Читать книгу Die Wälder von NanGaia - Sabine Roth - Страница 10
Der Park von Megalaia
ОглавлениеZum ersten Mal war er mit Tom und den anderen im Park gewesen, nur wenige Wochen nach Beginn des Studiums. Damals hatten sie sich an einem sonnig warmen Sonntag dort zum Picknick verabredet, mit einigen Mädchen, die sie tags zuvor in einem Club kennen gelernt hatten.
Damals hatte er seine Umgebung allerdings kaum wahrgenommen, hatte sich lediglich gewundert, dass inmitten des steinernen Häusermeers eine solch große Grünfläche erhalten geblieben war. Viel interessanter jedoch war das hübsche Mädchen gewesen, mit dem er heftig geflirtet, und das ihn später mit zu sich nach Hause genommen hatte.
Auch später war er immer wieder in den Park gegangen.
Manchmal alleine, manchmal mit einer der zahlreichen Eroberungen.
Doch damals war der Park nur ein weiteres Ausflugsziel gewesen, ein Ruhepol nach nächtlichen Ausschweifungen.
Bis er eines Tages erkannt hatte, dass er - trotz allem - ein Kind der Wälder geblieben war. Dass er seine Seele verlieren würde, wenn er dieses Leben nicht beendete. Und, dass er die Heimat vermisste.
…den Herbstwind, der wild durch die Bäume jagte, und ihnen das dürre Laub von den Ästen riss. Dessen Heulen und Brausen ihn so oft am Morgen geweckt, und am Abend in den Schlaf begleitet hatte.
Die Tage der Stille, wenn die Sonne den Wald in goldenes Licht tauchte, wenn ihre Wärme die Welt ein letztes Mal sanft umfing, ehe die kalte Jahreszeit begann.
Auch den Winter vermisste er.
Wenn das Leben für lange Zeit ruhte, und Stille sich über das Land legte. Wenn der Schnee bei jedem Schritt unter den Füßen knirschte, bei jedem Atemzug die eisig klare Luft in Lungen und Körper drang, und ihn erstarren ließ.
Selbst die Winterstürme vermisste er, die die Waldbewohner oft tagelang im Dorf festhielten. Weil die Menschen dann enger zusammen rückten.
...Und weil der Frühling das Leben danach umso machtvoller zurück brachte.
Weil jeder neue Tag dann umso aufregender war, neue Abenteuer und aufregende Erfahrungen verhieß.
Und den Sommer vermisste er.
Trotz der Hitze, die das Leben in den Wäldern während des Tages so häufig lähmte. Weil dann der See zum Tummelplatz der Dorfbewohner wurde, und die Nacht zum Tage gemacht.
All dies fehlte ihm.
In der Stadt hingegen war nur das Rauschen der Fahrzeuge zu hören, die Tag und Nacht an seiner Wohnung vorbei strömten. Hier gab es keine Stille, nicht einmal in der Nacht, selbst im Winter nicht, wenn in den Wäldern eine dicke weiße Decke das Leben zur Ruhe zwang.
In Megalaia gab es keinen Schnee. Und wenn er einmal fiel, wurde er nur allzu rasch zu einer braunen Masse, die diesen Namen nicht verdiente.
Auch der Frühling war nicht wie in den Wäldern.
In den ersten Wochen nach der Ankunft hatte er noch nach den verlockenden Düften geforscht, nach dem Überfluss an Leben, den er aus der Heimat kannte. Vergeblich meist - in Megalaia zeigte sich der Frühling vor allem in den Farben der Mode in den Schaufenstern, in der leichten Bekleidung der Mädchen - und dadurch, dass die Tische der Cafés im Freien standen.
Lediglich der Sommer ähnelte dem der Wälder ein wenig.
Auch hier lähmte die Hitze des Tages das Leben, zumindest draußen. Im Innern der Gebäude jedoch sorgten Klimaanlagen für Kühle, damit die Arbeit niemals ruhte, und die Menschen zahlreich in die Kaufhäuser strömten.
Nur in einem glich der Sommer in der Stadt dem in den Wäldern:
Auch hier füllten sich Seen und Bäder mit Menschen. Und auch hier wurde die Nacht zum Tage gemacht.
Nun wusste er, warum sich der Vater beim Abschied so sehr gesorgt hatte, und warum die Waldbewohner in dieser Stadt stets gescheitert waren.
Denn sie zehrte auch an ihm.
Zuhause hatte er viele Stunden in der Wildnis verbracht und seine Sinne mit ihr verbunden, hatte Ruhe und Kraft in ihr gefunden, und Nahrung für seine Seele.
In Megalaia fand er diese Ruhe nicht, weshalb seine Sehnsucht nach der Heimat mit jedem Tag zunahm.
Immer häufiger zog es ihn nun in den Park - den einzigen Ort weit und breit, der ihn an die Wälder erinnerte, und er streifte dort umher, manchmal viele Stunden lang. Und entdeckte Unerwartetes...
Abseits der ausgetretenen Wege gab es Bereiche, die man der Natur überlassen hatte. Knorrige alte Bäume wuchsen hier, zwischen denen Gestrüpp wucherte, so dicht, dass so mancher Fußpfad unvermittelt endete. Hier gab es noch ungemähte Wiesen, die die wenigen Besucher mit ihrer üppigen Blütenpracht für den langen Fußmarsch entschädigten.
Und dorthin zog es ihn mit aller Macht. Weil er sich nur dort lebendig fühlte – und weil er dort dieselbe Magie zu spüren glaubte, die er von den Wäldern kannte. Gab es etwa Geistwesen hier? Obwohl die alten Geschichten seines Volkes besagten, die Bewohner der anderen Welt hätten Megalaia vor sehr langer Zeit verlassen?
Doch die Kräfte, die er wahrnahm, erschienen ihm zu stark, um nur die Überbleibsel früherer Zeiten zu sein.
Er versuchte, mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Und manchmal schienen sie sich tatsächlich zu zeigen… dann glaubte er dasselbe Leuchten zu sehen, und dieselben Ströme von Energie wie damals, in der Kuppel unter der Erde.
So schwach jedoch nur, dass er jedes Mal an seiner Wahrnehmung zweifelte.
Denn sie sprachen weder zu ihm, noch schufen sie Bilder wie damals. Schließlich wurden seine Ausflüge zu den magischen Orten seltener. Bis er sie irgendwann, traurig und enttäuscht, gar nicht mehr besuchte.
Stattdessen begann er im Park zu laufen, meist nach Einbruch der Dämmerung, wenn die Wege sich geleert hatten. Dann gehörte das Gelände nur ihm - und den wenigen anderen, die so spät noch dort unterwegs waren.
Manche von ihnen mied er. Jene, die im Schutz der Dunkelheit ihren zweifelhaften Geschäften nachgingen, und nicht immer friedlich gestimmt waren.
Manchen hingegen begegnete er gerne.
Männern in teurer Sportbekleidung meist, die - obwohl deutlich wohlhabender als er, wie er beim Laufen nur den Ausgleich suchten. Und weil Vermögensunterschiede in der Finsternis keine Rolle mehr spielten, grüßten sie ihn mit einem flüchtigen Nicken. Dass er ein Waldbewohner war, schien keinen zu interessieren.
Bis auf einen - einen groß gewachsenen, dunklen Mann, der ihm bei jeder der seltenen Begegnungen verschwörerisch zulächelte.
Nantai war sicher, dass auch dieser Mann aus den Wäldern stammte. Doch er spürte, dass der andere trotz des Lächelns keine Nähe wünschte, und machte nie den Versuch, ein Gespräch zu beginnen.
Die wenigen anderen, die er auf seinen nächtlichen Runden traf, waren allesamt Hundebesitzer, darunter ein paar Frauen, die sich trotz der Finsternis in den Park wagten – mit Hunden in einer Größe, die vor jeder Art von Belästigung schützten.
Eine zierliche junge mit blonden Locken fiel ihm auf, weil ihr Hund sich ungemein rasch vom zerzausten Fellknäuel zu einem sehr beeindruckenden Tier entwickelt hatte, und zudem bei jeder Begegnung ein sehr spezielles Verhalten an den Tag legte. Nantai rätselte jedes Mal, ob der Hund wild bellend an der Leine zerrte, weil er ihn mochte... oder nicht?
Irgendwann traf er die Frau nicht mehr alleine. Eng umschlungen und sichtlich verliebt, mit einem jungen Mann unterwegs, ließ ihr Anblick ihn die eigene Einsamkeit schmerzlich spüren.
Und noch eine Hundebesitzerin erregte seine Aufmerksamkeit. Jung, dunkelhaarig, sportlich und ausgesprochen attraktiv, war sie - im Gegensatz zu der Blonden - fast so groß wie er selbst, und besaß einen Kampfhund, der ihr sehr gut gehorchte. Auch ohne Leine trabte das Tier stets dicht neben ihr her, blieb immer nah bei ihr.
Manchmal lief die Frau ein kleines Stück gemeinsam mit ihm, und lächelte ihm dabei zu, ohne ein Wort zu reden. Doch sobald er in den abgelegenen hinteren Teil des Parks einbog, verließ sie ihn. Ob sie sich fürchtete? Trotz ihres Hundes?
Sie gefiel ihm. Noch vor kurzem hätte er sein Glück bei ihr versucht.
Und obwohl er nie mehr als einen Gruß mit ihnen wechselte, wurden ihm all diese Menschen mit der Zeit seltsam vertraut.
Ihm war, als kenne er sie seit Jahren.
Doch erst, wenn er nach dem Laufen innehielt, und die nächtliche Stimmung unter den Bäumen auf sich wirken ließ, wurde ihm bewusst, dass ihm der Park tatsächlich zur Heimat geworden war.
Weil er sich nur hier sicher und geborgen fühlte in dieser Stadt.
Als hielten die Geistwesen ihre schützende Hand über ihn.
Und weil er nur hier das Heimweh vergaß, das, trotz allem, noch immer nicht weichen wollte.