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WAS BRINGT DER MENSCHENWÜRDESCHUTZ IM ALLTAG?
ОглавлениеDem Bürger bringt der Menschenwürdeschutz den Anspruch auf Achtung seiner Person, er schützt ihn vor Fremdbestimmung. Dieser Satz hat es in sich. Er bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass der Einzelne sich in seiner Individualität entfalten können soll, dass er über sich selbst verfügen und sein Leben eigenverantwortlich gestalten können soll. Selbstbestimmtes Leben und selbstbestimmtes Sterben machen frei und stark gegen Angst, die Angst, nicht mehr Herr respektive Frau der eigenen Entscheidungen sein zu können.
Ein konkretes Beispiel mag veranschaulichen, was gemeint ist. Die rechtliche Anerkennung der Zugehörigkeit zum empfundenen oder gewandelten Geschlecht ohne diskriminierende Hürden wurzelt in der Menschenwürde. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder Regelungen im Transsexuellengesetz17 und im Personenstandsgesetz18 für verfassungswidrig erklärt. 2017 hat es ein drittes Geschlecht für den Eintrag im Geburtenregister gefordert. Intersexuellen Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, soll damit ermöglicht werden, ihre geschlechtliche Identität „positiv“ eintragen zu lassen. Das folgt aus dem Recht auf Schutz und Entfaltung der Persönlichkeit. Dieser Beschluss berücksichtigt angemessen die unterschiedlichen geschlechtlichen Ausprägungen und treibt den Gesetzgeber an, der die Vorgaben der höchstrichterlichen Entscheidung umzusetzen hat. Mit dem Eintrag „divers“ soll dem Rechnung getragen werden.19 Aus der Menschenwürde folgt auch der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, der in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 GG jedem Hilfebedürftigen die materiellen Voraussetzungen zusichert, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.20 Er ist „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber“. Es handelt sich also nicht um Almosen, sondern um eine Verpflichtung des Staates. Dieser hat die Leistungen „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten“. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu. Zur Ermittlung des Anspruchsumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.
So groß die Erwartungshaltung des Einzelnen in einer Notlage sein mag, so sehr ist die Konkretisierung des Anspruchs von den allgemeinen Lebensumständen abhängig, die sich positiv wie negativ verändern können. „Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen.“21 Ohne diese soziale existenzielle Absicherung wäre die Ausübung mancher Freiheitsrechte erschwert oder gänzlich unmöglich gemacht, wie etwa die Informations- und Kommunikationsfreiheit.
Das Recht von Asylsuchenden auf ein menschenwürdiges Existenzminimum darf nicht vom Aufenthaltsrecht abhängig sein.
Dieses Recht steht nicht nur den deutschen Staatsbürgern zu, sondern auch Asylsuchenden, Geduldeten und Personen mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis. Ihre reduzierten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz dürfen keine zu große Abweichung im Vergleich mit den Sozialleistungen aufweisen. Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum darf nicht vom Aufenthaltsrecht abhängig gemacht und nicht als Abschreckungsinstrument eingesetzt werden. Ausdrücklich stellt das Bundesverfassungsgericht fest:
„Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das psychische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.“22
Wie passt diese grundgesetzliche Verpflichtung mit den Debatten und den Äußerungen mancher Politiker zusammen, die ihre Aufgabe offenbar zuallererst darin sehen, mit Massenunterkünften, Sachleistungen und Pauschalverunglimpfungen ein Klima der Abschreckung gegenüber Flüchtlingen zu erzeugen? Gar nicht. Humanität und geordnete zügige Verfahren mit Durchsetzung der Ausweisung und Abschiebung gehören zusammen und verpflichten den Staat zu entsprechendem Handeln.
Der Schutz der Menschenwürde ist ein Versprechen, das immer wieder auch von den staatlichen Gewalten eingelöst werden muss. Fordern wir es ein. Nehmen wir es ernst. Genau das bringt zum Ausdruck, was der Bürger vom grundrechtlichen Schutz seiner Menschenwürde hat – die Realisierung seines Anspruchs auf Achtung seiner Persönlichkeit, seiner individuellen Besonderheit gegen übermäßige und unverhältnismäßige Eingriffe. Jeder Bürger kann im Fall einer Verletzung dieser so verstandenen Rechte den Rechtsweg beschreiten, sich bei unmittelbarer Verletzung durch rechtswidriges staatliches Handeln unter bestimmten Voraussetzungen direkt an das Bundesverfassungsgericht wenden. Die Grundrechte sind nicht nur Sätze, sondern durchsetzbare Rechte, jeder kann sich unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit auf sie berufen. Er kann Rechtsberatung in Anspruch nehmen, und möglicherweise steht ihm staatliche Prozesskostenhilfe zu.