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DÜRFEN MENSCHENLEBEN GEGENEINANDER ABGEWOGEN WERDEN?
ОглавлениеDiese Frage wird jeder spontan mit „nein“ beantworten. Jedes Leben ist einzigartig. Da kann es doch gar nicht sein, dass ein Leben gegen das andere abgewogen wird. Welches Leben ist mehr wert, und in welcher Situation kann das überhaupt gelten?
Der Gesetzgeber hat genau dazu eine Entscheidung getroffen. Gemäß Paragraf 14 Absatz 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)15 wurde der Pilot einer Bundeswehrmaschine zur unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt auf ein entführtes Passagierflugzeug ermächtigt, also zum Abschuss der Maschine mit vielen Passagieren gesetzlich legitimiert. Dadurch sollte der von den Flugzeugentführern beabsichtigte Absturz verhindert werden, der mit sehr großer Gefahr auch für das Leben sehr vieler Menschen am Boden, zum Beispiel in einem Fußballstadion, verbunden gewesen wäre.
Was sich vielleicht plausibel anhören mag, sind doch die Menschen in dem entführten Flugzeug den Entführern ausgeliefert und damit ohnehin verloren, ist in der Konsequenz als Verletzung der Menschenwürde in ihrem Achtungsanspruch und des Rechts auf Leben in Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG zu bewerten.
Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehr der Gefährdung den Abschuss der Maschine erlaubt, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutz anderer. Wieder geht es hier um eine Dilemma-Situation, in der jede Entscheidung, auch das Unterlassen von Handeln, das unbefriedigende Gefühl der Rat- und Hilflosigkeit hinterlässt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 15. Februar 200616 die Regelung im Luftsicherheitsgesetz in vollem Umfang für unvereinbar mit dem Grundrecht auf Leben sowie mit der Garantie der Menschenwürde im Grundgesetz und daher für nichtig erklärt, soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen wären. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, entrechtlicht. Indem der Staat einseitig über ihr Leben verfügt, wird den Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Unter der Geltung der Menschenwürdegarantie ist ein Gesetz schlechterdings unvorstellbar, auf dessen Grundlage unschuldige Menschen vorsätzlich getötet werden dürfen, um andere Menschenleben zu retten.
Als eine „lebensfremde Fiktion“ beurteilten Bundesverfassungsrichter den Erklärungsversuch, ein Passagier würde mit dem Besteigen des Flugzeugs mutmaßlich auch in einen Abschuss im Fall einer Flugzeugentführung einwilligen. Auch die Ansicht, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien, bringt nach Auffassung des Gerichts zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden. „Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen“, führe ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis, so das Urteil. Eine Verpflichtung zu einem Bürgeropfer gibt es nicht.
Dass es überhaupt zu diesem Gesetzesbeschluss kommen konnte, ist für mich Ausdruck eines deutlich veränderten Verständnisses von der Menschenwürde. Der Gesetzgeber betrachtete die Entführer und die Passagiere als Bedrohung und als gefährliche Objekte, die ohne Unterschied unschädlich gemacht werden müssen. Letztlich übernahm er damit die verdinglichende Sichtweise der Terroristen. Gut, dass der Hüter des Grundgesetzes, das Bundesverfassungsgericht, diese Umdeutungen nicht durchgehen lässt.
Es ist leichter, sich für die Verletzung der Rechte anderer auszusprechen, wenn man selbst nicht betroffen ist. Deshalb sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass wir andere so behandeln, wie auch wir behandelt werden wollen. Und niemand von uns möchte eines angeblich übergeordneten Interesses wegen vom Staat geopfert werden.
Die Menschenwürde begegnet uns im täglichen Leben im Umgang mit Geflüchteten, mit sozial Schwächeren, mit Menschen, die hilfs- und pflegebedürftig sind. Da ist schnell gesagt, dass eine Unterkunft nicht menschenwürdig sei, dass die Hilfe für Kranke und für Pflegebedürftige nicht ihrer Würde entsprechend erbracht werden könne und dass Hartz IV die menschliche Würde der Leistungsempfänger verletze. Der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs Menschenwürde ist nicht unbedingt mit dem juristischen identisch. Aber die feste Verankerung im Sprachgebrauch zeigt, dass wir als menschenwürdig einen angemessenen und fairen Umgang miteinander verstehen.