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4. Kapitel: Steinhagen wird beschuldigt

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Jan saß im kombinierten Schlaf-Arbeitszimmer am Schreibtisch und lernte. Vor ihm lag eine 250-g-Tafel Schokolade der Marke Marabou, schon zur Hälfte verzehrt. Ella warf sich aufs Bett. Es war heiß und stickig im Zimmer. Am Abend war ein Wärmegewitter zu erwarten, das hoffentlich ein wenig Abkühlung bringen würde. Schlichting hatte sie nach Hause geschickt: „Nutzen Sie die Ruhe vor dem Sturm, Frau Sturm. Nach Steinhagens Vernehmung, die sicher eine Weile dauern wird, treffen wir uns um 17:00 Uhr noch einmal zu einer kurzen Besprechung.“ Er und Müller, die beiden alten Hasen in der Mordkommission, wollten den Anwalt als Beschuldigten vernehmen.

Jan büffelte für die Klausuren im Zweiten Staatsexamen. Ella und er kannten sich seit Beginn ihres Jurastudiums in der Uni. Das war jetzt sieben Jahre her. Seit einiger Zeit bewohnten sie eine gemeinsame Wohnung in Rissen.

„Und, wer ist der Mörder, der Anwalt oder die Wespe?“ Jan stopfte sich noch ein weiteres Stück Schokolade in den Mund und drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl zu Ella um. Seine Laune war seit einigen Wochen immer schlechter geworden, was sich in zynischen Bemerkungen über alles und jeden ausdrückte. Sein Wunsch, nach seinen Prüfungen in die Ordentliche Gerichtsbarkeit, Zivilsachen, zu gehen, hing maßgeblich von den Noten ab. Ohne Prädikat brauchte er sich da gar nicht erst zu melden. Einen Plan B, für den Fall, dass das Examen nicht so gut laufen würde, hatte er immer noch nicht.

„Heute Nachmittag wird der Anwalt vernommen. Es besteht jetzt gegen ihn ein Anfangsverdacht. Wir müssen sehen, wie es dann weitergeht.“ Vor Abschluss der Ermittlungen durfte Ella an sich nichts, aber auch gar nichts über ihre Fälle ausplaudern. Auch nicht gegenüber ihrem Freund. Das hatte man ihr schon im Studium eingeimpft und Schlichting wiederholte es, als sie in der Mordkommission anfing. Aber an diese Anweisung hielt sich eigentlich keiner. Jeder behauptete es zwar steif und fest, wenn er gefragt wurde. Aber zumindest zu Hause wurde offen darüber geplaudert. Nur erwischen lassen durfte man sich natürlich nicht dabei. Ella hoffte inständig, dass ihre Bitte: „Das darfst du natürlich niemandem erzählen“, von Jan auch ernst genommen wurde.

„Ich verstehe nicht, warum ihr den Mitarbeitern im Gericht keine Fingerabdrücke abnehmt. Die wären mit Sicherheit freiwillig dazu bereit,“ Jan kannte mal wieder die einzig wahre Lösung. Ella hielt es für besser, sich dazu nicht zu äußern. Ohnehin meinte ihr Freund, dass das Zivilrecht die Krönung der Juristerei sei. Von Strafrecht hielt er nichts. „A schlägt B auf den Kopf. B ist tot. Da lautet die hochkomplizierte Frage: Hat sich A strafbar gemacht und ggf. wie?“, war einer seiner Lieblingssprüche. Neulich erntete sie bei einem Treffen mit Freunden einige Lacher mit ihrer Bemerkung: „Nun, man muss erst einmal A finden! Das ist im wahren Leben anders als bei den von dir bearbeiteten Papiertigern.“ Als sie wieder zu Hause waren, warf ihr Jan vor, sie würde ihn vor den Freunden lächerlich machen. Dabei war er es, der ihre Arbeit ständig als minderwertig hinstellte, jedenfalls im Vergleich zu seiner Tätigkeit als Jurist. War das wirklich der Mann, mit dem sie eine Familie gründen und Kinder bekommen wollte? War ihre Idee richtig, demnächst – das heißt, nach Jans Examen – solle sie schon mal die Pille absetzen, um es ‚darauf ankommen zu lassen‘? Seit diesem Plan hatte Ella schon mehrfach ‚vergessen‘, die Pille zu nehmen, bisher ohne Folgen. Sie nahm sich vor, noch einmal in Ruhe über all das nachzudenken, bevor es zu spät sein würde.

Natürlich, Jan hatte auch seine guten Seiten, sonst wären sie nicht schon so lange zusammen. Er machte ihre Arbeit auch nicht ständig schlecht, ganz im Gegenteil. Als sie vor einigen Tagen zu einer Geburtstagsparty eines Studienkollegen eingeladen waren, fragte der sie bei der Begrüßung: „Und, was machst du so? Auch Juristin im Examensstress?“ Mit einem leichten Glitzern in den Augen antwortete Jan an ihrer Stelle: „Ella ist Kriminalkommissarin beim Landeskriminalamt, Mordkommission.“ Sie hatte tatsächlich den ganzen Abend das Empfinden, dass die Anwesenden, die meisten davon waren Juristen, sie mit einer gewissen Ehrfurcht betrachteten, was Jan mit sichtbarem Stolz genoss.

***

„Gegen Sie besteht der Verdacht, den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht, Dr. Kaufmann, vorsätzlich getötet zu haben …“ Schlichting ignorierte, dass Steinhagen die Hand hob und abwinkte, und führte die Belehrung über dessen Verfahrensrechte zu Ende. Ihm war klar, dass der Anwalt seine Rechte auch ohne entsprechende Hinweise kannte. Aber er wusste sicher auch, wie er eine fehlende Belehrung zu seinem Vorteil ausnutzen könnte.

„Ich möchte aussagen und brauche keinen Anwalt. Das bin ich selber.“ Durch sein breites Grinsen wurden Steinhagens schiefe Schneidezähne sichtbar.

Müller betrachtete sein Gegenüber eingehend. Der hatte als Kind eindeutig keine Klammer getragen. Sein Äußeres ließ auch sonst zu wünschen übrig. Die Halbschuhe sahen so aus, als wäre er vorher durch einen staubigen Sandweg gelaufen. Es lohnte sich wohl nicht, die schiefen Hacken noch einmal besohlen zu lassen. Er trug ein braunes, für diese Jahreszeit und die hochsommerlichen Temperaturen viel zu warmes Tweed Sakko und dazu ein lilafarbenes Hemd. Seine dünnen Haare waren in Strähnen über den kahlen Teil seines Schädels geklebt. Sie hatten schon lange kein Shampoo mehr gesehen.

Steinhagen begann seine Ausführungen mit einer ausführlichen Darstellung seiner Klage vor dem Verwaltungsgericht und über das Telefonat mit seinem ehemaligen Studienfreund am Abend vor dessen Tod.

„Und lebt der Vater Ihrer Mitarbeiterin noch?“ Müller konnte sich diese Zwischenfrage nicht verkneifen, als der Anwalt erläuterte, warum seine sonst so zuverlässige Anwaltsgehilfin die Klage nicht rechtzeitig zur Post gebracht habe.

„Wenn Sie in einem Strafprozess als Richter oder Schöffe eine solche Frage gestellt hätten, würde ich Sie sofort als befangen ablehnen.“ Steinhagen ließ wieder seine schiefen Vorderzähne sehen. Vielleicht unterschätzte Müller den Anwalt. Er murmelte so etwas wie eine Entschuldigung.

Schlichting führte die Vernehmung fort, ohne sich anmerken zu lassen, dass er über dieses Zwischenspiel nicht gerade begeistert war: „Das war Ihr letzter Versuch, die Sache mit Dr. Kaufmann außerhalb der Verhandlung zu besprechen?“

Der Anwalt fiel auf diese Finte nicht rein. Ihm war klar, dass der Präsidialrichter befragt und über ihr Treffen auf dem Flur berichten würde oder dass dies sogar bereits geschehen war: „Ich habe versucht, von dem Fernsprecher, der sich vor den Richterfluren befindet, Dr. Kaufmann in seinem Zimmer anzurufen. Das Gerät gab aber keinen Piep von sich. Ich weiß nicht, ob es kaputt war oder ob das Telefon in Kaufmanns Zimmer nicht funktionierte. Genau in diesem Moment kam Macke aus dem Aufzug. Ich habe kurz mit ihm gesprochen und so etwas wie: Ich wollte zu Kaufmann, der meldet sich aber nicht, gesagt. Macke ließ mich dann in den Flur. Die Tür zu Kaufmanns Zimmer war leider verschlossen. Das muss so gegen 8:00 Uhr gewesen sein. Ich habe dann den Richterflur verlassen und bin zu dem Saal gegangen, in dem die mündliche Verhandlung stattfinden sollte. Dort habe ich gewartet.“

„Haben Sie irgendjemanden auf den Richterflur oder vor dem Sitzungssaal gesehen?“

„Auf dem Richterflur war niemand. Es war ja auch noch sehr früh, die Richter kommen meist erst später …“ Schlichting winkte ab, als Steinhagen Luft holte, um zu diesem Punkt noch weitere Ausführungen zu machen.

„Etwa 8:15 Uhr ging ein Wachtmeister am Sitzungssaal vorbei. Den Mann kenne ich schon lange. Sörensen heißt er. Er hatte Kaufmann auch noch nicht gesehen, versprach aber, sich nach ihm zu erkundigen. Ein paar Minuten später kam er zurück und sagte mir, dass der Vorsitzende noch nicht da sei.“

„Und wie ging es weiter? Wie haben Sie sich verhalten, als Kaufmann nicht zur Verhandlung erschien?“

„Ich habe bis ungefähr 9:00 Uhr gewartet. Als ich mich gerade erkundigen wollte, wo der Richter blieb, kam die Geschäftsstellenverwalterin. Ich habe gleich gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich glaube, sie hatte geweint. Sie erzählte mir dann, dass die Sitzung ausfallen müsste, weil der Richter in seinem Zimmer zusammengebrochen sei und man einen Arzt geholt habe. Ich habe dann noch einmal nachgefragt. Die junge Frau – mir ist der Name nicht geläufig – hat mir dann unter Tränen erzählt, dass Kaufmann tot sei.“

Schlichting blickte dem Anwalt direkt ins Gesicht: „Als wir gestern miteinander telefonierten, taten Sie überrascht und betroffen, als ich Ihnen erzählte, Kaufmann sei gestorben. Jetzt hört es sich so, als hätten Sie das schon vor unserem Gespräch erfahren. Können Sie mir das erklären?“

Steinhagen zuckte mit den Schultern und zeigte seine schiefen Vorderzähne: „Da haben Sie meine Reaktion wohl falsch interpretiert. Ich war betroffen, ja, aber nicht überrascht. Wie gesagt, ich wusste es schon.“

Steinhagen ließ sich ohne Einwände nach der Vernehmung die Fingerabdrücke abnehmen.

***

Benjamin Lukas’ Handy klingelte. „Meine Frau, da muss ich rangehen.“ Er stand auf und ging in den Flur vor dem Besprechungsraum. Svenjas hysterisch klingende Stimme am anderen Ende der Leitung war aber auch durch die Tür von allen anderen Ermittlern gut zu vernehmen, die angesichts der ihnen aufgezwungenen, sehr privaten Informationen mehr oder weniger peinlich berührt ins Leere blickten. Es ging um ihre Schwangerschaft. Sie hatte offenbar Wehen bekommen und weinte.

„Fahr nach Hause und kümmere dich um deine Frau, keine Widerrede.“ Schlichting ließ Lukas gar nicht wieder Platz nehmen, „das schaffen wir heute auch allein. Du meldest dich!“

„Das ist nun schon mindestens das dritte Mal. Jedenfalls habe ich drei solcher Anrufe von ihr mitbekommen. Es ist mit Sicherheit wieder falscher Alarm.“ Müller wartete mit seinem Kommentar immerhin den Abgang seines Kollegen ab.

„Das wollen wir alle hoffen. Aber er geht lieber einmal zu oft nach Hause als einmal zu wenig. Es ist die erste Schwangerschaft seiner Frau und auch die erste, die er als Vater miterlebt! Falls etwas passieren sollte und wir schnell tätig werden müssen, holen wir einen anderen Kollegen ins Boot. Fertig sind wir mit unseren Ermittlungen jedenfalls noch nicht.“ Schlichtings ließ keinen Einwand aufkommen.

Die nächsten Tage würden für alle der Kommission arbeitsreich werden. Der Vergleich der Fingerabdrücke auf dem Adrenalinpen mit den von Steinhagen abgegebenen Abdrücken würde sicher am nächsten Morgen vorliegen. Von dem Ergebnis hing es ab, ob alle Personen, die Zutritt zum Zimmer des Toten hatten, befragt werden müssten.

„Soweit ich weiß, können alle diejenigen, die im Verwaltungsgericht arbeiten, mit ihrem Schlüssel in jedes Zimmer. Nur wenige schutzwürdige Räume haben besondere Schlösser.“ Ella berichtete ausführlich über ihre Erfahrungen während ihres Studentenpraktikums. Das lag zwar schon einige Jahre zurück. Aber auf Nachfrage im Gericht war ihr mitgeteilt worden, dass sich insoweit nichts geändert hatte.

„Verstehe ich das richtig? Alle Mitarbeiter des Gerichts einschließlich der Schreibkräfte, der Geschäftsstellen und der Wachtmeisterei haben freien Zutritt zu den Zimmern?“ Susan von dem Felde meldete sich selten bei den Besprechungen zu Wort. Sie hoffte, in den nächsten Tagen, während ihre Kinder beim Vater sein würden, ihr Privatleben wieder in bessere Bahnen lenken zu können. Arbeit bis in die Abendstunden konnte sie da nicht gebrauchen.

„Hinzu kommt noch das Reinigungspersonal. Wie viele Personen das genau sind, weiß ich jetzt nicht. Selbst wenn wir diejenigen nicht mitrechnen, die zurzeit im Urlaub sind, käme da Einiges auf uns zu.“ Schlichtings Antwort war nicht das, was Susan hören wollte.

„Um die Zeit nicht zu verplempern, müssen wir uns morgen früh noch einmal den Wachtmeister vornehmen, der Kaufmann gefunden hat. Bin gespannt, ob der Steinhagens Aussage bestätigen kann. Und dann natürlich die zuständige Geschäftsstellenmitarbeiterin. Die beiden Richter aus Kaufmanns Kammer haben wir auch noch nicht vernommen. Das sind die Proberichterin Frau Pottschmidt und ein Herr Herzog. Vielleicht erfahren wir von denen auch etwas über das Verhältnis zwischen Kaufmann und Steinhagen. Es wäre gut, wenn alle freiwillig ihre Fingerabdrücke abgeben würden … für den Fall, dass die Abdrücke auf dem Pen nicht von Steinhagen stammen sollten.

Ein Toter im Haus der Gerichte

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