Читать книгу Die Wälder von NanGaia - Sabine Roth - Страница 12
Gefühlswirren
ОглавлениеNantai erwachte, weil eine Tür leise ins Schloss fiel.
Die Sonne schien ins Zimmer. So hell, dass sie ihn blendete…Aber das Fenster seiner Wohnung zeigte nach Norden.... Verdutzt rieb er sich die Augen und blickte um sich. Wo in aller Welt war er?
Dann erst kehrte die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück, und er setzte sich auf. Ein wenig zu eilig - denn der stechende Schmerz in der Brust warf ihn sofort wieder zurück. „Verdammt“, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen - und unternahm einen zweiten, deutlich vorsichtigeren Versuch.
Doro war bereits aufgestanden.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand weit offen. Und auf dem Esstisch vor der Kochnische fand er einen Zettel mit der flüchtig hin gekritzelten Nachricht: „Ich hole Brötchen, bin gleich wieder da. Koch schon mal Kaffee, Gruß Doro“.
Sehr lange und sehr nachdenklich starrte er auf das Papier - und legte es mit einem bedauernden Lächeln wieder zurück. „Es tut mir Leid, Dorothea Miller, aber du musst heute alleine frühstücken.“
Ihre Abwesenheit kam ihm sehr gelegen. Weil er die Wohnung nun ohne Erklärung verlassen konnte – obwohl er wusste, wie unhöflich dies war, nach allem, was sie für ihn getan hatte.
Er versuchte, sich einzureden, er wolle Doro nicht länger zur Last fallen, sie sei sicher froh, wenn sie sich nicht mehr um ihn kümmern musste...
Und belog sich selbst damit.
Denn er floh vor der Erkenntnis, wie sehr ihn die jüngsten Ereignisse aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Nachdem sein Körper sich wieder erholt hatte, spürte er die tiefe Erschütterung seiner Seele umso mehr, die nach Trost verlangte - und ihn bei der jungen Frau zu suchen schien, die in der Nacht so zufällig in sein Leben getreten war.
Viel zu nahe war Doro ihm in seinen unruhigen Träumen gewesen.
Und diese Nähe machte ihm Angst.
Seltsam... hatte er nicht zu Beginn des Studiums die Nähe so vieler Frauen freudig genossen? Warum fühlte er bei Doro jetzt den Drang, wegzulaufen?
Was ist nur mit mir los? Wehmütig dachte er an die Zeit zurück, in der er solche Skrupel nicht gekannt hatte…an den Abend, an dem alles begonnen, an dem er zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen hatte… Nicht lange zuvor hatten ihn die Freunde noch geneckt. „Es ist allerhöchste Zeit, dass du deine Unschuld verlierst, Nantai, und es gibt keinen Ort, an dem die Chancen dafür besser stehen als in diesem Club. Dort warten die Mädchen doch nur auf einen hübschen Kerl wie dich!“ Und dies nur, weil er ihnen am Abend zuvor - schon deutlich angetrunken – erzählt hatte, dass er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen war. Zuerst hatten sie ihm nicht glauben wollen, „...ein attraktiver Kerl wie du, in deinem Alter?“ dann jedoch beschlossen, diesen untragbaren Zustand baldmöglichst zu beenden, und den Widerstrebenden in eine Diskothek geschleppt, die als Treffpunkt für jene galt, die ein Abenteuer suchten. Anfangs hatte er sich schrecklich unsicher gefühlt, und nicht gewagt, eine Frau anzusprechen, hatte neidvoll zugesehen, wie die Freunde erfolgreich auf Eroberungszüge gingen. Bis er irgendwann alleine an der Bar gesessen, und nur noch auf das Ende des Abends gewartet hatte. Doch dann hatte sich dieses Mädchen zu ihm gesetzt - Tanja. Hübsch, sympathisch und sehr direkt, hatte sie ihn die Hemmungen rasch vergessen lassen. Und schon bald war er mit ihr nach Hause gegangen - verfolgt von den ungläubigen Blicken der Freunde. Er hatte Tanja noch einige Male getroffen - bis sie irgendwann einvernehmlich festgestellt hatten, dass zu wenig sie verband. Doch hatte die Begegnung mit ihr ihm eine Welt eröffnet, in die er sich von nun an bedenkenlos gestürzt hatte. Er schüttelte den Kopf. Konnte nicht fassen, dass dies tatsächlich viele Wochen lang sein Leben gewesen war. Er hatte es eben noch zur rechten Zeit beendet. Doch nun hatten ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht die Schattenseiten des Lebens bewusst gemacht, das er seitdem führte. Viel zu wohl hatten ihm Doros Wärme und Fürsorge getan, …und ihn erkennen lassen, wie sehr er die Nähe eines anderen Menschen vermisste. Wie sehr die Einsamkeit, obwohl selbst gewählt, an ihm zehrte. Mühsam zwang er sich zur Vernunft. Es war sinnlos, in dieser Stadt auf die Art von Nähe zu hoffen, die er suchte. Zudem würde er nicht mehr lange in Megalaia bleiben, nur noch, bis seine Gabe erwachte - und dies würde nun bald geschehen. Es war besser, wenn er ging. Sofort. Ehe Doro vom Einkaufen zurückkam. Misstrauisch beäugt von ihrem Hund, fügte er Doros Nachricht einige rasche Zeilen hinzu, in denen er sich herzlich bedankte, ihr viel Glück für die Zukunft wünschte - und log, er habe wegen eines wichtigen Termins gehen müssen. Aber Nantai hatte die Rechnung ohne Räuber gemacht. Lange Zeit hatte der Hund ruhig auf seinem Platz gelegen und ihn aufmerksam beobachtet. Doch im selben Moment, in dem Nantai sich zur Wohnungstür aufmachte, sprang Räuber auf, stellte sich ihm empört bellend in den Weg - und beruhigte sich erst wieder, als Nantai den Rückzug antrat. Und legte sich dann, anstatt Nantai ins Wohnzimmer zu folgen, vor der Eingangstür auf den Boden –machte jeden weiteren Gedanken an eine Flucht zunichte. „Was soll das denn? Bin ich etwa dein Gefangener?“ Fassungslos starrte Nantai auf die Tür, die ihm versperrt war. Nun würde er sich dem Aufruhr in seinem Innern stellen müssen. „Verdammt!“ Mit einem lauten Fluch eilte er zum Tisch, wo der Zettel mit seiner Abschiedsbotschaft lag, zerriss das Papier zornig in kleine Fetzen, und warf es in den Mülleimer. Am liebsten würde er Doro nach der Rückkehr wegen ihres Hundes zur Rede stellen... Aber dann müsste er seinen eiligen Aufbruch begründen. Die Notlüge zu schreiben, war ihm leicht gefallen - Doro offen anzulügen, war eine andere Sache. Sie würde die Lüge durchschauen, noch ehe er zu reden begann. Ihm blieb also nur, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und mit ihr zu frühstücken… Irgendwie würde er diese Mahlzeit überstehen…Er musste ja nicht lange bleiben. Seufzend stellte er Kaffee auf, und deckte den Frühstückstisch mit allem, was er finden konnte: Wurst, Käse, Marmelade, Honig und Butter. Und war eben fertig, als Doro in die Wohnung trat, eine große Papiertüte in der Hand, aus der es verlockend nach frisch gebackenen Brötchen roch. Während Räuber seine Besitzerin mit freudigem Schwanzwedeln begrüßte, bedachte Nantai den Hund mit einem grimmigen Blick. Du falsches Biest! Plötzlich schien Räuber das friedlichste Wesen der Welt zu sein. Tat, als könne er kein Wässerchen trüben. „Du hast ja schon Frühstück gemacht, Nantai!“ Doro strahlte, als sie den liebevoll gedeckten Tisch erblickte. Doch als sie Nantais grimmige Miene sah, wich ihr Strahlen Besorgnis. „Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Hast du Schmerzen?“ „Nein, keine Sorge. Ich bin ganz okay, danke.“ Nantai wusste nicht so recht, wo er hinsehen sollte. Ihre Nähe verunsicherte ihn über alle Maßen. Verflixter Köter! Ohne dich wäre ich schon längst weg! Zu seiner Erleichterung beachtete Doro ihn nicht mehr. Räubers Kopf tätschelnd, ging sie mit dem Hund zur Küche, packte die Brötchen aus, und stellte sie in einem geflochtenen Körbchen auf den Tisch. Nantai nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz. Und verwünschte seine Unsicherheit, als sie ihm erneut ein strahlendes Lächeln schenkte. „Ich habe einen Bärenhunger! Du etwa nicht? Weißt du eigentlich, dass schon beinahe Mittag ist?“ „Ja, ich weiß“ murmelte er. „Ich bin schon lange nicht mehr so spät aufgestanden wie heute.“ „Kein Wunder. Du warst furchtbar erschöpft, nachdem, was du gestern Nacht erlebt hast.“ Und plötzlich verschwand ihr Lächeln, wurde ihre Stimme ernst. „Jemand hat dich gestern fast umgebracht, Nantai! Das darfst du nicht auf sich beruhen lassen. Du musst zur Polizei gehen und Anzeige erstatten!“ Er schüttelte heftig den Kopf. Warum drängte sie so sehr? Hatte er ihr nicht deutlich gesagt, dass er nicht zur Polizei ging? Und hoffte inständig, dass sie das Thema nun auf sich beruhen ließ. Aber Doro ließ nicht locker. „Du solltest dir das gut überlegen. Oder willst du den oder die Angreifer tatsächlich ungestraft davonkommen lassen?!“ Er schwieg. Starrte sie nur mit zusammengepressten Lippen an. Lass mich endlich in Ruhe! Aber Doro erhörte sein stummes Flehen nicht. „Möchtest du denn gar nicht über diese Geschichte reden?“ drang sie weiter in ihn. „Nein, Doro!“ Seine Stimme klang härter, als er wollte. „Ich möchte weder darüber reden, noch möchte ich zur Polizei gehen - und wenn du mir wirklich helfen willst, lässt du mich damit jetzt bitte in Ruhe!“ Selbst ein wenig erschrocken über die Heftigkeit seines Ausbruchs, hätte er sich noch im selben Augenblick am liebsten auf die Zunge gebissen. Doro hatte ihm geholfen, es war nicht fair, sie auf diese Weise anzugehen! Aber diese Einsicht kam zu spät. Mit Tränen in den Augen starrte Doro ihn an. „Es tut mir Leid…ich wollte doch nur…“ Er begriff, wie sehr er sie verletzt hatte, bedauerte er sein Verhalten noch mehr. Und plötzlich drängte es ihn mit aller Macht, Doro in den Arm zu nehmen, und sich bei ihr zu entschuldigen… Doch er tat es nicht. Sah stattdessen hilflos zu, wie sie um Fassung rang. Und atmete erleichtert auf, als sie sich wieder beruhigt hatte, und wortlos Kaffee in ihre Tasse goss. Eine ganze Weile hockten sie einander stumm gegenüber, und aßen, jeder mit sich selbst beschäftigt - bis das schlechte Gewissen Nantai keine Ruhe mehr ließ. „Doro“, wagte er den Versuch einer Entschuldigung, „mein Benehmen eben tut mir fürchterlich Leid. Nachdem du dich so sehr um mich gekümmert hast, sollte ich etwas mehr Dankbarkeit zeigen.“ Und sagte wieder das Falsche. „Ich erwarte keine Dankbarkeit von dir, Nantai“ entgegnete sie, kühler als kühl. „Schließlich hätte ich dasselbe für jeden anderen getan. Und damit du mich und meine lästigen Fragen nicht mehr länger ertragen musst, werde ich mir gleich nach dem Frühstück deine Verletzungen ansehen, und dich danach nach Hause fahren. Dann bist du frei, kannst wieder tun und lassen, was immer du willst.“ Verdammt noch mal, was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Nantai verzweifelte an sich selbst. Anstatt die Situation zu klären, hatte er alles nur noch schlimmer gemacht. Aber auch Doro haderte mit sich. „Du solltest mehr Verständnis zeigen, und ihn in Ruhe lassen, Dorothea Miller“, schalt sie sich in Gedanken, „Wie würdest du dich fühlen, wenn dich gestern Nacht jemand fast umgebracht hätte? Würdest du einem völlig Fremden dein Herz ausschütten, nur weil er dir zufällig geholfen hat? Nein! Also nimm dich zusammen und spiel nicht wegen einer solchen Lappalie die Gekränkte.“ Sie durfte nicht zornig sein, wenn er sich zu Dankbarkeit verpflichtet fühlte. Und noch weniger durfte sie sich gekränkt fühlen, weil er sich ihr nicht anvertrauen wollte. Schließlich kannten sei einander kaum. Sie entschied, der unguten Stimmung ein Ende zu bereiten. „Wir sollten jetzt über andere Dinge reden“ schlug sie vor. „Ich hasse es, wenn der Tag mit Streit beginnt.“ Und als Nantai erleichtert auf ihr Friedensangebot einging, entspann sich rasch eine lockere Unterhaltung, in deren Verlauf er erfuhr, dass Doro ihr Medizinstudium im nächsten Jahr abschließen würde - die Erklärung für die professionelle Behandlung seiner Verletzungen in der Nacht. Doro hingegen war sichtlich überrascht, dass auch er studierte. „Was hast du danach vor?“ wollte sie wissen. „Möchtest du in der Forschung oder lieber in der Industrie arbeiten?“ Keine Sekunde lang dachte sie daran, er könne die Stadt wieder verlassen. Wozu hätte er dann studiert? „Das weiß ich noch nicht.“ Nantai wich der Antwort aus. Wie sollte sie verstehen, dass er sein Leben nicht in dieser Stadt verbringen wollte, auch wenn er hier studierte? Dass er wegen einer Botschaft der Geistwesen hier war, nur auf das Erwachen seiner Gabe wartete, und die Heimkehr mehr als alles andere herbeisehnte? …Hatte sie jemals von Geistwesen oder Gaben gehört? Rasch stellte er die Gegenfrage. „Und du? Was willst du nach Abschluss deines Studiums machen?“ Doro zuckte mit den Schultern. Sie hatte Pläne gehabt, aber diese hatten sich vor kurzem zerschlagen…„So, wie es aussieht, werde ich zunächst in einem Krankenhaus arbeiten.“ Danach war es nur noch Nantai, der Antworten gab. Schon als Kind war Doro von der Welt der Eingeborenen fasziniert gewesen, sodass sie, nachdem das Eis zwischen ihnen gebrochen war, die Gelegenheit nutzte, sich diese Welt von jemandem schildern zu lassen, der in ihr gelebt hatte. Und Nantai, den ihr Interesse sichtlich freute, beantwortete geduldig jede ihrer zahllosen Fragen. Bis ihr schließlich keine mehr einfiel. „Danke für deine Geduld, Nantai, das war sehr eindrucksvoll“ meinte sie am Ende lächelnd, - und zugleich ernüchtert. „… aber ich verstehe noch immer nicht, dass jemand wie du, auf eine solch primitive Weise leben konnte. Megalaia muss dir ja wie ein Paradies erscheinen!“ Nantai verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen. Wie sollte er ihr - einer Stadtbewohnerin - jemals erklären, dass Megalaia ihm keineswegs wie ein Paradies erschien, und dass er die Heimat trotz der Annehmlichkeiten der Stadt so sehr vermisste? …Es war besser, er versuchte es gar nicht erst. Weil das Gespräch plötzlich ins Stocken geriet, warf Doro einen Blick auf die Uhr - und stellte erschrocken fest, wie viel Zeit bereits vergangen war. Sie habe eine wichtige Verabredung, erklärte sie Nantai rasch, und müsse vorher mit dem Hund nach draußen. Deshalb werde sie jetzt seine Wunden kontrollieren, und ihn danach wie versprochen nach Hause fahren. Die Vorstellung, sie zu verlassen, versetzte ihm einen heftigen Stich. Nur widerstrebend zog er das Hemd aus und legte sich rücklings aufs Sofa. Versuchte verzweifelt, das Rumoren in seinem Innern vor Doro zu verbergen. Doch als sie sich zu ihm setzte, und seine Wunden - sehr vorsichtig - abzutasten begann, ließ ihn allein diese zarte Berührung zusammenzucken. Doro erschrak. „Entschuldige Nantai, ich wollte dir nicht wehtun!“ „Es geht schon wieder“ murmelte er. Oder sollte er ihr den wahren Grund nennen? Gestehen, dass es nicht Schmerz war, was ihn quälte? „Deine Wunden heilen schon.“ Doro lächelte ihm aufmunternd zu. „Ich glaube nicht, dass sich noch Komplikationen ergeben werden. Nicht, wenn du Folgendes beachtest….“ Sie erteilte ihm eine ganze Reihe von Anweisungen, während sie seinen Verband erneuerte. Wie oft er diesen wechseln musste, welche Komplikationen eintreten könnten, was er zu tun hatte, falls dies geschah, ….. Doch obwohl sein Blick wie gebannt an Doros Lippen hing, war er zu sehr mit dem Aufruhr in seinem Innern beschäftigt, um ihren Worten zu folgen. Irgendwann bemerkte sie, dass er nicht zuhörte. „Was denkst du dir eigentlich, Nantai?“ Ihre grünen Augen funkelten vor Zorn. „Schließlich geht es um deine Gesundheit, und nicht um meine. Außerdem kann ich mir im Augenblick Besseres vorstellen, als dir Vorträge zu halten, die dich nicht einmal zu interessieren scheinen!“ Seine Antwort bestand in einem breiten Grinsen. Er konnte nicht anders. Weil auch er sich im Augenblick Besseres vorstellen konnte, als ihr nur zuzuhören …. Außerdem sah sie umwerfend aus, wenn sie wütend war, wie jetzt! Das zornige Funkeln in Doros Augen verstärkte sich unheilvoll. „Machst du dich etwa über mich lustig?“ fragte sie mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme. Nantais Grinsen erlosch sofort. „Oh nein“ beteuerte er, „das liegt mir vollkommen fern. Bitte sei mir nicht böse.“ Mühsam richtete er sich auf, wollte irgendetwas Nettes sagen. Und zuckte im selben Moment heftig zusammen - diesmal wegen der Schmerzen. Doros Miene veränderte sich sofort. Zorn wich ehrlicher Besorgnis, als sie ihn an den Schultern fasste und vorsichtig aufs Sofa drückte. „Du sollst liegen bleiben, verdammter Sturkopf“ schalt sie erstaunlich sanft. Und hielt ihn dabei fest. Einen winzigen Moment zu lange... Denn ihre fast zärtliche Berührung und der Klang ihrer Stimme ließen ihn die Beherrschung verlieren. Ohne den Bruchteil einer Sekunde nachzudenken, zog er Doro zu sich hinab - und küsste sie. Sie fuhr zurück, wie von einer Tarantel gestochen. Starrte ihn fassungslos an. Einen Moment lang dachte er gar, sie werde ihn schlagen. Aber dann sprang sie auf, rannte ins Schlafzimmer, und schlug die Tür hinter sich zu. Und er blieb zurück, schrecklich ernüchtert - und vollkommen entsetzt über sich selbst. Was ist nur in mich gefahren? Habe ich jetzt endgültig den Verstand verloren? Doro hatte ihm geholfen, als er Hilfe mehr als dringend gebraucht hatte. Und wie dankte er ihr? …Indem er ihre Würde verletzte! Indem er eine Grenze überschritt, die er niemals hätte überschreiten dürfen! Und weil er nicht im Erdboden versinken konnte, was er am liebsten getan hätte, blieb ihm nur noch, sie sofort zu verlassen - und ihr nie wieder unter die Augen zu treten. Hastig streifte er das zerrissene Hemd über. Nichts wie weg von hier! Doch wie zuvor verhinderte Räuber, dass er Doros Wohnung verließ. Der Hund schien einen siebten Sinn für seine Absichten zu besitzen, und hatte wieder Stellung vor der Wohnungstür bezogen. Diesmal wirst du mich nicht aufhalten! Das drohende Knurren ignorierend, packte Nantai Räuber am Halsband, und wollte ihn von der Tür wegziehen, mit der Folge jedoch, dass der Hund aufgebracht nach seiner Hand schnappte. Erschrocken wich Nantai zurück. „Verdammtes Biest, lass mich endlich gehen!“ brüllte er in hilflosem Zorn. „Ich muss sofort von hier verschwinden.“ „Musst du nicht!“ Er fuhr herum, und erblickte Doro, die ihn mit unergründlicher Miene ansah. „Sag deinem Hund bitte, dass er mich gehen lassen soll!“ flehte er. Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Erst, wenn du mir gesagt hast, was das eben sollte!“ Nantai fügte sich in sein Schicksal. Was sollte er auch anderes tun? „Was willst du denn hören?“ Er seufzte resigniert. „…dass ich mich schrecklich daneben benommen habe?“ Ein trauriges Lächeln glitt über sein Gesicht. „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mein Verhalten bereue, Doro. Ich kann dich nur aus tiefstem Herzen um Verzeihung bitten – und dir hoch und heilig versprechen, dich nie wieder zu behelligen! Und jetzt lass mich bitte gehen!“ „Du machst es dir sehr einfach, Nantai!“ Seine Miene spiegelte grenzenlose Verblüffung wider….Doro wirkte weder zornig noch verletzt. „Du bist ja gar nicht wütend auf mich!“ stellte er verwundert fest. „Ich weiß nicht, was ein Kuss in den Wäldern bedeutet, Nantai. Denn hier in Megalaia kann er sehr viel bedeuten – doch ebenso gar nichts. Deshalb möchte ich wissen, warum du mich geküsst hast. Du kannst mich nicht küssen - und danach kommentarlos verschwinden.“ Für einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache. Dann erschien wieder das traurige Lächeln in seinem Gesicht. Wenn Doro wissen wollte, warum er sie geküsst hatte… dann sollte sie es erfahren. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Und küsste sie. Legte all seine Sehnsucht in diesen Kuss. Und hegte, für einen winzigen Moment, die verwegene Hoffnung, sie würde ihn erwidern. Aber sie reagierte nicht. Stand reglos wie eine Statue, bis er sie freigab. „Jetzt weißt du, wie mein Kuss gemeint war!“ murmelte er, in der schrecklichen Gewissheit, nun tatsächlich etwas Unverzeihliches getan zu haben. Doro sank auf ihr Sofa und vergrub stöhnend den Kopf in den Armen. Im selben Moment gab Räuber seine Stellung vor der Tür auf. Trottete zu ihr hin, und legte winselnd den Kopf auf ihre Knie. Als spüre er, wie dringend sie Trost brauchte. „Bitte verzeih mir!“ Vollkommen zerknirscht, versuchte Nantai zu retten, was nicht mehr zu retten war. „Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist.“ Doro hob langsam den Kopf. „Du musst dich nicht entschuldigen, Nantai. Ich habe es ja förmlich darauf angelegt“ erwiderte sie müde. Aber dann holte sie tief Luft, und erhob sich. „Ich fahr dich jetzt nach Hause - wenn du dich umgezogen hast.“ Ohne Nantai eines weiteren Blickes zu würdigen, lief sie ins Schlafzimmer und kehrte kurz darauf mit einem hellblauen Jeanshemd zurück, das ihr einige Nummern zu groß war. „Das könnte dir passen.“ „Woher hast du das denn?“ fragte er. Ohne zu überlegen. Wieder einmal. „Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht, Nantai.“ Doros kühle Antwort wies ihn in die Schranken. Ließ ihn begreifen, ohne dass sie es aussprach, dass es schon jemanden in ihrem Leben gab. Wie hatte er jemals glauben können, sie sei alleine? Hatte er sie nicht schon oft genug mit ihrem Partner gesehen? Ich bin ein Idiot! Missbilligend starrte er auf das blaue Stück Stoff in seiner Hand. Hätte es am liebsten zerfetzt. Andererseits hatte Doro Recht. Mit seinem zerrissenen und blutverschmierten Hemd würde er viel zu viel Aufmerksamkeit erregen. Doch als er das fremde Hemd schließlich anzog, fühlte er entsetzt, wie heftig sich in ihm Eifersucht auf dessen Besitzer rührte. Zum Glück sorgte Räuber jetzt für Ablenkung. Der Hund hatte erkannt, dass sich seine Besitzerin zum Gehen bereit machte, und stand bereits freudig bellend vor der Tür. Drängte so sehr nach draußen, dass Doro entgegen ihrer ursprünglichen Absicht entschied, ihn mitzunehmen. Und dann saßen sie wieder in Doros Wagen. …Waren tatsächlich nur Stunden vergangen, seit sie ihn im Park aufgelesen, und mit nach Hause mitgenommen hatte? Kannte er sie tatsächlich erst solch kurze Zeit? Nantai starrte stumm aus dem Fenster, in der Gewissheit, dass sein Leben ihm gerade vollkommen entglitt. Mit einem Mal sehnte er sich nach der vertrauten Einsamkeit seiner Wohnung. Dorthin, wo er mit sich und seinen Gedanken alleine war. Irgendwann hielt Doro vor dem Wohnblock an, in dem er lebte. „Hier wohnst du also?“ Ihre Bemerkung beendete das Schweigen, und er nickte verlegen, wusste nicht, was er sagen sollte. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie heruntergekommen sein Zuhause wirkte. Und nie zuvor hatten ihn der bröckelnde Putz und die schiefen Fensterläden so sehr gestört wie jetzt, als Doro das Gebäude einer kritischen Musterung unterzog. „Also dann…“ Sie hatte ihre Betrachtungen beendet, und sah ihn an. Und plötzlich lag eine merkwürdige Anspannung zwischen ihnen. „Versprich, dass du mich sofort anrufst, wenn dir die Wunden Probleme bereiten“ fuhr sie rasch fort. „Du darfst dich auf keinen Fall selbst behandeln, falls sie sich entzünden sollten, oder falls du gar Fieber bekommst.“ Obwohl Doros Worte ehrlich klangen, glaubte er sie lediglich der Höflichkeit geschuldet. Entschlossen, ihre Hilfe auf keinen Fall mehr in Anspruch zu nehmen, nickte er dennoch. Er wollte sie nicht schon wieder vor den Kopf stoßen. Sie reichte ihm ihre Visitenkarte - „damit du meine Nummer weißt“ - und wünschte ihm gute Besserung. Er bedankte sich noch einmal bei ihr, und versicherte, das geliehene Hemd bald gereinigt zurückzusenden. Damit war alles gesagt. Er stieg aus dem Auto und ging zur Haustür. Steckte eben den Schlüssel ins Schloss, als er Doros Wagen starten hörte. Doch als er sich nach ihr umdrehte, war sie bereits verschwunden.