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Schicksalhafte Begegnung
ОглавлениеVier lange Jahre lebte Nantai nun in Megalaia.
Und wieder einmal war der Frühling fast vorüber - der vierte, den er fern der Heimat erlebte. Wieder einmal war die Zeit der Vorlesungen zu Ende, und wieder einmal bereitete er sich auf seine Prüfungen vor - zum vorletzten Mal, wie er soeben mit Schrecken festgestellt hatte.
Schon im nächsten Jahr würde er sein Studium abschließen.
Aber seine Gabe hielt sich noch immer vor ihm verborgen. Wie lange würde er in dieser Stadt noch ausharren müssen, ehe sie sich zeigte?
Er saß an dem alten Holztisch, auf dem sich die Lehrbücher zu ansehnlichen Türmen stapelten, und starrte mit gerunzelter Stirn nach draußen, wo sich die Sonne nach Kräften bemühte, den Regen der letzten Tage vergessen zu machen.
Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchstehen kann. Seine Kräfte schwanden. Selbst die Aufenthalte im Park gaben ihm nicht mehr genug Energie, er fühlte sich mit jedem Tag leerer. Wenn er die Stadt nicht bald verließ, würde ihn das Schicksal aller Waldbewohner ereilen, die zu lange in der Stadt geblieben waren. Er würde seine Seele verlieren. Du musst auf die Geistwesen vertrauen. Sie sandten dich nicht ohne Grund hierher. Sie werden dich nicht im Stich lassen. Aber das Lernen fiel ihm heute so schwer, dass er für einen winzigen Augenblick einen Spaziergang im Park erwog. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Jetzt waren dort viel zu viele Menschen unterwegs. Wenn er Ruhe suchte - und die suchte er - würde er sich bis zum Abend gedulden müssen. Nur widerwillig beugte er sich wieder über sein Buch, zwang seine Gedanken in andere Bahnen. ...und vergaß die Zeit. Es war dunkel geworden, als er die Wohnung verließ, um mit dem Bus zum Park zu fahren. Wie immer um diese Zeit. Dennoch war irgendetwas heute anders als sonst. Er spürte es, sobald er das Gelände betrat. Und zum ersten Mal begann er den nächtlichen Lauf nicht sofort, sondern blieb unschlüssig stehen und blickte sich um, suchte nach einer Erklärung für das warnende Gefühl im Bauch. Ob es von der Finsternis rührte? Sie hatte sich wie ein Leichentuch über die Bäume gelegt und verlieh ihnen ein ungewohnt düsteres Aussehen… Verspürte er deshalb zum ersten Mal den Hauch einer Bedrohung? ...Denn alles andere schien wie immer zu sein. Nicht weit entfernt ging jemand mit einem Hund spazieren, gefolgt von einem einsamen Läufer. Irgendwo in der Ferne waren Stimmen zu hören, und grölendes Gelächter - aber auch feiernden Nachtschwärmern war er schon oft begegnet, ohne dass sie ihn jemals bedroht hatten. Kopfschüttelnd schob er das warnende Gefühl beiseite - und lief los. Er hatte schon viel zu lange über seinen Büchern gesessen, er brauchte Bewegung. Und wie immer fand er rasch seinen Rhythmus. Spürte mit Freude, wie gut ihm die Anstrengung tat, wie sich die verspannten Muskeln lockerten, wie gierig seine Lungen die kühle Abendluft aufsogen. Er lief schnell, schneller als sonst, und gelangte rasch in den hinteren Teil des Parks, der um diese Zeit normalerweise menschenleer war. Doch heute erkannte er in der Dunkelheit vor sich vier Gestalten - Männer, angetrunken offenbar, denn ihre dunklen Stimmen hallten laut durch den Park, während sie wild gestikulierend auf ihn zu schwankten. Und plötzlich war die dunkle Vorahnung wieder da. Er blieb stehen. Sollte er umkehren? Wegen des dichten Gestrüpps am Wegrand konnte er nicht ausweichen - und wenn er weiterlief, setzte er sich einem Angriff aus… Und während er noch zögerte, entdeckten ihn die vier, und blieben stehen. Er sah, wie sie sich leise berieten. Seine dunkle Vorahnung verstärkte sich. Diese Männer waren eine Bedrohung, das fühlte er deutlich. Er sollte besser umdrehen, sollte einen anderen Weg nehmen…. Davonlaufen…?! Nein! Sein Stolz siegte über die Bedenken. Er würde nicht wegrennen, nicht vor diesen jämmerlichen Gestalten! Obwohl ihm zahlenmäßig überlegen, waren sie keine Krieger wie er, waren außerdem nicht mehr nüchtern. Wenn sie ihn tatsächlich angriffen, würde er sich zu verteidigen wissen. Er entschied weiterzulaufen, und sie freundlich zu grüßen, um jeder Aggression den Wind aus den Segeln zu nehmen - ein Verhalten, das sich in ähnlichen Situationen bewährt hatte. Heute jedoch nicht. Er hatte die Männer kaum erreicht, als zwei ihm den Weg versperrten - sichtbar entschlossen, ihn nicht ohne weiteres vorbei zu lassen. Und ehe er umdrehen konnte, hatten ihm die beiden anderen den Rückweg versperrt. Er saß in der Falle. Aber noch blieb er gelassen. Hoffte noch, sie wollten ihn nur einschüchtern. Bis er die Messer in ihren Händen sah. Jedes Gefühl in ihm erstarb. Und nur Sekundenbruchteile später begann sein Herz schneller zu schlagen, schoss ein erregendes Prickeln durch seinen Körper, in dem sich nun jeder Muskel spannte. Er war zu einem Raubtier geworden, das kurz vor dem Angriff stand. Sollten sie kommen! Er hatte keine Angst. Dann waren sie bei ihm, und starrten ihn an. Ihre Messerklingen glänzten bedrohlich im Laternenlicht. „Hey, du Halbaffe! Was hast du hier in unserem Park zu suchen?“ Der größte der vier, ein kräftiger Kerl mit ungepflegtem, struppigem Bart und einer Mähne, die ein verdrecktes Tuch kaum bändigte, baute sich vor ihm auf, und musterte ihn derart verächtlich, dass Nantai sich nur mit Mühe beherrschte. „Entschuldigung, ich wusste nicht, dass dies euer Park ist“ murmelte er, und senkte den Kopf. Auch wenn er den Kampf nicht fürchtete, riet ihm ein Rest von Vernunft, diesen zu vermeiden. „Seht doch!“ erklärte der Bärtige spöttisch „Dieser Wilde hat Angst vor uns! Und das völlig zu Recht!“ Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Nantai an. „Du wirst jetzt vor mir auf die Knie fallen, meine Füße küssen, und um Verzeihung bitten, dass du dich in unserem Revier herumtreibst. Vielleicht sind wir dann ausnahmsweise gnädig mit dir. Vielleicht belassen wir es dann bei einer Tracht Prügel. Ansonsten…“ Sein Gesicht verzog sich zu einer widerlichen Grimasse, „…Ansonsten werden wir dir dein dreckiges Fell abziehen, bevor wir deine Überreste an die streunenden Hunden verfüttern - falls sie so was wie dich überhaupt fressen!“ Das war zu viel. Der verletzte Stolz ließ ihn jegliche Vorsicht vergessen. „Du wirst gleich sehen, was ich tun werde!“ zischte Nantai wutentbrannt, und ehe der Bärtige sich versah, lag er rücklings auf dem Boden, die Hände stöhnend auf den Unterleib gepresst. Seine drei Kumpane reagierten jedoch unerwartet rasch - und stürzten sich brüllend auf Nantai. Dem ersten Messerhieb konnte er noch ausweichen. Aber der zweite traf ihn an der Schulter. Der stechende Schmerz, und sein rasender Zorn verliehen Nantai unbändige Kräfte. Blitzschnell packte er den Arm des Messerstechers und verdrehte ihn, sodass der Mann das Messer mit einem Aufschrei fallen ließ. Im nächsten Augenblick streckte ein Faustschlag ihn nieder. Jetzt standen Nantai nur noch zwei Angreifer gegenüber: ein untersetzter Glatzkopf und ein blonder, eher schmächtiger Kerl. Keuchend stierten sie ihn an, die Pupillen unnatürlich geweitet. Sie waren nicht betrunken, wie er geglaubt hatte. Sie standen unter Drogen. Und diese machten sie gefährlich. Unter normalen Umständen hätten sie jetzt nämlich die Flucht ergriffen. Unter normalen Umständen wäre die Auseinandersetzung jetzt zu Ende gewesen. Aber der Rauschzustand verlieh ihnen Mut, und sie griffen Nantai an, furchtlos, und schneller als er dachte, wenn auch unkoordiniert. Und fanden sich deshalb Sekunden später auf dem Boden wieder. Schwer atmend, und kochend vor Zorn, starrte Nantai auf sie hinunter. Sollte er sie die eigene Klinge fühlen lassen, damit sie sich noch lange an ihn erinnerten? ...Er entschied, es nicht zu tun. Sie waren den Ärger nicht wert, den er sich einhandelte. Er würde gehen, auch wenn ihr Angriff damit ungesühnt blieb. Doch er hatte zu lange gezögert. Denn als er sich umwenden wollte, traf ihn ein heftiger Schlag am Kopf und warf ihn zu Boden. Geblendet vor Zorn, hatte er nicht bemerkt, dass sich der Bärtige hinter seinem Rücken aufgerappelt, und mit einem Stock bewaffnet herangeschlichen hatte. Und sie nutzten Nantais Hilflosigkeit - mitleidlos, und ohne Gnade, ließen sie ihrer sinnlosen Wut nun freien Lauf, und traten auf ihn ein, während er am Boden lag, zu benommen, um sich zu wehren. Bis der Bärtige ihnen unvermittelt Einhalt gebot. „Hört auf damit“ brüllte er, „ich habe eine bessere Idee! Hoch mit ihm!“ Gehorsam zerrten sie Nantai hoch und hielten ihn fest. „Du bist ein zäher Brocken. Und dem Anschein nach unbelehrbar…“ Mit einem unheilvollen Grinsen trat der Bärtige auf Nantai zu. Hielt ihm die Messerklinge dicht vors Gesicht. „Oder willst du uns um Verzeihung bitten?“ In seiner Stimme lag eine Kälte, die schlimmer war als Wut. Nantai gefror das Blut in den Adern. Und zum ersten Mal begann er, um sein Leben zu fürchten. Aber er zeigte die Angst nicht. Er wollte sich keine Blöße geben. Nicht vor ihnen. Blickte seinem Peiniger scheinbar unbeeindruckt in die Augen, und schüttelte den Kopf. „Dann werde ich dir also wie versprochen das Fell abziehen.“ Genüsslich ließ sich der Bärtige diese Worte auf der Zunge zergehen. Dann packte er Nantais Hemd, und zerriss es. Starrte grinsend in dessen Gesicht, während seine Klinge in Nantais Haut drang, und eine blutige Spur darin zog. Würde dieser störrische Wilde nun endlich um Gnade flehen? Aber Nantais Miene zeigte keine Regung – und der Zorn des Bärtigen wuchs schier ins Unermessliche. „Diese Behandlung scheint dir zu gefallen“ höhnte er und blickte seine Kumpane triumphierend an. „Aber natürlich! Habe ich nicht vor kurzem gelesen, dass diese Wilden ihre Tapferkeit beweisen, indem sie Schmerzen klaglos ertragen?“ Als die drei seine Bemerkung mit brüllendem Gelächter quittierten, wandte er sich Nantai wieder zu. „Sicher wirst du gerne hören, dass ich noch lange nicht fertig mit dir bin“ tönte er, von der Reaktion seiner Kumpane sichtlich beflügelt. „Du kannst uns deine Tapferkeit zu genüge beweisen, ehe wir dich zu deinen Ahnen schicken!!“ Jetzt verlor Nantai die Beherrschung. All sein Zorn, all seine Schmerzen entluden sich in einem gewaltigen Schrei, als er sein Knie in den Unterleib des Bärtigen rammte, der stöhnend zu Boden sank. Den Überraschungseffekt nutzend, gelang es ihm noch, sich von zweien seiner Peiniger loszureißen. Doch ausgerechnet der schmächtigste der vier ließ sich nicht rasch genug abschütteln. Verbissen klammerte sich der Mann an Nantais Arm fest, ließ sich selbst von Faustschlägen nicht beeindrucken - und verschaffte seinen beiden Kumpanen Zeit. Und obwohl Nantai sich mit aller Kraft gegen sie wehrte, obwohl er jedem einzelnen von ihnen weit überlegen war, musste er sich ihnen nun geschlagen geben. Ungeachtet seiner heftigen Gegenwehr zerrten sie seine Arme auf den Rücken, und verdrehten sie, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. In dieser Stellung hielten sie ihn fest. Keuchend vor Anstrengung, und sichtbar stolz auf ihren Sieg, warteten sie auf den Befehl ihres Anführers, der sich mühsam erhob. „Passt gefälligst besser auf, ihr Vollidioten“, zischte er seine Kumpane an, das Gesicht vor Schmerz und Zorn verzerrt, „oder wollt ihr, dass der Kerl uns die Polizei auf den Hals hetzt, ehe wir mit ihm fertig sind?“ Er riss sich das Tuch vom Kopf. „Haltet ihn fest, damit ich ihm das Maul stopfen kann...“ Eine Welle von Ekel und Angst überrollte Nantai, als sie seinen Kopf an den Haaren nach hinten rissen und ihm das stinkende Tuch in den Mund steckten. „Bekommst du es endlich mit der Angst zu tun?“ tönte der Anführer, „Hattest du etwa gehofft, dass wir bluffen?“ Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. „In diesem Fall muss ich dich leider enttäuschen. Aber vielleicht tröstet dich die Aussicht auf die Begegnung mit deinen verstorbenen Ahnen ein wenig über dein trauriges Ende hinweg.“ Das grölende Gelächter seiner Kumpane folgte auf diese Worte. Während Nantai zu Stein erstarrte. Das durfte nicht wahr sein! Er würde nicht sterben!! Nicht hier, und nicht durch ihre Hand! Aber die Mienen seiner Peiniger sagten etwas anderes, und er schloss die Augen, um den blinden Hass in ihren Gesichtern nicht mehr sehen zu müssen. Seine Seele floh vor dem, was nun geschah. Zog sich in eine Welt zurück, in der die Klinge des Mannes nicht mehr spürte. Bis plötzlich, wie aus weiter Ferne, ein Furcht erregendes Bellen in seine Ohren drang und ihn wieder in die Welt der Schmerzen zurückholte. Nur widerwillig öffnete er die Augen – und sah aus dem Gebüsch am Wegrand einen riesigen schwarzen Hund auf sich zustürmen. Aber auch seine Peiniger hatten die drohende Gefahr bereits bemerkt. Sie hielten erschrocken inne und glotzten das Tier an, starr vor Schrecken, und zugleich vollkommen verblüfft. Doch als der Hund sich auf sie stürzte, löste sich ihre Starre, und die Griffe um Nantais Arme lockerten sich. Entsetzt, und wild durcheinander brüllend, rannten die Männer in wilder Panik davon. Allein der Bärtige konnte nicht weglaufen. Das tobende Tier hatte ihn am Arm gepackt und biss so kräftig zu, dass der Mann das Messer mit einem Schrei fallen ließ. Dann erst gab der Hund ihn frei, und er folgte seinen Kumpanen in die Dunkelheit, stöhnend und fluchend, den blutendem Arm an den Körper gepresst. All dies hatte sich innerhalb weniger Sekunden abgespielt. Noch immer benommen, riss Nantai den Knebel vom Mund und atmete tief ein. Fühlte dankbar, wie die kühle Nachtluft in seine Lungen drang, und wie sein Kopf allmählich klarer wurde. Er war wieder frei – und am Leben! Ein gütiges Schicksal hatte diesen Hund zu seiner Rettung gesandt…Verwundert blickte er dem Tier hinterher, das den vier Männern wütend bellend nachjagte. Die Gefahr schien vorüber. Doch ein weiteres Mal täuschte er sich. Anstatt den Fliehenden weiterhin zu folgen, blieb der schwarze Riese plötzlich stehen und wandte sich um. Ein tiefes Grollen drang aus der Kehle des Hundes, während er auf Nantai zutrabte, und sich so viel Zeit dabei ließ, als wisse er, dass dem Waldbewohner die Kraft zu fliehen fehlte. Nantai sah der unerwarteten Bedrohung hilflos entgegen. Er war zu geschwächt, um einen Angriff des gewaltigen Tiers abzuwehren. Was sollte er tun? Ohne darüber nachzudenken, begann er zu singen. Legte all die verbliebene Kraft in die Melodie, mit der er den Tieren der Wälder mitteilte, dass er ein Freund war - und hoffte inständig, dass auch der schwarze Riese diese Botschaft verstand. Das drohende Knurren verstummte sofort. Und das gewaltige Tier, dessen Kopf bis zu Nantais Taille reichte, blieb dicht vor ihm stehen, und lauschte den fremdartigen Klängen, die zottigen Ohren steil nach oben gestellt. Als könne es kein Wässerchen trüben. Trotzdem sang Nantai weiter, bis er sich der erhofften Wirkung vollkommen sicher war. Dann erst löste sich seine Anspannung. Dann erst blickte er dem Hund in die Augen und begann, in der Sprache der Waldbewohner mit ihm zu reden. „Sandten die Geistwesen dich zu mir, schwarzer Riese?“ fragte er sanft. „Weißt du denn, dass du mir gerade das Leben gerettet hast?“ Der Hund jaulte leise und fing an, seine Hände abzulecken. Verblüfft ließ Nantai die unerwartete Freundschaftsbekundung über sich ergehen. Bis der Hund plötzlich innehielt und lauschend den Kopf hob. Im nächsten Moment stimmte er ein freudiges Gebell an, das weit in den Park hinein klang. Wenig später hörte Nantai in der Ferne eine helle Frauenstimme rufen. „Räuber, wo bist du denn? … Räuber?!“ Räuber? Hatte er diesen Namen nicht schon einmal gehört? Und woher kannte er diese Stimme? Verwirrt blickte er zu dem Hund, danach an sich hinunter. Sein Hemd war zerrissen, Blut lief ihm von Schultern und Brust. Er sah schrecklich aus - und fühlte sich ebenso. In diesem Zustand wollte er der Besitzerin der Stimme auf keinen Fall gegenüber treten - wer immer sie auch sein mochte. Entschlossen trat er einen Schritt zur Seite, um der Begegnung im Schutz der Dunkelheit zu entfliehen. Und erntete im selben Augenblick ein solch empörtes Knurren des Hundes, dass er sein Vorhaben sofort wieder aufgab. Er musste warten, bis die unbekannte Ruferin ihn erlöste. Es dauerte nicht lange, bis sie ihn erreichte - eine zierliche junge Frau mit kinnlangen, hellen Locken, die im Schein der Laternen golden glänzten. Und trotz des schwachen Lichtes erkannte er sie sofort. Er war ihr beim Laufen immer wieder begegnet, ihr und dem Hund. Deshalb waren ihm ihre Stimme und der Name Räuber so vertraut gewesen…- und die Überraschung in ihrer Miene zeigte, dass auch sie sich an ihn erinnerte. Doch dann sah sie sein zerfetztes Hemd, sah das Blut auf seiner Brust, und ihre Überraschung wich Entsetzen. „Mein Gott, was ist mit Ihnen passiert?! Räuber, was hast du getan?!“ Sie packte den Hund grob am Halsband, legte ihm die Leine an, und wandte sich Nantai wieder zu, das blanke Grauen im Gesicht. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid mir das tut…“ Es sprudelte förmlich aus ihr heraus, „…Räuber ist zwar oft recht ungestüm, aber er hat noch nie einen Menschen angegriffen… ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist… normalerweise hört er ja auf mich, deshalb hatte ich ihn nicht angeleint, es ist ja auch niemand mehr unterwegs um diese Zeit… aber er ist mir einfach weggelaufen… wenn ich geahnt hätte...“ Ihre Stimme brach. Jetzt endlich fand Nantai seine Fassung wieder. „Bitte beruhigen Sie sich, Ihr Hund hat mich nicht angegriffen. Er hat mir im Gegenteil sogar das Leben gerettet.“ Und begriff erst in diesem Augenblick, wie knapp er dem Tode tatsächlich entronnen war. Und im selben Augenblick entfaltete der erlittene Schock seine Wirkung. Nantai begann haltlos zu zittern, seine Beine versagten ihren Dienst, und er sank in die Knie, fühlte das schmerzhafte Pochen der Wunden im ganzen Körper widerhallen. Das darf nicht wahr sein. Mit geschlossenen Augen hockte er auf der Erde und versuchte irgendwie, seine aufgewühlten Sinne zu beruhigen. … spürte plötzlich eine Hand, die tröstend über seinen Rücken strich …. Verblüfft öffnete er die Augen. Verlegen lächelnd zog die Frau ihre Hand zurück. „Sie brauchen dringend einen Arzt“ sagte sie rasch. „Ich fahre Sie jetzt ins Krankenhaus. Außerdem müssen Sie zur Polizei gehen, und Anzeige gegen denjenigen erstatten, der sie so übel zugerichtet hat.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich brauche keinen Arzt! Und erst recht keine Polizei. Wissen Sie denn nicht, wie man dort mit uns Wilden umgeht?“ Ein bitterer Ton schwang in seiner Stimme mit. Er hatte zu Beginn seines Aufenthalts mehrfach unliebsame Bekanntschaft mit den Gesetzeshütern gemacht, weil er unwissentlich eines der zahlreichen Gesetze Megalaias missachtet hatte. Und viel zu oft hatten sie ihn wie ein Verbrecher behandelt. Einmal hatte er sogar zwei Tage in einer Arrestzelle verbracht - eine Erfahrung, die er nie wieder machen wollte. Ausgerechnet diese Polizei um Hilfe zu bitten, kam für ihn nicht in Frage. Selbst um den Preis, dass der Angriff auf ihn dann ungestraft blieb. Die Frau seufzte. „Aber ich kann Sie nicht einfach Ihrem Schicksal überlassen. Wenn Sie nicht zu einem Arzt gehen wollen, werde ich mich wohl selbst um Sie kümmern müssen.“ „Das müssen Sie keineswegs.“ Nantai starrte trotzig zu Boden. „Ich komme alleine zurecht.“ Sie schwieg, von seinem abweisenden Verhalten sichtlich irritiert. Aber dann siegte ihr Bedürfnis, ihm zu helfen. "Ich werde Sie hier auf keinen Fall zurücklassen" erklärte sie energisch. Nantais Stolz verbot ihm, ihre Hilfe anzunehmen. Auf der anderen Seite blieb ihm keine andere Wahl. Seine Wunden bluteten stark und schmerzten, sie mussten dringend behandelt werden. Und seine Wohnung lag zu weit entfernt, um in diesem Zustand zu Fuß nach Hause zu gehen. Den Bus oder ein Taxi nehmen konnte er allerdings ebenso wenig - die Fahrer würden bei seinem Anblick sofort die Polizei rufen. Hilflos zuckte er die Schultern. „Dann müssen Sie mir verraten, wie Sie mir helfen wollen, ohne einen Arzt hinzuzuziehen.“ Sie lächelte erleichtert. „Ich bin Medizinerin, jedenfalls beinahe, und werde Sie deshalb bei mir zuhause versorgen. Wenn Sie wollen, können Sie heute Nacht auf meinem Sofa schlafen - und morgen, wenn es Ihnen besser geht, fahre ich Sie nach Hause. Einverstanden?“ Was blieb ihm anderes übrig? Notgedrungen stimmte er zu. Den stützenden Arm seiner Helferin auf dem Weg zu ihrem Wagen hingegen lehnte er dankend ab. Ihr Hund zeigte sich allerdings weniger rücksichtsvoll als sie, und versuchte immer wieder voller Übermut an Nantai hochzuspringen. Bis ihn die strenge Rüge seiner Besitzerin endlich zur Räson brachte. „Räuber – Schluss jetzt! Lass den armen Mann in Ruhe!" Den Rest der Strecke trottete der Hund so brav neben ihm her, dass Nantai trotz der Schmerzen schmunzelte. Die so zart wirkende Frau schien das riesige Tier gut im Griff zu haben. Kein Wunder! Ich tue ja auch, was sie will… Wenig später saß er in ihrem Auto, hielt ein Tuch aus dem Verbandkasten auf seine Wunden gepresst, und starrte stumm auf die Lichter der Stadt, die draußen so rasch vorüber zogen. Erst nach einiger Zeit wandte er sich seiner Helferin zu... und musterte sie verstohlen. Von all den Begegnungen waren ihm lediglich ihre zierliche Figur und die blonden Locken in Erinnerung geblieben. Ihr Gesicht hatte er nie richtig wahrgenommen – und vorhin zu sehr unter Schock gestanden, um sich mit ihrem Aussehen zu beschäftigen. Ob sie blaue Augen hatte? Oder, was bei hellen Haaren seltener vorkam, braune - wie er? Aber er konnte ihr Gesicht im diffusen Licht der Straßenlampen nur schemenhaft erkennen. Nur ihre Hände sah er deutlich. Lang und schmal, umfassten sie das Lenkrad, und steuerten den Wagen in bewundernswerter Ruhe durch die Straßenschluchten Megalaias. Er verzog das Gesicht. Er selbst besaß keinen Führerschein, hatte weder Zeit noch Geld für den Erwerb gehabt … und hätte sich, davon abgesehen, ohnehin kein Auto leisten können. Die Frau warf ihm einen flüchtigen Blick von der Seite zu – und missdeutete seine grimmige Miene als Folge der Schmerzen. „Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange!“ Kurz darauf bogen sie in eine der ruhigeren Seitenstraßen im Zentrum Megalaias ein und hielten vor einem gepflegten Apartmenthaus an. „Wir sind da.“ Räuber rannte voran, die Treppe hinauf, in den ersten Stock. Nantai und die Frau folgten deutlich langsamer. Oben angekommen, stand Nantai schwer atmend vor der Tür und verfluchte im Stillen seinen erbärmlichen Zustand, während die Frau nach dem Schlüssel kramte. Dann fiel sein Blick auf das silberfarbene Schild neben der Tür. ‚D. Miller’ stand dort - und wieder schmunzelte er. Trotz Schwäche und Schmerzen. Er wusste nicht einmal ihren Namen! ..und sie nicht den seinen. Sie räusperte sich. „Darf ich?“, schob ihn sanft zur Seite, und steckte den Schlüssel ins Schloss. „Bitte nach Ihnen…“ Erneut stürmte Räuber voran, während Nantai nur zögerlich folgte. Er fühlte sich wie ein Eindringling, als er durch die kleine Diele ins Wohnzimmer trat, wo Räuber neben dem leeren Futternapf Stellung bezogen hatte. Er blickte sich um. Das Zimmer war groß und mit Küchenzeile, Sofa, und schlichten Holzmöbeln ausgestattet, die gut zu den üppig wuchernden Pflanzen vor dem großen Fenster passten. Erst als die Frau ins Zimmer trat und zum Kühlschrank eilte, löste er den Blick von der grünen Pracht. Beobachtete, wie sie eine angebrochene Dose herausnahm und den Inhalt in Räubers Napf leerte. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Nantai zu. „Jetzt sind Sie an der Reihe! Bitte machen Sie den Oberkörper frei und legen sich dorthin, damit ich Sie untersuchen kann!“ Sie wies auf das Sofa. Er zog sein Hemd aus, und legte sich wie befohlen hin. Wartete ergeben, bis sie mit einer dunklen Tasche aus dem Badezimmer zu ihm kam. „Zuerst muss ich die Wunden desinfizieren…“ Sie kramte ein Fläschchen und sterile Tücher aus der Tasche. „Das wird jetzt ziemlich brennen“ warnte sie, und tränkte eins der Tücher mit einer dunklen Flüssigkeit. Er spürte rasch, wie berechtigt diese Warnung war. Ein solch stechender Schmerz schoss durch seinen Körper, dass er sich unwillkürlich verkrampfte. Sie hielt inne. „Soll ich Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben?" Nantai nahm einen tiefen Atemzug, und richtete Blick und Gedanken auf einen unsichtbaren, weit entfernten Punkt. Nun würde er die Prozedur besser ertragen. „Nein. Machen Sie weiter.“ Endlos lange Zeit verging, bis sie das Tuch endlich weglegte. Doch als er sich erleichtert aufsetzen wollte, hielt sie ihn zurück. „Das war leider nicht alles“ sagte sie ernst. „Einige Ihrer Wunden sind nämlich so tief, dass sie genäht werden müssen. Und dazu muss ich Sie in ein Krankenhaus bringen.“ Er stöhnte. Niemals! „Ich gehe weder in ein Krankenhaus, noch zu einem Arzt!“ erwiderte er entschieden. „...dann müssen meine Wunden eben auf andere Weise heilen.“ Diese Antwort hatte sie befürchtet. „Sie sollten sich das gut überlegen, mit solchen Verletzungen ist nicht zu spaßen!“ unternahm sie den hoffnungslosen Versuch, ihn umzustimmen. Und erklärte erst, als ihr dies nicht gelang, und auch nur sehr widerstrebend, sie könne das Nähen selbst übernehmen. „Eigentlich darf ich das ohne Zulassung als Ärztin nicht.“ Sie seufzte. „Aber noch weniger darf ich Sie unversorgt lassen.“ „Genug geredet!“ Er schloss die Augen. „Fangen Sie endlich an.“ „Soll ich Ihnen diesmal ein Schmerzmittel geben?“ Sie fragte, obwohl sie auch diese Antwort bereits ahnte. „Nein.“ Sie machte ihre Sache wirklich gut. Nur einmal zuckte er kurz zusammen, als sie zu nähen anfing. Danach lag er vollkommen reglos, schlug die Augen erst wieder auf, als sie ihm den Verband angelegt hatte und aufzuräumen begann. „Vielen Dank. Selbst ein zugelassener Arzt hätte das nicht besser gekonnt als Sie.“ „Keine Ursache.“ Sie lächelte schwach. „Allerdings hat mich diese Geschichte mehr Kraft gekostet, als ich dachte. Ich muss dringend ins Bett.“ „Und ich?“ „Sie schlafen auf dem Sofa, ich hole Ihnen jetzt eine Decke und ein Schmerzmittel – nur zur Sicherheit“ fügte sie hinzu, weil er die Stirn runzelte, „nur für den Fall, dass Sie wegen der Schmerzen nicht schlafen können.“ Schon stand sie wieder mit einer Decke und einem dunklen Fläschchen vor ihm. „Dieses Mittel ist ziemlich stark.“ Sie stellte das Fläschchen vor Nantai auf den Tisch, und musterte ihn prüfend. „Zehn Tropfen sollten Ihnen genügen.“ Das Licht der Lampe über dem Sofa fiel sanft auf ihr Gesicht... Und zum ersten Mal fand er jetzt die Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten. Ihre Augen waren grün - nicht blau, wie er vermutet hatte - und leuchteten trotz der Müdigkeit wie zwei Smaragde, stachen unter den goldenen Locken hervor, die ihr ungeordnet in die Stirn fielen. Sie gefiel ihm. Sehr sogar - obwohl ihre Gesichtszüge ein wenig zu grob und unregelmäßig geraten waren, um sie schön zu nennen. Sein Blick streifte über ihre vollen Lippen, die wohl geformte Nase, und das mit einem frechen Grübchen versehene, recht energisch wirkende Kinn. Sie errötete, als er sie so unverhohlen anstarrte, und versuchte etwas hilflos, ihre Verlegenheit zu überspielen. „Brauchen Sie noch etwas?“ „…Ich… ich kenne Ihren Namen noch nicht...“ Nantai stotterte. Mit einem Mal war auch er verlegen. „Oh, tatsächlich! Sie haben Recht!“ Sie sah ihn verblüfft an. „…Ich heiße Dorothea Miller, aber fast alle nennen mich Doro. Doch angesichts der besonderen Umstände könnten wir eigentlich zum ’Du’ übergehen.“ Er lächelte. Angesichts der Umstände hatte sie vollkommen Recht. „Ich heiße Nantai.“ Doro verabschiedete sich ein wenig überhastet, und verschwand bald darauf in ihrem Schlafzimmer. Auch Räuber, der bisher ruhig auf seiner Decke gelegen hatte, erhob sich jetzt, und trottete zur Schlafzimmertür, legte sich dicht davor auf den Boden. Wollte er damit zeigen, dass Doro unter seinem Schutz stand? Nantai seufzte leise. „Keine Angst. Deine Besitzerin ist absolut sicher vor mir…“ Es hatte Zeiten gegeben, in denen er Doro nicht so rasch hätte gehen lassen… Aber diese Zeiten waren lange vorbei – und im Augenblick hatte er ohnehin andere Sorgen. Müde und erschöpft, suchte er sich nur noch eine Position, in der er das Pochen der Wunden nicht mehr so sehr spürte. Und war nach wenigen Minuten eingeschlafen.