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Kapitel 1 Kleines Buch mit großer Wirkung

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Dem kleinen Buch, das die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 zu einem demokratischen Verfassungsstaat machte, sah man seine revolutionäre Wirkung nicht an. Gerade einmal 146 Artikel enthält die Verfassung, die wegen der Teilung Deutschlands die vorläufige Bezeichnung „Grundgesetz“ erhielt. Sie begrenzt die Staatsmacht und verankert die Grundrechte als verbindliche, einklagbare Rechte. Sie soll Bollwerk gegen Verfassungsfeinde und Menschenrechtsverächter, gegen den Missbrauch staatlicher Macht und gegen den Aufstieg von Autokraten sein. Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz nach zahlreichen Richtungskämpfen zwischen den damaligen Siegermächten, Ländern und Parteien, Kirchen und bedeutenden Politikern der Weimarer Republik in Kraft. Vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation war das Grundgesetz am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat, bestehend aus 66 Männern und 4 Frauen – darunter 5 nicht stimmberechtigte Mitglieder aus Berlin – mit 53 zu 2 Stimmen beschlossen worden. Einige Tage später wurde es von den Alliierten genehmigt. Deutschland war zu jener Zeit kein souveräner Staat, bekam aber eine Verfassungsordnung und stand noch bis 1955 unter dem Besatzungsstatut der drei westlichen Alliierten.

Die Beratungen wurden angesichts der Berlin-Blockade durch die sowjetische Besatzungsmacht von der Gefahr eines Dritten Weltkriegs begleitet. Es verwundert deshalb nicht, dass das Grundgesetz damals eher auf Teilnahmslosigkeit stieß. Die Menschen hatten andere Sorgen, ging es doch um das tägliche Überleben in den vier Besatzungszonen. Die Angst vor der Zukunft beherrschte den Alltag, der von Anweisungen der Militärgouverneure bestimmt wurde. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger für die Grundlagen einer demokratischen und offenen Gesellschaftsform stand nicht so sehr im Vordergrund, wie man rückblickend angesichts der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen im „Dritten Reich“ hätte erwarten können. Die Faszination demokratischen Lebensgefühls entfaltete sich noch nicht.

„Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“

Viele Menschen im zerstörten Deutschland konnten sich wohl auch gar nicht vorstellen, was es bedeutete, selbstbestimmt in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat mit von Parteien unabhängigen Institutionen zu leben. Der Obrigkeitsstaat wurde mit dem Grundgesetz abgeschafft. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, das war eine Grundvorstellung der Verfassungsberatungen, die dann in die rechtsverbindliche Formulierung von Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) mündete, wonach die Menschenwürde eines jeden unantastbar ist.

Eine geschriebene Verfassung entfaltet Wirkung nur dann im täglichen Erleben, wenn die Menschen an ihre Wirkungskraft glauben und sie immer wieder selbst spüren. Uns muss deshalb bewusst sein, was das Grundgesetz bedeutet, welche Auswirkungen es auf unsere Gesellschaft, auf unser Zusammenleben und auf das Handeln der Politiker und Politikerinnen hat. Dieses Bewusstsein scheint heute nicht so umfassend und vertieft vorhanden zu sein, wie es eigentlich angesichts der Staaten mit autoritären Systemen, den sogenannten illiberalen Demokratien in unserer unmittelbaren Nachbarschaft selbstverständlich sein sollte.

Sind die Grundrechte zu abstrakt? Sind sie im täglichen Leben nicht gegenwärtig und nicht im Bewusstsein der Menschen, weil diese nicht wissen, wie sich die Grundrechte tatsächlich für sie auswirken?

Stellen wir uns nur vor, wie Deutschland heute ohne die Verbindlichkeit der Grundrechte aussehen würde: Der Staat wäre ein nicht gebändigter Leviathan, der den Menschen vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben. Der Meinungen, Medien, Presse und Versammlungen nur dann zulässt, wenn sie seinen Vorstellungen entsprechen. Der Menschen einsperren lässt, weil sie andere als die erlaubten Lebensformen wählen, und der die tägliche Überwachung mit allen analogen und digitalen Mitteln betreibt. In einem solchen Staat ist der Mensch in seiner Kommunikation, seinem Verhalten, seinem Denken und Fühlen vollkommen durchsichtig, während umgekehrt der Staat für die Menschen intransparent bleibt. Ein Blick auf die Entwicklungen in autokratischen und diktatorischen Staaten wie der Volksrepublik China lässt die Visionen aus George Orwells Roman „1984“ lebendig werden.

Es gibt also etwas zu verteidigen, was jedem Menschen nützt: Staatsferne, Privatheit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung gegen Obrigkeitsstaat und gegen Ausschnüffelei, Bevormundung und Fremdbestimmung.

In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland entwickelten sich die Grundrechte, deren Konkretisierung besonders durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfolgte, zu einer Erfolgsgeschichte. Selbst nehmen wir die Freiheitsrechte in Anspruch und sprechen sie schnell anderen ab. Der Glanz der Freiheitsrechte für jedermann scheint verblasst, teilweise wird die Freiheitsausübung derjenigen, die aus einem anderen kulturellen Umfeld kommen, als Gefährdung der eigenen Werte wahrgenommen. Der Ausspruch „Wir sind das Volk“ drückt nicht nur die Emanzipation der Zivilgesellschaft und das Streben nach Freiheit aus, wie es bei den Demonstrationen der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR bis zum Fall der Mauer war. Er wird teilweise auch zur Ausgrenzung derjenigen verwandt, die angeblich als Fremde nicht zu Deutschland gehören. Wenn „Wir sind das Volk“ eben nur einen Teil des Volks meint, dann gehören damit die anderen nicht dazu. Was für eine Anmaßung, welche Arroganz!

Es reicht eben nicht, dass der Geist der Freiheit irgendwann mal geweht hat – etwa vor 70 Jahren im Parlamentarischen Rat, als das Grundgesetz entstand. Oder 20 Jahre später, 1969, als das Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde in die Verfassung aufgenommen wurde. Es war bis dahin nur einfachgesetzlich im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt und hätte jederzeit mit einfacher Mehrheit abgeschafft werden können. Seit der Neuregelung kann jeder Bürger die unmittelbare Verletzung seiner Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht geltend machen. Die Verfassungsbeschwerde ist das Instrument, das bis heute immer wieder Rechtsverstöße der Exekutive oder des Gesetzgebers kritisiert und sie dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat häufig Verfassungsverstöße gerügt und den Bürgern Recht gegeben. Ohne die Verfassungsbeschwerde hätten die Grundrechte keine wirksamen Abwehrrechte gegen den Staat werden können.

Die Grundrechte sind kein Denkmal der Vergangenheit, sie haben sich nicht überholt. Im Gegenteil: Die Buchstaben der Artikel 1 bis 19 GG entfalten bis heute Dynamik, sie leben, sie sind nicht nur ein Stück Papier. Man muss sich von ihnen erfrischen und begeistern lassen, immer und immer wieder.

Sie sichern uns allen unsere Freiheit, sodass wir uns frei bewegen, frei reden und frei leben können. Dies gilt freilich nicht vollkommen unbegrenzt, sondern immer so, dass die demokratisch gesetzten Regeln und die sich aus dem Grundgesetz ergebenden Grenzen eingehalten werden. Es gibt nicht die Freiheit der Akademiker, nicht die Freiheit der Autofahrer, nicht die Freiheit der Älteren, nicht die Freiheit nur einer Bevölkerungsgruppe, sondern unser aller Freiheiten. Diese Freiheiten stehen uns zu, es sind unsere Rechte, die uns niemand nehmen kann, die von allen staatlichen Gewalten zu beachten sind.

Leider haben wir über die Jahrzehnte hinweg immer mehr Regeln bekommen, die die freie Entfaltung einschränken. Und leider war diese Entwicklung auch durch menschliches Verhalten verursacht, das keine Rücksicht auf andere nimmt: Gewalt bei Versammlungen und Demonstrationen, Beleidigungen anderer Menschen, Angriffe auf Helfer oder das Gaffen bei Unfällen, das die Opfer zusätzlich beleidigt, weil es sich an deren Leid ergötzen will. Sensationslust, hedonistischer Narzissmus und etliche weitere Grenzüberschreitungen sind eine Seite der Freiheit, die schreckliche, die hässliche, die verletzende. Sie ist nicht gemeint, wenn verantwortungsbewusst von Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft gesprochen wird. Gegenseitige Rücksichtnahme, Achtung und Respekt sind keine Tugenden von vorgestern, sondern unabdingbar, um Freiheit in einer Gesellschaft von Millionen Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten leben zu können.

Die Idealvorstellung wäre, dass jeder Mensch so handelt, dass die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte, so der Kerngedanke des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant.

„Dieser Satz ist der Versuch, einen Maßstab für gerechtes Handeln zu finden. Der Mensch soll aus sich heraustreten und sich in andere Menschen hineinversetzen, dann weiß er von selbst, wie er sich verhalten muss. Nichts anderes sagt das Sprichwort: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu. Dieses Prinzip ist die Grundlage jeglichen Rechtssystems“, so interpretiert Winfried Hassemer, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts, den kantischen Imperativ.1 Das hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Beschimpfungen, ehrverletzende Herabsetzungen und Hasstiraden in den sozialen Netzwerken gehören inzwischen zum Alltag und werden gezielt eingesetzt – genau das Gegenteil von gegenseitigem Respekt und der Beherzigung des Grundsatzes, dem anderen nicht das anzutun, was man selbst nicht erfahren möchte. Auch wenn der Austausch im Internet ohne persönlichen Kontakt geschieht, sind die Verletzungen real. Die Persönlichkeitsrechte, die Privatsphäre und das Recht zur freien Meinungsäußerung sind Grundrechte, die sich gegenseitig begrenzen, um eben Verletzungen zu vermeiden.

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