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2. Kapitel: Mord oder Todesermittlungssache?

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Steinhagen lenkte seinen geleasten Mercedes der E-Klasse auf den Parkplatz vor seiner Anwaltskanzlei. Sein Sakko lag auf dem Beifahrersitz, daneben die Krawatte. Die Klimaanlage war wegen der schon jetzt heißen Temperatur auf achtzehn Grad eingestellt. Er fühlte sich wie befreit. Nach dem am Vorabend geführten Telefonat mit Dr. Kaufmann hatte er in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Denn der hatte ihm klipp und klar erklärt, dass er die Klage allein deshalb abweisen würde, weil sie einen Tag zu spät im Gericht eingegangen war. Schon seit er ungewöhnlich schnell zur mündlichen Verhandlung geladen worden war, ahnte der Anwalt, dass sein früherer Studienfreund es sich in diesem Fall leicht machen wollte. Deshalb versuchte er mehrfach, ihn telefonisch im Gericht zu erreichen, um ihm den Fall aus seiner Sicht zu erläutern. Die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle, die das Telefonat zu dem Vorsitzenden durchstellen sollte, erklärte jedes Mal, dass der nicht in seinem Zimmer sei. Steinhagen war sich aber sicher, dass er seinen Anruf nur nicht entgegennehmen wollte. Zu guter Letzt rief er bei den Kaufmanns zu Hause an. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die von ihm schon vorgetragenen Gründe für die verspätet erhobene Klage nicht akzeptiert würden: „Meine Anwaltsgehilfin Frau F., die ich gut eingearbeitet und ständig kontrolliert habe und der sonst noch nie ein Fehler unterlaufen ist, hat versehentlich den Umschlag mit der Klage, den sie in den Gerichtskasten einwerfen sollte, auf ihrem Tisch liegen lassen, um zu ihren Eltern zu eilen. Kurz zuvor hatte ihre Mutter ihr telefonisch mitgeteilt, dass es ihrem seit Monaten schwerkranken Vater sehr schlecht gehe.“

Die Mitarbeiterin versicherte diese Erklärung sogar an Eides statt. Eine solche oder ähnliche Begründungen wurden bei verfristeten Klagen sehr oft abgegeben und von den Gerichten so gut wie immer anerkannt.

Kaufmanns sah das anders: „Die Geschichte glaubst du doch selbst nicht, Hajo. Es ist kein Geheimnis, dass du deinen Laden nicht mehr im Griff hast. Nun muss auch noch dein Vorzimmermädchen dafür herhalten und du lässt sie eine falsche Eidesstattliche Versicherung abgeben. Ich rate dir, die Klage zurückzunehmen, um nicht alles noch schlimmer zu machen.“ Als der Anwalt ihm erklären wollte, was das für Folgen für ihn und seine Kanzlei hätte, legte sein Gesprächspartner einfach auf. Dem war selbstverständlich auch ohne weitere Erläuterung klar, dass die Klägerin ihren Bevollmächtigten mit Schadensersatzforderungen überziehen würde. Es ging um die Rückforderung einer Subvention über 400.000 Euro, und der zuständigen Behörde war dabei nach Steinhagens Meinung ein gravierender Fehler unterlaufen. Er hätte den Prozess so gut wie sicher gewonnen, wenn er nicht schon wegen der Versäumung einer Frist abgewiesen würde. Es war Kaufmann aber offensichtlich vollkommen egal, wenn er ihn mit seiner Entscheidung ruinierte.

Dessen Tod änderte alles. Ein anderer Kollege würde die Sache übernehmen und Steinhagen glaubte fest daran, dass er mit seinem Vortrag dann Erfolg haben würde.

Der Klingelton seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. „Gut, dass ich Sie so schnell erreiche. Schlichting hier, Kriminalhauptkommissar, Landeskriminalamt. Wir ermitteln im Falle des Todes des Vorsitzenden Richters am Verwaltungsgericht, Dr. Kaufmann. Sie waren heute früh zu einer Verhandlung bei ihm geladen?“

„Was, Dr. Kaufmann ist tot? Wie ist das möglich? Wir waren Studienfreunde und gut miteinander bekannt. Es stimmt, ich sollte heute mit ihm verhandeln. Die Sitzung wurde dann aber kurzfristig abgesetzt.“

Die Fragen, die die Kripo ihm stellen wollte, hatten Zeit bis zum nächsten Tag und er sagte zu, um 14:00 Uhr beim Landeskriminalamt am Bruno-Georges-Platz zur Vernehmung zu erscheinen.

***

Susan von dem Felde hoffte inständig, dass das Todesermittlungsverfahren ´Ein Toter im Haus der Gerichte` mit der am Nachmittag anberaumten Besprechung im LKA sein Ende finden würde. Ihr Sohn musste am nächsten Tag zur Feriennachhilfe in Englisch und es wäre sicher gut, wenn sie ihm wenigstens einmal vorher die Vokabeln abhören würde, die der Nachhilfelehrer ihm zum Lernen aufgetragen hatte. In der Grundschule war Leon der beste Schüler in der Klasse gewesen. Seit Susans Scheidung vor drei Jahren ließen seine schulischen Leistungen deutlich nach. Jetzt stand in seinem Zeugnis im Fach Englisch eine Fünf und er wurde mit Ach und Krach versetzt. Hinzu kam die Pubertät. Von dem Felde glaubte bei der Trennung von ihrem Ehemann, dass die Kinder aus dem Gröbsten raus seien und sie alles gut allein wuppen würde. Die finanziellen Sorgen hielten sich angesichts der Unterstützung ihrer Eltern tatsächlich in Grenzen. Auch ihre Wohnsituation war akzeptabel: Ihr Ex-Mann überließ ihr die Doppelhaushälfte, die sie gemeinsam vor zehn Jahren in Halstenbek nahe Hamburg gebaut hatten. Aber die Sorgen mit den Kindern beanspruchten sie doch sehr. Kaum lief es mit dem einen gut, machte der andere Probleme. Gerade in letzter Zeit musste sie wiederholt an die gern zum Besten gegebene Weisheit ihrer Mutter ´kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen`, denken. Ihren Wunsch, sich nun endlich einen neuen Partner zu suchen, mit dem alles besser laufen sollte als in ihrer verkorksten Ehe, konnte sie deshalb bisher nicht verwirklichen.

Heute früh, bei ihrem Einsatz im Bereitschaftsdienst, war sie noch guter Dinge, dass es bei einem Todesermittlungsverfahren bleiben würde, das schnell aufgeklärt wäre. Die Vernehmungen bzw. Anhörungen der Kollegen des Toten im Gericht, die sie zusammen mit Ella Sturm durchführen musste, sprachen auch dafür. Keiner von denen hatte irgendetwas Besonderes gesehen oder gehört. Niemand benahm sich bei seiner Aussage auffällig. Alle machten einen ehrlich betroffenen Eindruck.

Müller und Lukas schienen ihrem Verhalten nach auch nicht davon auszugehen, dass die Sache sich zu einem Ermittlungsverfahren in einem Tötungsdelikt ausweiten könnte. Müller zog zunächst die Jalousien vor die Fenster, weil die Klimaanlage mal wieder ihren Dienst aufgegeben hatte und um diese Uhrzeit ein Öffnen der Fenster den Raum eher noch mehr aufheizen als abkühlen würde. Dann fläzte er sich auf den Stuhl und döste vor sich hin. Lukas war damit beschäftigt, eine Nachricht auf seinem Handy zu schreiben, vermutlich eine Liebes-SMS an seine im siebten Monat schwangere Ehefrau, mit der er erst seit einem Jahr verheiratet war. Sein privates Glück war in letzter Zeit uneingeschränkt die Nummer eins auf seiner Prioritätenliste. Nur die neue sehr junge Kollegin Ella Sturm las mit aufmerksamem Ausdruck im Gesicht noch einmal ihre Notizen vom Vormittag durch.

Schlichting eröffnete wie immer souverän die Besprechung und berichtete über die Angaben der Ehefrau des Toten und über die Ergebnisse der Spurensicherung. Außerdem erläuterte er die Bedeutung des Notfallsets, das auf dem Tisch im Zimmer der Leiche gefunden worden war: „Von den Medikamenten, die eine allergische Person im Notfall nehmen muss, ist die Adrenalin-Autoinjektion entscheidend und oft lebensrettend. Der Betroffene kann sie unkompliziert durch Druck auf die Oberschenkelaußenseite sogar über der Kleidung einsetzen. Da in manchen Fällen eine Injektion nicht ausreicht, werden in aller Regel den Patienten zwei Spritzen mitgegeben.“

„Tja, und bei Dr. Kaufmann haben eben nicht einmal die beiden Nadeln ausgereicht.“ Müller sah keine Veranlassung, seine entspannte Sitzhaltung zu ändern.

„Da besteht allerdings noch Aufklärungsbedarf “, setzte Schlichtung seinen Bericht fort, “wie ich heute früh schon sagte, können wir erst nach der Obduktion, die morgen Vormittag durchgeführt werden soll, sicher sagen, ob der Verstorbene beide Injektionen benutzt hat. Hinzu kommt leider noch ein weiterer unklarer Punkt. Diese sogenannten Adrenalin-Pens sind stets in einer festen Plastikhülle verpackt, aus der sie erst unmittelbar vor ihrem Einsatz herausgenommen werden sollen. Die Leute von der Spusi haben solche Hüllen im Zimmer des Toten nicht finden können. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass Kaufmann zwischen dem Auspacken der Spritzen und der Injektion hinausgegangen ist und die Dinger woanders weggeworfen hat. Denn aus seiner Sicht musste ja alles sehr schnell gehen. Unklar ist weiter, wie die Wespe in die Kissenhülle gekommen ist. Diese war jedenfalls mit einem Reißverschluss fest verschlossen und der Bezug wies keinerlei Öffnung auf.“

„Dr. Kaufmann könnte ihn doch selbst zugemacht haben, nicht ahnend, dass seine Mörderin darin auf ihn lauerte“, dieser von Lukas ausgesprochene Gedanke bot zumindest eine denkbare Lösung.

Schlichting war mit seinem Bericht noch nicht fertig: „Zuletzt haben wir noch das Problem mit der herausgezogenen Telefonschnur. Der Stecker befand sich nicht mehr in der im Boden befindlichen Steckdosenleiste. Trotzdem war die darüber angebrachte Abdeckung verschlossen. Dazu muss ich ergänzen, dass Allergiker, die ein Notfallset verordnet bekommen, nach Einsatz der Autoinjektion sofort 112 wählen sollen. Ich meine, dass Dr. Kaufmann genau das tun wollte. Denn der von der Station genommene Telefonhörer lag ja auf seinem Schreibtisch.

„Nun, in Bezug auf die Telefonschnur hat sich schon eine Erklärung ergeben. Dr. Macke, der Präsidialrichter, hat uns erzählt, dass die Putzfrauen an diesem Morgen im Haus waren. Es kommt wohl ziemlich oft vor, dass sie bei ihrer Arbeit versehentlich Kabel herausreißen oder auch mit anderen Dingen etwas rigoros umgehen. Macke berichtete uns, dass sein bester Freund nahezu jeden Donnerstag früh um halb fünf aus seinem Dienstzimmer angerufen wird. Hintergrund ist, dass die Putzfrau regelmäßig etwas unsanft mit einem Lappen über das Telefon wischt und dabei die eingespeicherten Nummern wählt.“ Müller lehnte sich zufrieden zurück. Schlichtings Ausführungen veranlassten ihn bisher nicht, daran zu denken, dass die Ermittlungen in diesem Fall noch lange andauern müssten.

Ella meldete sich zu Wort: „Eins verstehe ich nicht. Es war heute früh im Zimmer des Toten nicht zu übersehen, dass sein Papierkorb nicht geleert worden war. Der ganze Inhalt lag doch verstreut auf dem Boden. Nach meiner Erfahrung räumen die Reinigungskräfte in Büros jedenfalls den Müll weg, selbst wenn sie sonst nicht sauber machen sollten. Ich will damit sagen, dass vermutlich gar keine Putzfrau in seinem Zimmer war.“

Schlichting blickte mit anerkennender Miene auf Ella: „Das müssen wir am besten noch heute aufklären. Wer vom Putzgeschwader war in der Frühe in dem Bereich eingesetzt? Der Präsidialrichter wird das schnell herausfinden können. Vielleicht kann er uns auch sagen, wann Dr. Kaufmann das letzte Mal das Telefon benutzt hat. Das lässt sich sicher feststellen. Es wäre gut, wenn wir die Reinigungskraft möglichst schnell befragen würden.“

Anders als nach dieser Ansage ihres Chefs erwartet, konnte Susan von dem Felde am Abend doch noch ihrem Sohn Englischvokabeln abhören, die er als Hausaufgabe lernen sollte. Auch Lukas war früher zu Hause bei seiner schwangeren Frau als befürchtet. Denn Dr. Macke war sehr schnell in der Lage, die erbetenen Auskünfte zu geben: Die Putzfrau, die am Morgen dafür eingesetzt war, das Zimmer des Toten und die umliegenden Räume zu säubern, hatte sich krankgemeldet. Niemand war für sie eingesprungen. Durch Drücken der Wiederholungstaste am Telefon war leicht auszumachen, welches Gespräch zuletzt von dem Apparat geführt worden war, und der Beisitzer Herzog bestätigte, dass sein Vorsitzender ihn am Nachmittag des Vortages gegen 17:00 Uhr angerufen hatte.

Vor weiteren Ermittlungen war erst einmal die Obduktion abzuwarten.

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