür fest. Daraufhin informierte man die Polizei. Die Leute von der Spurensicherung waren schon vor Ort. So weit, so gut. Aus Müllers Sicht war der Aufwand, hier mit der gesamten Mannschaft der Rufbereitschaft und der Spusi aufzukreuzen, aber mehr als übertrieben. Denn auf dem Tisch des Toten waren zwei Adrenalin-Autoinjektionsspritzen gefunden worden, die bei schweren allergischen Reaktionen zum Einsatz kommen. Es lag auf der Hand, dass die Person einen allergischen Anfall hatte und nicht schnell genug darauf reagieren konnte. Diese Vermutung ließ sich auch darauf stützen, dass der Mann nach Angaben des Präsidialrichters ungefähr zwei Wochen zuvor während des Dienstes von einer Wespe gestochen worden war und daraufhin mit starker Atemnot reagiert hatte. Man hatte ihn deshalb in das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Krankenhaus St. Georg gebracht. Der Einsatz der Mordbereitschaft an diesem Tag würde deshalb vermutlich der einzige in der Sache bleiben.

Als Schlichting außer den kurz zusammengefassten Angaben des Polizisten auch die ihm schon bekannten weiteren Informationen vortrug, wurde Müller sofort klar, warum der Fall gleich so hoch gehängt worden war. Bei dem Toten handelte es sich um den Vorsitzenden am Verwaltungsgericht, Dr. Kaufmann. Der offensichtlich besonders korrekte Präsidialrichter rief nach der Feststellung des Notarztes sofort die Ehefrau des Toten an, eine nicht nur in Justizkreisen als äußerst penetrant bekannte Fachanwältin für Strafrecht. Diese äußerte, sie sei sicher, dass ihr Mann umgebracht worden sei und sie habe auch schon einen konkreten Verdacht. Danach wurde nicht nur sofort die Polizei über Notruf, sondern auch das Fachkommissariat Mordkommission telefonisch verständigt.

Als Ella Sturm den Namen des Toten hörte, schreckte sie zusammen und sie merkte, wie Hitze über ihren Hals ins Gesicht kroch. Sie kannte ihn. Es war der Mann, der sie während ihres Studentenpraktikums ausgebildet hatte. Ein ausgesprochen unangenehmer Zeitgenosse. Das war jedenfalls die einhellige Meinung aller Studenten, die zusammen mit ihr der Kammer zugeteilt waren. Wiederholt prangerte er die Fehler der Einzelnen vor versammelter Gruppe mit ironischen Bemerkungen an. Besonders war ihr eine Situation in Erinnerung geblieben, als er den Vortrag einer Referendarin in einer Besprechung vor der ganzen Kammer und den Studenten süffisant auseinandernahm. Als die junge Frau in Tränen ausbrach, schickte er sie gleich nach Hause und gab ihr mit, sie solle sich überlegen, ob der Beruf eines Juristen für sie das Richtige sei. „Werden Sie doch Grundschullehrerin oder noch besser Kindergärtnerin!“, war sein Rat.

Aber nicht nur den jungen Leuten gegenüber, die er ausbildete, verhielt er sich in dieser Weise. Auch in den mündlichen Verhandlungen führte er gern den einen oder anderen Rechtsanwalt oder Behördenvertreter vor. Ein Kläger, der sich traute, ohne Anwalt bei ihm zu erscheinen, hatte gar keine Chance. Dr. Kaufmann textete die nicht durch einen Juristen vertretenen Beteiligten mit Fachbegriffen zu und erreichte auf diese Weise in sehr vielen Fällen, dass die Leute ihre Klagen zurücknahmen und das völlig unabhängig davon, ob sie mit ihrem Vorbringen rechtlich eine Chance gehabt hätten oder nicht. Dies sah er auch noch als Erfolg seiner Arbeit an und er prahlte damit vor den Kollegen. Eines musste sie ihm allerdings zugutehalten: Er war nicht parteiisch. Er behandelte alle, Kläger, Beklagte, Anwälte, Behördenvertreter und Kollegen und andere Mitarbeiter in gleicher Weise. Ella nahm sich vor, bei der ersten Besprechung den anderen der Mordbereitschaft zu offenbaren, dass sie die Person persönlich kannte. Aber jetzt schien ihr das nicht der geeignete Moment zu sein.

Müller war Ellas Reaktion nicht entgangen: „Sie erschrecken ja schon, wenn Sie nur von einem Toten hören!“ Jung und hübsch zu sein mit hervorragenden Noten auf der Akademie reichte eben nicht aus, um gute Mordermittlungen zu führen. Nach seiner Meinung wurden oft die Falschen in ihr Fachkommissariat berufen. Die junge Kollegin, die gerade mal die geforderte Mindestgröße für Polizisten von 1,60 m erreicht haben dürfte und dazu noch die Figur einer 12-Jährigen hatte, gehörte augenscheinlich zu den Nichtgeeigneten.

„Na, das wird wohl nur einen kurzen Einsatz geben, es spricht ja alles für einen natürlichen Tod“, dieser Anmerkung der Kollegin von dem Felde, die an sich ebenfalls nicht Müllers Vorstellungen von einer guten Kripobeamtin entsprach, konnte er ausnahmsweise zustimmen.

„Wenn der Mann aufgrund eines allergischen Schocks gestorben sein sollte, wäre es zumindest ein Unfall und kein natürlicher Tod. Also haben wir ein Todesermittlungsverfahren und sind hier richtig am Platz.“ Schlichting blieb wie immer sachlich. „Wir gucken uns die Sache erst einmal und an, warten die nötigen Untersuchungen ab und entscheiden dann, wie wir weiter vorgehen wollen.“

***

Der Teil des Flurs, auf dem Dr. Kaufmanns Dienstzimmer lag, war vom vorbildlich agierenden Präsidialrichter bereits abgesperrt. Die Fenster standen auf beiden Seiten sperrangelweit auf. Der entstandene Durchzug kühlte den überhitzten Bereich ein wenig ab. Die anwesenden Richterkollegen hatte er in andere Räume umquartiert. Es handelte sich allerdings nur um wenige Personen. Dies lag zum einen daran, dass viele während der Sommerferien im Urlaub waren. Von den anderen waren noch lange nicht alle im Haus. Auf die erstaunte Nachfrage des Ermittlungsleiters gab der Präsidialrichter, Dr. Tobias Macke, ein auch aufgrund seiner Kleidung im Freizeitlook sehr sportlich wirkender Mittdreißiger, an, dass die Richter keine festen Dienstzeiten hätten und deshalb auch grundsätzlich frei entscheiden könnten, wann sie im Gericht erschienen. Ungefragt fügte er hinzu, dass viele auch zu Hause arbeiteten oder aber spät kämen, dann aber auch bis in die Abendstunden blieben. „Nein, für mich selbst als Präsidialrichter ist das nur eine theoretische Freiheit. Alle, die in der Präsidialabteilung arbeiten, kommen sehr früh.“ Mit einem bitteren Zug um den Mund ergänzte er: „Dafür bleiben wir umso länger.“

In dem recht großzügig geschnittenen Zimmer des Toten war es angenehm kühl. Die Leute von der Spurensicherung hatten die über Nacht heruntergelassenen Außenrollladen erst bei ihrem Eintreffen geöffnet, um besser sehen zu können. Neben dem Schreibtisch war der Raum mit einem ovalen Tisch und sechs Stühlen, einem Sofa, einem Schrank und einigen Regalen ausgestattet. Der Schreibtisch stand direkt vor dem gegenüber der Tür liegenden Fenster, durch deren stark verschmutzte Scheibe man auf den Innenhof des Gebäudes blicken konnte. Vermutlich waren die Fensterputzer mal wieder nicht gekommen. In dieser Hinsicht schien sich seit Ellas Praktikumszeit nichts geändert zu haben. Auf dem Tisch lag dicht bei den zwei Adrenalin-Autoinjektionsspritzen eine Apothekentüte. Der Telefonhörer mit den Muscheln nach oben befand sich vor den Medikamenten. Der Tote war zwischen dem nach hinten in Richtung Tür gerollten Stuhl und dem Schreibtisch zusammengesackt. Dabei hatte er offenbar den vollen Papierkorb umgestoßen und der Inhalt breitete sich unter und vor dem Tisch aus. Der Ellenbogen seines rechten Arms berührte noch die vordere Tischseite. Seine Füße waren eingeknickt und er kniete beinahe auf dem Boden. Sein Kopf hing zur linken Seite geneigt, sodass das Ohr fast die Schulter berührte. Die Gürtelschnalle seiner Hose war gelöst. Das weiße Hemd des Toten hing heraus. Zwischen ihm und dem Stuhl klemmte ein heruntergerutschtes, ballförmiges Sitzkissen.

„Hat der Notarzt den Verstorbenen überhaupt angefasst?“ Diese von Kriminalobermeister Lukas, dem dritten Mann der Mordbereitschaft, gestellte Frage drängte sich angesichts der Position der Leiche auf. Der bei der Untersuchung nicht anwesende Präsidialrichter konnte sie nicht beantworten. „Er war nicht lange im Zimmer und hat gleich gesagt, dass Dr. Kaufmann tot ist und er die genaue Ursache nicht feststellen könne.“

Um den Leuten von der Spurensicherung nicht weiter im Wege zu sein, zog sich die Gruppe der Kripobeamten zu einer ersten Besprechung in das ihnen zur Verfügung gestellte geräumige Dienstzimmer des urlaubsbedingt abwesenden Präsidenten zurück.

Sie saßen kaum, als Schlichtings Handy klingelte. Nach dem Telefonat konnte er den anderen schon einige Feststellungen der Spurensicherung mitteilen: „Die beiden Adrenalinspritzen sind leer, sie wurden schon benutzt, vermutlich vom Toten selbst. Darüber hinaus lag im Bezug des Sitzkissens eine plattgedrückte Wespe.“

Müller grinste: „Damit haben wir den Täter ja schon, ein schwarzgelb geringeltes Insekt. Da es nicht mehr lebt, können wir die Ermittlungen gleich einstellen. Denn“, er wandte sich wie erklärend Ella zu „gegen Tote werden keine Ermittlungen mehr geführt. Spaß beiseite. Es ist doch wohl klar, dass wir hier einen Unfall haben. Dr. Kaufmann war Allergiker. Er setzte sich auf das Kissen, in das eine Wespe gekrabbelt war und wurde von ihr in den Allerwertesten gestochen. Er benutzte die Spritzen, die ihm aber offenbar nicht mehr halfen. Klappe zu, Affe tot.“

„Ganz so schnell geht es leider nicht“, Schlichting war etwas ungehalten, weil Müller ihn unterbrochen hatte und weil er viel zu schnell und unüberlegt eine Lösung präsentierte. „Es stimmt, Vieles spricht hier für einen Unfall. Aber wir wissen alle, dass die Ermittlungen der ersten 48 Stunden ausschlaggebend dafür sind, ob ein Täter gefasst werden kann, wenn es denn einen gibt. Ob Dr. Kaufmann gestochen wurde oder nicht, wird die Obduktion ebenso ergeben wie die Antwort auf die Frage, ob er die Spritzen benutzt hat bzw. wieso die ihm nicht geholfen haben. Ich war im Übrigen auch noch nicht fertig mit meiner Zusammenfassung. Die Telefonschnur war aus dem Stecker gerissen. Wie und wann das passieren konnte, müssen wir erst noch feststellen.“ Seine Erklärungen wurden erneut unterbrochen, diesmal durch ein Klopfen an der Tür. Auf sein „Herein“ trat Macke ein: „Entschuldigen Sie die Störung. Frau Bader-Kaufmann ist hier. Sie ist im Vorzimmer und will unbedingt zu ihrem Mann.“

Schlichting folgte dem Präsidialrichter und kam wenige Minuten später wieder zurück. Er hatte die Anwältin davon überzeugen können, nicht in das Dienstzimmer des Verstorbenen zu gehen und ihr zugesagt, ihre Aussage sofort aufzunehmen. „Die Kolleginnen Sturm und von dem Felde werden alle diejenigen anhören, die auf dem Flur ihre Zimmer haben und vor Eintreffen des Notarztes schon hier waren. Ihr beide“, er wandte sich an Lukas und Müller“, nehmt euch den Präsidialrichter noch einmal vor und den Wachtmeister, der die Leiche gefunden hat. Ich kümmere mich um Frau Bader-Kaufmann. Noch irgendwelche Fragen?“

Ella Sturm meldete sich zu Wort: „Ich kenne den Toten. Während meines Jurastudiums habe ich bei ihm ein Praktikum gemacht.“ Keiner schien sich für diese Auskunft zu interessieren. Schlichting redete mit Müller, Susan von dem Felde packte ihre Zettel zusammen und sah auf die Uhr. Lukas blickte auf sein Handy. Lag es vielleicht daran, dass man sie als Neuling noch nicht für voll nahm oder war es einfach nur ein ungünstiger Zeitpunkt für eine solche Erklärung? Jetzt nickte Schlichting ihr zu: „Danke für die Information.“ Ella bezweifelte, dass der Ermittlungsleiter ihr überhaupt zugehört hatte. Sie packte ebenfalls ihre Notizzettel zusammen und verließ nach den anderen das Präsidentenzimmer.

***

Susanne Bader-Kaufmann sah aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gefallen. Ihre dunkelblonden, sonst geschickt im Nacken zu einem Knoten zusammengefassten Haare standen wild um ihren Kopf. Sie war ungeschminkt und sah blass aus. Ihre Kleidung wirkte ungepflegt. Das lange blaue T-Shirt wies direkt auf ihrem rechten Busen einen deutlichen dunkelroten Fleck auf, der nach Rotwein aussah. Der fiel besonders dadurch auf, dass sie trotz ihrer üppigen Oberweite keinen BH trug, was den Blick des Gegenübers nahezu automatisch genau auf diese Stelle schweifen ließ. Ihre labberigen Jeans hatten am Knie einen Riss, der erkennbar nicht zum Look der Hose gehörte. Die runtergelatschten Joggingschuhe waren dreckig.

Schlichting empfand ein wenig Mitleid. Die Frau war offenkundig von der Todesnachricht vollkommen überrumpelt worden. Er war ihr schon mehrfach begegnet. Das erste Mal war sie Nebenklägervertreterin der Eltern eines Totschlagsopfers im Strafprozess. Die Ermittlungen seines Teams hatten zur Anklage geführt. Damals war er von ihrem brillanten Auftreten begeistert gewesen. Ihre Fragen an den Angeklagten und die Zeugen und auch ihr Plädoyer waren messerscharf und überzeugend. Auch von ihrer äußeren Erscheinung entsprach sie in diesem Prozess voll und ganz dem Bild einer seriösen Juristin.

Bei ihrer nächsten Begegnung imponierte sie dem Ermittlungsleiter allerdings weit weniger. Sie war wieder in einem Totschlagsprozess als Anwältin aufgetreten, diesmal aber nicht aufseiten des Opfers bzw. der Angehörigen, sondern als Verteidigerin des Angeklagten. Schlichting konnte nicht begreifen, wie ein und dieselbe Person in nahezu gleichgelagerten Fällen derart unterschiedliche Positionen vertreten konnte. Alles, was sie im ersten Prozess – aus seiner Sicht zurecht – angeprangert und verurteilt hatte, deckte sie nun mit dem Mantel der Nächstenliebe zu. Das Opfer spielte in ihren Argumenten kaum noch eine Rolle. Es ging nur noch um den armen Angeklagten. Wenn man ihren Worten gefolgt wäre, waren nicht er, sondern ausschließlich andere schuld an der Tat, seine Eltern, die Schule, die gesamte Gesellschaft. Schlichting erinnerte sich auch deshalb besonders gut an das Auftreten der Advokatin, weil er am selben Abend zu Hause davon erzählte und es danach zu einem heftigen Streit zwischen ihm und seiner Ehefrau kam. Diese neigte aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit als Krankenschwester dazu, stets die Position der vermeintlich Schwächeren einzunehmen und warf ihm vor, er würde bedingt durch seinen Beruf nur das Schlechte in den Straftätern sehen und andere Ursachen für deren Handeln völlig ignorieren. Im Stillen wusste er, dass sie in diesem Punkt nicht ganz unrecht hatte. Vermutlich gerade deshalb war ihm diese Diskussion und auch der Anlass dazu in unguter Erinnerung geblieben.

„Ich nehme an, Sie kennen mich“, Bader-Kaufmann verlieh ihrer Stimme wieder genau den gleichen Tonfall wie in den Prozessen, in denen Schlichting ihre Auftritte verfolgt hatte. „Ich bin Fachanwältin für Strafrecht und kenne mich mit Tötungsdelikten aus“, sie lachte gepresst, „wenn auch bisher nicht im privaten Bereich. Wie ich dem jungen Mann, der mich vorhin anrief, bereits erläutert habe, bin ich mir sicher, dass mein Mann keines natürlichen Todes gestorben ist. Er war kerngesund. Und ich habe auch einen konkreten Verdacht, wer für seinen Tod verantwortlich ist.“

Schlichting war etwas irritiert. Nachdem Dr. Kaufmann gerade vor etwa zwei Wochen nach einem Wespenstich ins Krankenhaus gebracht und Medikamente gegen allergische Reaktionen auf seinem Tisch gefunden worden waren, musste sie doch eins und eins zusammenzählen können? Vermutlich hatte der Präsidialrichter ihr nichts von den Adrenalinspritzen erzählt, es vielleicht in der Aufregung vergessen. Wahrscheinlicher schien es ihm jedoch, dass Bader-Kaufmann ihn nicht hatte ausreden lassen. Schlichting entschied im Stillen, ebenfalls mit dieser Einzelheit ihr gegenüber vorerst hinter dem Berg zu bleiben: “Gegen wen richtet sich ihr Verdacht?“

„Hajo Steinhagen“, Bader-Kaufmann blickte in das fragende Gesicht ihres Gesprächspartners. „Sie scheinen den Herrn nicht zu kennen. Er ist Rechtsanwalt. Sie wollen sicher den Grund für meinen Verdacht wissen. Nun“, sie atmete hörbar durch die Nase ein, „da muss ich etwas ausholen.“ Der Ermittlungsleiter vermied es auf die Uhr zu sehen. Er erinnerte sich an die Plädoyers der Anwältin in den Strafprozessen. Kurze Ausführungen gehörten nicht zu ihren Stärken. Es schien ihm aber klüger zu sein, sie nicht zu unterbrechen.

„Steinhagen war Studienkollege meines Mannes. Bis vor etwa einem Jahr haben wir uns sogar ab und zu privat mit ihm und seiner Frau getroffen. Dann ging in seinem Leben einiges schief. Er schied aus der angesehenen Sozietät Bolthagen & Partner aus und wurde Einzelanwalt. Die Gründe kenne ich nicht. Aber die kann man ja erfragen. Ich bin mir sicher, dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Seine neue Kanzlei lief offenbar schlecht. Er konnte wohl nicht viele Mandanten aus seiner Sozietät mitnehmen. Hinzu kam, dass er und seine Frau sich plötzlich trennten. Man munkelt, dass er sie auszahlen musste und ihm danach kaum etwas vom gemeinsamen Vermögen blieb. Er scheint dann abgerutscht zu sein. Es ist noch nicht lange her, da soll er mit einer Alkoholfahne in einem Prozess aufgetreten sein und anschließend von der Anwaltskammer eine Rüge bekommen haben. Wir haben deshalb einen weiteren privaten Kontakt mit ihm vermieden.

Schlichting wurde nun doch etwa ungeduldig. „Das alles hat doch aber nichts mit dem Tod Ihres Gatten zu tun.“

„Das war ja nur die Vorgeschichte, damit sie die Hintergründe besser verstehen. Gestern Abend nahm ich einen Anruf Steinhagens bei uns zu Hause entgegen. Er wollte meinen Mann sprechen. Wir reden an sich nie über die Fälle, die wir zu bearbeiten haben. Gestern machten wir eine Ausnahme. Ich war im selben Zimmer, als beide sich am Telefon stritten oder besser gesagt, heftig diskutierten. Schließlich legte mein Mann einfach auf und erzählte mir anschließend von sich aus verärgert, was vorgefallen war. Steinhagens Anruf betraf eine Verhandlung, die heute früh stattfinden sollte. Er hatte für einen gewichtigen Mandanten in einer Sache Klage erhoben, bei der es um mehrere Hunderttausend Euro ging. Da hätte er natürlich Einiges an Anwaltsgebühren verdienen können. Leider hatte er die Frist, in der er die Klage erheben muss, nicht eingehalten. Mein Mann als zuständiger Richter musste die Klage schon aus diesem Grunde abweisen und bestimmte daher anders als sonst üblich sehr schnell einen Termin. Deshalb ahnte Steinhagen wohl, dass die Sache nicht gut für ihn ausgehen würde und er wollte meinen Mann zu einer anderen Entscheidung überreden. Er behauptete ihm gegenüber, dass er sonst ruiniert sei.

„Und auf welche Weise soll er Ihren Gatten ihrer Meinung nach umgebracht haben?“

„Es ist Ihre Aufgabe und nicht meine, das herauszubekommen. Ich habe Ihnen einen Verdächtigen präsentiert. Jetzt sind Sie dran!“ Bader-Kaufmann stand auf und gab zu erkennen, dass sie ihren Ausführungen nichts mehr hinzufügen würde. Sie hatte ihre Fassung wiedergefunden.

Ein Toter im Haus der Gerichte

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