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SIND DIE GRUNDRECHTE GEFÄHRDET?

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Die große Leistung der Mütter und Väter des Grundgesetzes besteht darin, den Schutz der Grundrechte in der Verfassung selbst verankert und den Zusammenhang zwischen den Grundrechten und den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft herausgestellt zu haben. Einerseits auf Wunsch der Alliierten, andererseits im Zweifel über seine Zweckmäßigkeit verzichteten die Schöpfer des Grundgesetzes auf einen Katalog von sozialen Grundrechten. Während die Länderverfassungen hier im Allgemeinen detaillierter ausgefallen sind – so kennt beispielsweise die bayerische Verfassung von 1946 einen Anspruch auf angemessene Wohnung (Art. 106) und auf Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens (Art. 171) –, begnügte man sich im Grundgesetz bis auf den Anspruch der Mütter auf Schutz und Fürsorge (Art. 6 Abs. 4) mit einer allgemeinen Sozialstaatsklausel (Art. 20 Abs. 1).

Der 1949 beschlossene Grundrechtskatalog wurde in den folgenden Jahrzehnten durch Entscheidungen des Bundesgesetzgebers und die Gesetzgeber der Länder ergänzt, z.B. um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Durchsetzung der Gleichberechtigung. Andererseits wurden etwa das Asylrecht für politisch Verfolgte und die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt.

Die Grundrechte entfalten heute ihre Funktion als Abwehrrechte gegen staatliches Handeln wie auch als Schutz vor Grundrechtsverletzungen seitens Dritter. In welcher Weise die Bürger durch das Handeln privater Unternehmen in ihren Grundrechten beschränkt werden, ist angesichts des Handels weltweit agierender IT-Konzerne mit Unmengen personenbezogener Daten und der Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte Milliarden Betroffener weltweit von immer größerer Bedeutung. Das gilt auch für die Frage, wie sich in der digitalisierten Welt eine Verpflichtung des Staates auf Tätigwerden verbunden mit Grundrechtsverletzungen Dritter auswirken kann.

Das vom Bundesverfassungsgericht mit dem Volkszählungsurteil 1983 entwickelte Recht der informationellen Selbstbestimmung, zu dem der Schutz personenbezogener Daten gehört, wird zum Eckpfeiler der gesetzgeberischen Gestaltung der weltweiten Digitalisierung. Es prägt auch die Datenschutzgrundverordnung der Europäischen Union (EU-DSGVO), die am 25. Mai 2018 in Kraft getreten ist. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bis heute als Garant und Verteidiger der grundrechtlichen Freiheitsrechte und damit als bester Verbündeter der Bürgerinnen und Bürger erwiesen. Auf einige Grundsatzentscheidungen, die sich meist gegen den Gesetzgeber richten, werde ich in den folgenden Kapiteln eingehen.

Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und dem Bundesverfassungsgericht in Deutschland hat sich ein einmaliges Dreieck höchster Gerichte zur Verteidigung der Freiheitsrechte in Deutschland, in der Europäischen Union und in den Staaten des Europarats gebildet. Diese Gerichte respektieren sich gegenseitig, pflegen einen regelmäßigen Meinungsaustausch und nehmen je nach Fallgestaltung auf die jeweilige Rechtsprechung Bezug. So berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht die EGMR-Rechtsprechung, um Rechtsprechungskonflikte zu vermeiden, was als Basis für einen internationalen und europäischen Dialog der Gerichte dienen kann. Auch wenn die Europäische Menschenrechtskonvention innerstaatlich im Rang unter dem Grundgesetz steht, sind ihre Bestimmungen völkerrechtsfreundlich auszulegen.

Trotz dieser Erfolgsgeschichte und etlicher Absicherungen sind die Freiheitsrechte heute in einer Dimension bedroht, wie es 1949 nicht vorhersehbar war. Sie sind nicht nur durch internationale Entwicklungen wie den Terrorismus tatsächlich gefährdet, sondern sie werden von denen, die durch sie geschützt und gestärkt werden, also von den Bürgern selbst, nicht ausreichend wertgeschätzt. Die Bürger verspüren Angst und Verunsicherung wegen der unglaublich dynamischen technologischen Entwicklungen mit ihren tief greifenden Auswirkungen auf die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, die persönliche Lebensgestaltung, die Umwelt. Zugleich lehnen sie jene Veränderungen ab, die der Zuzug von Flüchtlingen und Asylbewerbern mit sich gebracht hat. Beide Entwicklungen führen bei einem Teil der Bevölkerung dazu, das erstrebte Glück und die ersehnte Sicherheit vom Staat zu erwarten, in dessen Institutionen sie aber immer weniger Vertrauen haben. Es gibt Rechtspopulisten, die zwar von den Freiheitsrechten reden, damit aber nur die eigenen und nicht die aller Bürger meinen. Sie betreiben Elite-Bashing, verklären das Deutschtum teilweise unter Ausblendung oder bewusster Verklärung der jüngsten Geschichte und propagieren ein Diktat der Mehrheit (natürlich der Deutschen) gegenüber Minderheiten, die sich unterschiedlich nach Herkunft, Religion und Status definieren.

Dass wir die Freiheitsrechte nicht immer richtig begreifen, dass wir sie eher den Juristen und Gerichten überlassen, als sie selbst bewusst zu leben, dass sie auch von einigen Politikern bewusst marginalisiert und negiert werden, daran haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht denken können. Sie konnten sich bestimmt nicht vorstellen, dass die gerade erst überwunden geglaubte menschenverachtende nationalsozialistische Rassenideologie sich im 21. Jahrhundert in Deutschland wieder ausbreiten würde. Sie konnten sich die Sattheit, die Gleichgültigkeit vieler Menschen in einer mit großem Wohlstand gesegneten Bundesrepublik Deutschland nicht vorstellen. Und nach Jahren der Entrechtlichung durch willkürliches Staatshandeln passte es nicht in ihre Vorstellungswelt, vom Staat weitgehende Versorgung und Sicherheit auch auf Kosten der eigenen Freiheit zu erwarten.

70 Jahre nach dem Aufbruch in eine neue Welt der Freiheitsrechte, der liberalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit brauchen wir einen Neuanfang. 2019 muss zum Jahr der bewussten und streitbaren Auseinandersetzung für die Freiheit werden. Sie gilt es einer Politik entgegenzustellen, die einem vorgeblichen Zuwachs von Sicherheit permanent Vorrang einräumt. Begreifen wir die grundrechtliche Wertebasis als Bereicherung unseres täglichen Lebens und orientieren wir uns an ihr als dem wichtigsten Maßstab und Kitt für ein friedliches, von gegenseitigem Respekt getragenes Zusammenleben.

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