Читать книгу Die Wälder von NanGaia - Sabine Roth - Страница 4
Die Prophezeiung
ОглавлениеDie Luft flirrte noch von der Hitze des Frühsommertages, während sich die letzten der Sonnenstrahlen - leuchtenden Fingern gleich – ihren Weg durch das dichte Laub der Bäume suchten.
Bald stießen sie auf ein neues Hindernis. Ein Mann saß dort, und verwehrte ihnen den Weg zur Erde hinab. Sodass sie nun, des Suchens endlich müde, diesem Mann ihre Wärme schenkten. So zärtlich, als sei er ihnen seit langem vertraut.
Er bemerkte sie nicht.
Tief in Trance versunken, und der Welt entrückt, nahm er nichts von ihr wahr. Und wären nicht die tiefen Atemzüge, bei denen sich sein Brustkorb hob und senkte - man hätte ihn für eine Statue halten können.
Was ihn wohl an diesen Ort geführt hatte, der fern jeglicher Behausung lag?
Um die dreißig, weder groß noch klein, und eher drahtig als muskulös, sah er aus wie alle Bewohner der Wälder. Und wie sie, trug auch er an einem heißen Tag wie diesem lediglich Beinkleider aus Leinen.
Sein Oberkörper hingegen war unbedeckt.
Seine bronzefarbene Haut glänzte seidig im Abendlicht, ebenso seine Haare, die - blauschwarz schimmernd - an das Gefieder eines Raben erinnerten, und ihm als dichter dunkler Vorhang auf die Schultern fielen.
Ein gewöhnlicher Waldbewohner war er dennoch nicht.
Denn seine Miene strahlte eine Würde und Ernsthaftigkeit aus, die nicht seinem Alter entsprach.
Achak war ein Schamane.
Einer der Auserwählten, denen die Geistwesen Zugang zu ihrer Welt gewährten.
Doch heute war er zum ersten Mal nicht gekommen, um für sein Volk zu bitten. Er bangte um das Leben seiner Frau - und um das seines ungeborenen Kindes.
Dabei waren Pohawe und er vor wenigen Wochen noch so hoffnungsvoll und glücklich gewesen …
… „die Geistwesen haben unser Flehen endlich erhört, Liebster!“
Pohawe hatte ihn geweckt. Mit einem wunderschönen Lächeln, an einem wunderschönen Frühlingsmorgen, erfüllt von Blumenduft, und vom Gesang der Vögel. An einem Morgen voller Leben.
Er hatte sofort gewusst, wovon sie sprach. Dass nun das Kind in ihr wuchs, auf das sie seit der Geburt der Tochter vor vier Jahren hofften.
„Wann?“ hatte er gefragt, und Pohawe voll Freude an sich gedrückt.
Aber schon bald war ein dunkler Schatten auf ihr Glück gefallen. Ein rätselhaftes Fieber hatte seine Frau erfasst, sie auf ihr Lager gezwungen, und sie mit jedem Tag mehr geschwächt.
Als niemand das Fieber lindern konnte, als selbst die alten Rituale versagten, hatte die Hebamme ihn zu sich gerufen.
„Euer Kind ist verflucht, Schamane - deine Frau wird sterben, wenn sie es austrägt!“ hatte sie den Zaudernden gedrängt. „Pohawe ist bereit, den notwendigen Schritt zu gehen – allerdings nur, wenn du dein Einverständnis erklärst.“
Es gab Kräuter, die dafür sorgten, dass ein Kind lange vor der Zeit geboren wurde. Sie würden die Mutter retten – das Ungeborene jedoch zum Tod verurteilen.
Nie würde Achak das Gesicht der Hebamme vergessen, als er sich geweigert hatte, ihrem Rat zu folgen. „Ich werde mein Kind nicht töten!! Nicht, solange es noch einen Funken Hoffnung gibt!“ hatte er ihr entgegen geschleudert, und war aufgebracht zu Pohawe geeilt. Wie hatte sie diese Möglichkeit nur einen Moment lang erwägen können?
Aber die tiefe Trauer in den Augen seiner Frau hatte seinen Groll rasch schwinden lassen. Er hatte sich zu ihr gesetzt und ihr tröstlich übers dunkle Haar gestrichen.
„Du weißt, dass ich mein Leben geben würde, um deines zu retten, Liebste. Aber ich möchte unser Kind noch nicht aufgeben!“
Schluchzend hatte sich Pohawe an ihn geschmiegt. „Ich wünsche mir ebenso sehr wie du, dass unser Kind lebt, Achak. Aber ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Meine Kraft geht zu Ende, und ich habe schreckliche Angst zu sterben.“
Er hatte ihr versichert, dass es noch Hoffnung gab, dass er zu den Geistwesen gehen, und sie um Hilfe bitten werde.
„Und wenn sie ihre Hilfe versagen?“ Voller Zweifel hatte Pohawe ihn angeblickt. „Sollst du deine Gabe denn nicht allein für das Wohl deines Volkes nutzen?“
„Sie werden uns helfen“ hatte er behauptet, auch wenn er sich dessen keineswegs sicher war. „Sie schenkten uns dieses Kind nicht nach all den Jahren, um es uns so rasch wieder zu nehmen!“
Noch in derselben Stunde war er aufgebrochen, zu dem Ort tief in den Wäldern, an dem er die Geistwesen nahe wusste.
Drei Tage und Nächte lang hatte er dort gefastet und getanzt, um sie günstig zu stimmen.
Nun blieb ihm nur noch, zu warten.
Ein letztes Mal tauchte die Sonne die Welt in flammendes Rot, ehe sie hinter dem Horizont verschwand.
Wenig später senkte sich die Dunkelheit über den Wald und verdrängte die letzten Reste von Tageslicht. Und mit ihm schwand die Hitze.
Achak nahm Abkühlung und Finsternis ebenso wenig wahr, wie er zuvor die Hitze wahrgenommen hatte. In sich selbst gefangen, fühlte er nur, dass seine Kräfte erschreckend rasch schwanden.
Bald würde er die Verbindung zur anderen Weltseite verlieren - und wie es schien, zum ersten Mal ohne Antwort von ihr bleiben.
Warum sprachen die Geistwesen nicht mit ihm? Zürnten sie ihm, weil er für sich selbst bat, und nicht für sein Volk? Oder hatte die Hebamme Recht? War sein Kind tatsächlich verflucht?
Das darf nicht sein! Hört mich an! Bitte! Er sandte ihnen einen letzten, verzweifelten Hilferuf. Versuchte ein letztes Mal, das Schicksal des ungeborenen Kindes zu wenden. Bündelte ein letztes Mal die schwindenden Kräfte. Vergeblich. Das Leben in seinen Augen erlosch, als er die Verbindung zur anderen Weltseite verlor. Wie blind starrte er hinaus in die Nacht, ohne etwas zu sehen. Bis die Enttäuschung ihn schließlich einholte, und er in sich zusammensank, das Gesicht in den Händen verborgen. Er wusste nicht mehr, wie lange er dort saß, von Trauer und Schmerz gelähmt, als ein sachter Windhauch ihn streifte. Er hob den Kopf. War dies am Ende, worauf er so verzweifelt gehofft hatte? Oder gaukelte ihm die Verzweiflung diese Wahrnehmung nur vor? Aber dann folgten dem Windhauch die wohl vertrauten, melodischen Klänge, und brachten ihm Gewissheit. Die Geistwesen waren gekommen! Leuchtenden Strömen gleich, woben sie nun Bilder in die Dunkelheit – die Antwort auf seine Fragen. Er sah die Wälder. Sah einen gewaltigen Schatten, der sich drohend über die grünen Wipfel legte. Sah das Bild einer Stadt. Gewaltig wie der Schatten, aber weniger bedrohlich, erhob sie sich, glänzend und kühl, aus einer endlos scheinenden Ebene. Eine seltsame Stadt… denn in ihrer Mitte ragte ein riesenhafter Baum empor. Doch dann verflüchtigte sich ihr Bild bereits, wie die beiden zuvor, wie Nebel, der im Sonnenlicht schwindet. Die Geistwesen kehrten in ihre Welt zurück. Doch ehe sie ihn verließen, sprachen sie zu ihm. Er hörte ihre Stimmen in seinem Geist, hörte Worte, die Hoffnung und Sorge zugleich in ihm weckten. Er schloss die Augen und versuchte, ihre Botschaft zu entschlüsseln. Denn die Worte der Geistwesen waren deutlich gewesen, ihre Bedeutung über jeden Zweifel erhaben. Anders jedoch die Bilder, die ihn vor ein Rätsel stellten. Doch fehlte ihm die Zeit, dieses Rätsel zu lösen. Er musste nach Hause, zu Pohawe. Rasch. Sie brauchte ihn. Er lief viele Stunden, wie beseelt, und ohne sich eine Pause zu gönnen. Und erreichte, am Ende seiner Kräfte, sein Dorf am Nachmittag des folgenden Tages. Voller Angst, zu spät zu kommen. Er war viele Tage lang fort gewesen - zu viele? Atemlos verharrte er vor der Hütte, in der er Pohawe zurückgelassen hatte, und horchte nach drinnen. Und hörte - nichts. Nur das aufgeregte Pochen des eigenen Herzens. Und plötzlich zögerte er hineinzugehen, wartete noch, bis sein Herzschlag ruhiger geworden war, und sein Mut größer als die Angst. Erst dann schlug er den Vorhang am Eingang zur Seite, und trat ein. Er sah Pohawe sofort. Sie lag im Halbdunkel, in eine Decke gehüllt, und schlief. Aber sie wirkte so schwach, dass er ohne die Botschaft der Geistwesen jegliche Hoffnung verloren hätte. Die Hebamme, die bei Pohawe wachte, kannte die Botschaft der Geistwesen nicht. Vom nahen Tod der jungen Frau überzeugt, starrte sie den Schamanen böse an, zeigte ihm deutlich, wen sie dafür verantwortlich machte. Doch Achak fehlte die Kraft zu streiten. „Lass uns bitte allein“ sagte er müde. Auf eine Weise jedoch, die keinen Widerspruch duldete. Die Hebamme schnaubte zwar unwillig. Aber sie erhob sich, und ging zum Eingang der Hütte. Wandte sich erst dort wieder um. „Ich werde draußen warten, falls du mich brauchst“ murmelte sie, in einem letzten Versuch, ihre Stellung zu behaupten. Sie war diejenige, die die Schwangeren im Dorf betreute, nicht er! Sie verfügte über das entsprechende Wissen, nicht er! Es war ihre Aufgabe, sich um Pohawe zu kümmern, und nicht seine! Nur, weil er über die Macht der Schamanen verfügte, wagte sie nicht, sich ihm zu widersetzen. Sobald der Vorhang hinter ihr zufiel, überfiel ihn die Erschöpfung mit ungeahnter Macht. Kraftlos sank er neben Pohawe zu Boden und betrachtete sie besorgt. Sie fieberte hoch, schien förmlich zu glühen. Die sanften Wangen waren stark gerötet, die Lippen, trocken und rissig, halb geöffnet. Er sah Pohawes Lider flattern, als erwache sie jeden Moment. Aber sie schlief so fest, dass sie nicht reagierte, als er die Hand prüfend auf ihre Stirn legte. Er hätte sich so gerne zu ihr gelegt und sie seine Nähe spüren lassen – hätte so gerne ihre Nähe gespürt. Aber dann wäre er sofort eingeschlafen, und er wollte wach sein, wenn ihr Schlaf zu Ende ging. Also beließ er die Hand auf Pohawes Stirn, versuchte, ihr mit seinen Kräften die Hitze zu nehmen, und sah ihrem unruhigen Fieberschlaf mit wachsender Sorge zu… wie sie sich schweißgebadet von einer Seite auf die andere wälzte, wie sie die Hände stöhnend auf den gewölbten Leib legte. Fühlte sie nach dem Leben, das darin wuchs? Er hörte sie Worte murmeln, die er nicht verstand. Doch dann schien seine Nähe endlich Wirkung zu zeigen, denn sie wurde ruhiger, und ihr Körper verlor an Hitze, wenn auch nicht viel. Auch ihre Lider zuckten jetzt, stärker als zuvor, öffneten sich - und schlossen sich wieder. Aber nur für einen Augenblick. Dann erwachte Pohawe - und starrte verwirrt auf den Mann, der an ihrem Lager hockte. Wer war er? Und warum schaute er sie mit solch ernster Miene an? Sekunden vergingen, ehe sie ihn erkannte. Im selben Moment huschte ein zartes Lächeln über ihr Gesicht, und sie versuchte, sich aufzurichten. „Bitte bleib liegen!“ Achak drückte sie sanft auf ihr Lager zurück. „Du musst deine Kräfte für unseren Sohn bewahren!“ „Für unseren Sohn?“ fragte sie verblüfft. Aber dann begriff sie, und ihre Augen begannen zu leuchten. „Die Geistwesen sprachen zu dir!!“ „Ja, das taten sie.“ Achak lächelte. „Und sie sagten, dass dem Kind, das du unter deinem Herzen trägst, ein großes Schicksal verhießen ist!“ Ungeachtet aller Sorgen konnte er seinen Stolz nicht mehr länger verbergen. „Unser Sohn trägt eine Gabe in sich, Pohawe, gewaltige Kräfte, gegen die dein Körper sich wehrt. Diese Kräfte sind der Grund, warum das Fieber dich quält. Doch die Geistwesen sagten, dass du ein gesundes Kind gebären wirst, wenn du die Angst vor diesen Kräften verlierst. Sie sagten, du seiest stark genug, es auszutragen, und solltest dich nicht fürchten!“ Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen. „Du weißt nicht, welche Last du von mir nimmst, mein Geliebter! Ich fürchtete so sehr, unser Kind sei krank oder trage gar Böses in sich.“ Sie bat ihn, sie nicht mehr alleine zu lassen. Und er blieb bei ihr, Tag und Nacht. Senkte ihr Fieber mit Umschlägen, und flößte ihr Brühe ein, als sie wieder Nahrung zu sich nahm. Hielt sie tröstend im Arm, wann immer sie an ihrer Schwäche zu verzweifeln drohte, und heiterte sie mit Geschichten auf. Dennoch dauerte es Tage, bis Pohawe wieder bei Kräften war. Aber dann blühte sie auf, wie viele schwangere Frauen es tun. Und das Fieber kam nicht wieder. An einem kühlen Morgen im Herbst begab sich das Kind auf den Weg in die Welt. Zunächst waren die Wehen so schwach, dass Pohawe weiterhin ihrer täglichen Arbeit nachging. Erst um die Mittagszeit rief sie nach der Hebamme, die die Hütte bezog, um ihr Beistand zu leisten. Und wie alle anderen werdenden Väter seines Volkes wurde auch Achak jetzt nach draußen geschickt und dazu verdammt, das Geschehen tatenlos zu verfolgen. Hilflos hörte er zu, wie Pohawe sich quälte, wenn eine Wehe ihren Körper durchlief, wenn die Hebamme beruhigend auf sie einredete. Fühlte sich seltsam ausgeschlossen, fast überflüssig, wenn er die beiden Frauen in den Pausen dazwischen reden, manchmal sogar miteinander lachen hörte. Es war auch sein Kind, das in die Welt drängte! Warum konnte er nicht bei Pohawe sein? Warum musste er vor der Hütte warten, wie ein Fremder? Viel mehr noch als bei der Geburt der Tochter wünschte er jetzt, er könne Pohawe beistehen. Viel mehr noch als damals haderte er mit dem Denken seines Volkes, eine Geburt sei allein Sache der Frauen. Und viel mehr noch als damals verwünschte er die endlosen Stunden hilflosen Wartens - auch wenn Freunde und Verwandte ihm dabei immer wieder Gesellschaft leisteten. Weil seine Geduld diesmal auf eine noch härtere Probe gestellt wurde als damals. Aus unerfindlichen Gründen weigerte sich sein Sohn, den schützenden Leib der Mutter zu verlassen. Obwohl Pohawes Wehen immer stärker wurden, und die Abstände zwischen ihnen immer kürzer. Obwohl er nach jeder Wehe mehr auf den erlösenden Schrei des Kindes wartete, auf den Ruf der Hebamme, in die Hütte zu kommen, und das Neugeborene zu begrüßen. Doch jedes Mal wartete er vergeblich. Wurde mit jeder Minute unruhiger, die verging. Irgendetwas verlief nicht so, wie es sollte. Das spürte er deutlich. Irgendwann, als die Nacht schon weit vorangeschritten war, und die Zahl derer, die mit ihm ausharrten, immer kleiner, trat die Hebamme endlich aus der Hütte und winkte ihn zu sich. Allerdings nicht, um ihm die Geburt seines Sohnes zu verkünden. „Ich weiß nicht mehr weiter“ gestand sie sichtlich besorgt. „Alles scheint normal zu sein. Das Kind liegt richtig, und die Wehen sind längst kräftig genug, um es nach draußen zu bringen. Aber irgendetwas hält es im Leib seiner Mutter fest, und Pohawe will nicht zulassen, dass ich es hole – obwohl ihre Kraft zu Ende geht.“ Sie zögerte, und er sah, wie schwer ihr die nächsten Worte fielen. „Sie verlangt nach dir. Bitte geh zu ihr und überrede sie, dass ich das Kind hole!“ Damit gestand sie nicht nur ihre Hilflosigkeit ein, sie verstieß auch gegen sämtliche Gepflogenheiten ihres Volkes. Doch er fragte nicht nach dem Grund, sondern eilte zu seiner erschöpften Frau. „Wie geht es dir?“ fragte er, und bemühte sich dabei vergeblich, seine Sorgen vor ihr zu verbergen. „Du musst keine Angst um uns beide haben.“ Pohawe lächelte. „Jetzt wird alles gut. Dein Sohn hat nur auf dich gewartet.“ Verblüfft öffnete er den Mund. Aber noch ehe ein Wort seine Lippen verließ, packte Pohawe seine Hand und drückte sie fest. Sie spürte die letzte Wehe kommen und deren Kraft unaufhaltsam zunehmen, sie musste den Druck weitergeben, der ihren Körper zu zerreißen drohte, weil das Kind nun mit aller Macht aus ihrem Leib drängte. Achak spürte seine Hand taub werden. Sah Pohawe den Kopf zurückwerfen, und lauschte ihrem nicht enden wollenden Schrei - erschrocken, und zugleich fasziniert von den Kräften, die in ihr wirkten. Er war so gebannt, dass er nicht bemerkte, wie die Hebamme in die Hütte stürzte und sich zu Pohawes Füßen niederließ. Begriff erst, als seine Frau auf ihr Lager zurücksank, und er das Schreien des Babys vernahm, dass sein Sohn endlich geboren war. Hilflos und verwirrt sah er zu Pohawe hinüber. Aber seine Frau hatte keine Augen mehr für ihn. Mit einem Mal vollkommen entspannt, hing ihr Blick nur noch an dem schreienden Bündel, das die Hebamme routiniert säuberte und einer ersten Untersuchung unterzog, ehe sie es der Mutter gab. „Du hast einen wunderschönen Sohn geboren, Pohawe!“ Strahlend legte Pohawe das Kind an ihre Brust, wo es sofort zu saugen begann. Und wieder fühlte sich Achak seltsam überflüssig. Mutter und Kind wirkten wie eine Einheit, durch unsichtbare Bande aneinandergeschweißt, die nichts und niemand mehr auflösen konnte. Ob er jemals eine solch enge Verbindung zu seinem Sohn haben würde? Doch als Pohawe ihn zärtlich anlächelte, und seine Hand nahm, schwand dieses Gefühl wieder. „Wie geht es ihm? Ist alles, wie es sein soll?“ fragte er, an die Hebamme gewandt. „Euer Sohn ist gesund und kräftig!“ Doch trotz der guten Nachricht war die Laune der Frau düster. Sie haderte mit sich, weil sie keine Zeit mehr gefunden hatte, den Schamanen aus der Hütte zu weisen. Weil er nun, entgegen aller Gepflogenheiten, der Geburt des Kindes beigewohnt hatte - und jeder wusste, welche Konsequenzen dies für eine Ehe nach sich zog. Dass ein Mann auf seine Frau herabsah, nachdem er sie in dieser Lage erlebt hatte, und sie nicht mehr begehrte. Ihr Unmut schwand jedoch, als sie sah, mit welcher Hingabe der Schamane seine junge Frau und das Neugeborene betrachtete. Wie zärtlich er Pohawe streichelte, und wie liebevoll er sie küsste. Immer wieder. Er war weder schockiert, noch schien er Pohawe zu verachten! Das Gegenteil war geschehen. Noch niemals hatte sie ihn Pohawe mit solcher Hochachtung begegnen sehen. Als habe er erkannt, welches Wunder sie soeben vollbracht hatte. Deutlich versöhnlicher gestimmt, verließ sie die Hütte - ohne dass drinnen jemand Notiz davon nahm. „Wie geht es dir?“ Achak fragte Pohawe, zum ungezählten Mal, und noch immer sehr beeindruckt, hörte gar nicht mehr auf, ihr Gesicht zu streicheln. „Ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr!“ Pohawe küsste ihn, zum ungezählten Mal. Lächelte. „Trotzdem solltest du den anderen endlich unseren Sohn zeigen, wie es der Brauch ist. Sonst erfrieren sie noch!“ Achak grinste verlegen. Er hatte die draußen wartenden Freunde vollkommen vergessen. Rasch wickelte er das Kind in eine warme Decke, nahm es auf den Arm, und trug es vor die Hütte. Hob es dort in die Höhe, damit alle es sahen, und verkündete voller Freude die Geburt seines gesunden Sohnes. Und lächelte sichtlich berührt, als sich das kleine Bündel in seinen Armen heftig zu regen begann, und energisch nach der Mutterbrust verlangte. „Dein Sohn scheint einen starken Willen zu besitzen“ rief jemand. „Du wirst später sicher deine Mühe mit ihm haben!“ Gelächter brach aus, das erst verklang, als Achak die Beruhigungsversuche aufgab und in die Hütte zurückkehrte, wo er Pohawe das Kind übergab. Die Menge vor der Hütte zerstreute sich. Bald würden sie gemeinsam die Ankunft des Kindes feiern, und dabei den Schutz der Geistwesen für sein Leben erbeten. Auch der Himmel über den Wäldern schien die Ankunft des Kindes zu feiern, denn er hatte sich in festlich samtenes Schwarz gehüllt, in dem Abertausende von Sternen wie kostbare Diamanten funkelten. Doch selbst sie verblassten, als ein Schwarm von Sternschnuppen über dem Dorf hernieder ging und die Nacht für wenige Augenblicke wie ein Feuerwerk erhellte, ehe er sich wieder im Dunkel verlor. Wurde ein Kind unter dem Sternenregen geboren, war es nach dem Glauben der Waldvölker zu Besonderem erwählt. Aus diesem Grund erhielt der Junge den Namen Nantai. Ein Name, der nur den großen Führern gebührte.