Читать книгу Die Wälder von NanGaia - Sabine Roth - Страница 6
Auf der Suche
ОглавлениеZwei Jahre vergingen, in denen die Geburt von zwei Brüdern die größte Veränderung in Nantais Leben bedeutete.
Die Sommerferien waren zu Ende. Wieder einmal.
Und wieder einmal blickten Achak und Pohawe dem Jungen staunend hinterher, der sich fröhlich winkend auf den langen Weg zur Schule machte. War dies wirklich derselbe Nantai, der zu Beginn seiner Schulzeit in Threetrees jedes Mal beim Abschied geweint, sich schluchzend an die Mutter gedrückt, und inbrünstig gefleht hatte, bei ihr bleiben zu dürfen?
Kopfschüttelnd zog Achak seine Frau an sich. Und gab ihr jetzt zum ersten Mal offen Recht. „Es ist gekommen, wie du sagtest, Liebste. Nantai hat seinen Weg in den Wäldern gefunden. Es war gut, dass er nicht nach Megalaia ging“ sagte er mit einem nachdenklichen Lächeln.
Doch anstatt sich über seine Worte zu freuen, lehnte Pohawe ihren Kopf an Achaks Schulter und seufzte. Das unbeschwert Kindliche in Nantai schien mit jedem Tag rascher verloren zu gehen. Viel früher als bei den anderen Kindern im Dorf. Viel zu früh, in ihren Augen.
„Bedauerst du etwa, dass Nantai uns mittlerweile so willig verlässt?“ fragte Achak irritiert.
„Nein, das tue ich nicht.“ Pohawe seufzte erneut. „Aber ich sehe mit Sorge, wie sehr er sich in den vergangenen Wochen gewandelt hat.“
Auch Achak war diese Veränderung nicht entgangen. Doch er sah sie mit anderen Augen als seine Frau. „Er wird sich noch viel mehr verändern, Pohawe.
Und schon bald wird er den nächsten Schritt auf seinem Weg zum Manne tun.“ Er lächelte bedeutungsvoll. „Du weißt, wovon ich spreche.“
Der Herbst nahte - und mit ihm Nantais zwölfter Geburtstag, an dem er sich wie alle Waldbewohner dem ersten Ritus seines jungen Lebens unterzog.
Pohawe wusste, dass Achak große Erwartungen an dieses Ereignis knüpfte. Denn er hatte durch diesen Ritus von seiner Bestimmung zum Schamanen erfahren – und hoffte nun, dasselbe würde auch seinem Sohn geschehen.
Während sie selbst diese Möglichkeit tief in ihrem Herzen fürchtete. Viel zu jung erschien ihr Nantai für das große Schicksal, das ihm die Geistwesen prophezeit hatten.
Nantai hatte wie alle jungen Waldbewohner für den Ritus schulfrei erhalten und kehrte einige Tage zuvor aus Threetrees zurück. Doch zur Verblüffung aller wählte er nicht den üblichen Weg, um sich auf die Zeremonie vorzubereiten. Anstatt sich der Obhut der Eltern anzuvertrauen, wie alle, verließ er seine Familie jeden Morgen, um im Wald zu verschwinden. Erst am Abend kam er wieder, müde, hungrig, und ohne zu sagen, was er erlebt hatte.
Niemand ahnte, dass er stundenlang unter den Bäumen umhergestreift war, weil es ihm nur auf diese Weise gelang, den für den Ritus so wichtigen inneren Frieden zu finden.
Doch als er am Morgen seines Geburtstages den Versammlungsplatz betrat, war er ruhig und gelassen - trotz der vielen Menschen, die auf ihn warteten.
Schritt ohne Angst auf Achak zu, der ihm aufmerksam entgegen sah.
Es war die Aufgabe des Schamanen, den Ritus durchzuführen, und Achak hatte dies schon viele Male getan. Doch heute war er angespannt wie nie zuvor. Würde nun geschehen, worauf er hoffte? Würde Nantai von seiner Bestimmung erfahren, so wie er selbst damals?
Lächelnd hielt er dem Sohn eine Schale entgegen. „Bist du bereit?“
Nantai nickte, nahm die Schale, setzte sie an die Lippen, und leerte sie in kleinen Schlucken. Der Trank würde ihn für die Trance bereit machen, in die der Vater ihn nun versetzte, So, wie es bei dem Ritus seit Urzeiten geschah.
Was danach folgte, war jedoch ungewiss.
…Manchmal musste die Zeremonie abgebrochen werden, weil ein Kind in Panik geriet, wenn sein Geist zum ersten Mal den Körper verließ.
Doch selbst jenen, die dieses Erlebnis genossen, wurde fast immer verwehrt, was Achak einst erlebt hatte.
Er war bei diesem Ritus zum ersten Mal den Geistwesen begegnet. Damals hatten sie zum ersten Mal mit ihm gesprochen.
Nantai gab dem Vater die leere Schale zurück.
Der lächelte wieder. „Jetzt wirst du zum ersten Mal deinen Geist für die andere Welt öffnen, mein Sohn!“
Und wieder handelte Nantai, wie sie erwarteten. Setzte sich, von freudiger Erwartung und Stolz warm durchflutet, während Achak gegenüber Platz nahm und den Blick fest auf ihn richtete.
Nun würde es beginnen.
Doch als der Trank Nantais Denken zu lähmen begann, als der mächtige Geist des Vaters seine Sinne gefangen hielt, verließ ihn die Gelassenheit plötzlich. Panik schoss in ihm hoch, ungestüm und heftig, als er sich instinktiv dagegen wehrte, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.
Aber nur für einen winzigen Moment.
Dann siegte sein Wille über die Angst, und die Panik machte einer neuen Empfindung Platz. Einer, die seine Seele zutiefst berührte. Denn zum ersten Mal erlebte er jetzt, wie sich sein Geist vom Körper löste, der schwer und träge am Boden zurückblieb, während er selbst in eine andere Welt eintauchte - …so fremd und bizarr, dass seine Sinne sie nicht zu erfassen vermochten.
Fasziniert und verloren zugleich, versuchte er, sie irgendwie zu begreifen…
und sah plötzlich eine Woge ungeheurer Energie auf sich zu rollen.
Er fühlte noch, wie sie ihn erfasste…und ihn mit sich riss….wie er tiefer und tiefer fiel.
Dann fühlte er nichts mehr.
„Nantai!“
Pohawes Schrei gellte durch die Luft - und im nächsten Moment sprang sie auf, und rannte zu Achak, der sich besorgt über den Besinnungslosen beugte. Nantais Zusammenbruch war so unerwartet erfolgt, dass er die Trance nicht mehr hatte abbrechen können.
Doch zu beider Erleichterung begann sich ihr Sohn bereits zu regen, öffnete nur wenig später die Augen - und blickte verwirrt in die sorgenvollen Mienen der Eltern. „Was ist geschehen?“
Er konnte sich noch das wundersame Gefühl erinnern, als er den eigenen Körper verließ, und an die seltsame Welt, die sich ihm danach aufgetan hatte.
An mehr jedoch nicht.
„Du hast das Bewusstsein verloren“ erwiderte Achak.
Nantai starrte ihn mit großen Augen an. „Warum?“
„Das hoffte ich von dir zu erfahren.“
Enttäuscht schüttelte der Junge den Kopf. „Ich weiß es nicht...“ Seine Miene verdüsterte sich abrupt. „Habe ich versagt, Vater? War ich für den Ritus nicht stark genug?“
Achak schmunzelte. Nein, mit Schwäche oder gar Versagen hatte diese Ohnmacht nichts zu tun, dessen war er sicher. Nantais Reaktion konnte nur mit seiner Gabe zusammenhängen, die sich heute zum ersten Mal gezeigt hatte.
Aber noch hatte er darüber keine Gewissheit. Noch musste er schweigen.
„Was immer eben geschah, bedeutet keineswegs, dass du schwach bist, Nantai“ tröstete er. „Aber ich bin sicher, dass die Geistwesen uns schon bald den Grund für deine Ohnmacht nennen werden.“ Er streckte Nantai die Hand entgegen. „Und nun steh auf. Zuhause wartet ein Festmahl auf dich.“
Noch in derselben Nacht erhielt der Schamane die erhoffte Botschaft der Geistwesen. Aber sie nannten ihm nicht die Art von Nantais Gabe, wie er hoffte, sondern befahlen ihm, den Sohn von nun an in die Geheimnisse der Wälder einzuweihen.
Dies genügte Achak. Für ihn stand fest, dass Nantai zum Schamanen bestimmt war. So wie er selbst.
Am Morgen des folgenden Tages hörte Nantai zum ersten Mal von den großen Kräften, die in ihm schlummerten – und erfuhr, dass der Vater ihn die Geheimnisse der Waldvölker lehren würde.
„Das bedeutet, dass du ebenso zum Schamanen bestimmt bist wie ich“ schloss Achak voller Stolz. „Und du wirst einer der mächtigsten werden, die es jemals gab. Kein anderer wurde so früh in die alten Geheimnisse eingeweiht wie du - selbst ich musste nach dem Ritus noch zwei Jahre warten, ehe die Geistwesen mich für würdig befanden. Sie müssen wirklich Großes mit dir vorhaben!“
Nantai wusste nicht so recht, ob er sich über diese Aussichten freuen oder ob er sich fürchten sollte. Auch wenn es ihn mit Stolz erfüllte, dass die Geistwesen Großes mit ihm vorhatten, erschien ihre Welt ihm seit dem Ritual noch ein wenig unheimlicher als zuvor.
Doch weil er - so wenig wie der Vater - an seiner Bestimmung zum Schamanen zweifelte, willigte er sofort ein, als Achak vorschlug, mit dem Unterricht zu beginnen. Und nahm diese Lehren so begierig auf, dass er zum ersten Mal seit langer Zeit den Weg zur Schule nur widerstrebend antrat.
Doch als der Winter kam, und mit ihm die nächsten Ferien, gab es kein Halten mehr. Als habe er sein ganzes Leben darauf gewartet, stürzte er sich jetzt auf die neue Herausforderung. Keine Anstrengung erschien ihm zu viel, keine Entbehrung zu groß, um seiner Bestimmung zu folgen.
Er beklagte sich nicht, wenn er mitten in der Nacht aufstehen musste, oder Tage lang auf Nahrung verzichten. Nicht, dass nun jede Minute seines Lebens mit Lernen erfüllt schien. Nicht, dass er trotz strenger Kälte mit dem Vater in den Wald zog, anstatt in der warmen Hütte den Geschichten der Mutter zu lauschen wie früher. Nicht, dass ihm keine Zeit blieb, mit den Freunden durch den Schnee zu streifen und abenteuerliche Pläne fürs Frühjahr zu schmieden.
All dies vermisste er nicht.
Er wollte nur noch eines.
Lernen.
So viel wie möglich, und so rasch wie möglich.
Deshalb lehnte er empört ab, wenn Achak eine Pause vorschlug und wies den Vater darauf hin, dass am Ende des Winters die Schule wieder begann, und er die Zeit bis dahin nutzen musste. Er wollte keine Sekunde ungenutzt lassen. Wollte am liebsten gar nicht mehr schlafen.
Und als Achak das Tempo zu drosseln versuchte, wehrte er sich und verlangte energisch, ihn nicht zu schonen. „Ich kann das, Vater. Du musst mir vertrauen!!"
Aber auch Pohawe, vom großen Eifer ihres Sohnes mehr als bekümmert, versuchte immer wieder, ihn zu bremsen. „Was du tust, kostet dich zu viel Kraft, Nantai! Lass dir Zeit! Bedenke, dass nur eine starke und gesunde Seele in der Lage sein wird, mit den Kräften umzugehen, die in dir wohnen.“
Vergeblich.
Nantai erklärte kühl, er sei kein Kind mehr, und wisse genau, was er tue, sie brauche sich nicht zu sorgen. Außerdem lehre nicht sie ihn, sondern der Vater.
Doch der war hin und her gerissen.
Obwohl er Pohawes Bedenken teilte, war er zugleich ungemein fasziniert von Nantais Willenskraft, und von der Leichtigkeit, mit der Nantai die alten Lehren aufnahm. Sodass der Stolz des Vaters schließlich über die Bedenken siegte, und er zu Pohawes Unwillen dem Drängen des Sohnes nachgab.
Eine Zeitlang sah sie dem Treiben stillschweigend zu - bis sie eines Abends die Abwesenheit der Kinder nutzte, um mit Achak zu reden.
„Ich sehe mit Stolz, wie eifrig Nantai bemüht ist, seiner Bestimmung gerecht zu werden, und wie überaus fähig er sich dabei zeigt“ begann sie vorsichtig -und registrierte zufrieden, dass sie Achaks Aufmerksamkeit sofort gewann.
„…Trotzdem mache ich mir Sorgen um ihn - was du zum meinem Kummer nicht zu tun scheinst.“
Der Schamane runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass Nantai sehr viel von sich verlangt, und dass er für diese Herausforderung sehr jung ist. Aber du vergisst, dass er über besondere Fähigkeiten verfügt. Zudem hätten die Geistwesen mir nicht befohlen, ihn zu lehren, wenn sie ihn nicht stark genug wüssten.“
Pohawe war anderer Ansicht.
„Die Geistwesen sind nicht am Wohl unseres Sohnes interessiert“ erwiderte sie ernst. „Denn sie betrachten die Welt mit anderen Augen als wir. Sie kennen weder Mitgefühl, noch zählt das Schicksal eines Menschen für sie. Mir hingegen bedeutet Nantai sehr viel - und ich will nicht, dass seine Seele leidet, weil er sich zu viel zumutet.“
Achak wies ihren unterschwelligen Vorwurf empört zurück. „Wüsste ich, dass Nantais Seele leidet, würde ich mich anders verhalten, Pohawe! Oder glaubst du, dass ich ihn weniger liebe als du? Glaubst du, ich würde von ihm etwas verlangen, was ihm schadet?“
Pohawe hatte ihn nicht verletzen wollen.
„Das wollte ich damit nicht sagen“ entschuldigte sie sich sofort. „Ich weiß, dass du Nantai nicht schaden willst. Doch im Gegensatz zu dir glaube ich nicht, dass er auf dem Weg, den er jetzt geht, sein Glück finden wird.“
„Mir scheint eher, dass du nicht hinnehmen willst, dass er trotz seiner Jugend kein Kind mehr ist, Pohawe.“ In Achaks Stimme schwang ein deutlicher Vorwurf mit. „Für dich ist Nantai immer noch der Junge, der an deiner Schulter Trost suchen müsste. Aber das tut er nicht – obwohl er deine Unterstützung noch immer braucht. Lass ihn bitte niemals spüren, dass du an ihm zweifelst!“
Seine Worte trafen Pohawe tief.
Zwar sagte er zu Recht, sie wolle Nantai noch nicht loslassen. Sie sah tatsächlich nicht gerne, wie rasch sich der Sohn von ihr entfernte. Dennoch lagen ihre Bedenken nicht darin begründet. Ihre ausgeprägte Intuition, die sie vieles sehen ließ, das anderen verborgen blieb, sagte ihr, dass Nantais Weg ihm großes Leid bringen würde.
Sie wollte ihn nicht für sich behalten.
Sie wollte ihn nur vor diesem Leid beschützen.
Und ahnte tief in ihrem Innern bereits, dass sie dies nicht konnte.
Nur deshalb widersprach sie Achak nicht, was er als Zeichen ihrer Zustimmung betrachtete. Froh, dass der Streit beendet war, nahm er sie in den Arm. Pohawe und er waren nur selten verschiedener Meinung, und es bedeutete ihm sehr viel, dass sie ihn gerade in dieser wichtigen Angelegenheit unterstützte.
Und sie beließ ihn in seinem Glauben.
Sie redete sich ein, dass sie Nantais Kräfte unterschätzte. Dass die Geistwesen nichts von ihm verlangten, was er nicht leisten konnte.
Nur deshalb widersprach sie nicht, als Nantai am nächsten Morgen trotz eisiger Kälte erneut mit dem Vater in die Wälder zog, um seine Fähigkeiten auszubilden. Nur deshalb schwieg sie, als er am Abend erschöpft, aber glücklich zurückkehrte, weil er einen weiteren Teil der Ausbildung erfolgreich hinter sich gebracht hatte.
Obwohl sich ihr Herz bei seinem Anblick schmerzvoll zusammenzog.
Nantai glühte förmlich vor Ehrgeiz! Glaubte er tatsächlich, dass er umso rascher Zugang zu seiner Gabe fand, je mehr er sich quälte?
Erst der Schulbeginn im Frühjahr setzte seinem Eifer ein vorläufiges Ende. Unwilliger denn je machte er sich auf den Weg nach Threetrees. Die Schule hatte für ihn jede Bedeutung verloren. Sein ganzes Streben galt nun dem Ziel, seine verborgenen Fähigkeiten zu wecken.
Und als er mit Beginn der Sommerferien nach Hause zurückkehrte, fuhr Achak mit der Ausbildung fort.
Nantai lernte zu meditieren, und seinen Geist zu befreien. Er lernte viele Tage lang ohne Nahrung zu bleiben, und dadurch seine Sinne zu schärfen. Lernte die Kräuter des Waldes und ihre Wirkung kennen, und welche Tränke man aus ihnen braute. Lernte die Art der Kräfte zu begreifen, die in den Wäldern wirkten, und wie sie das Leben der Waldbewohner bestimmten.
Und dann, als sich die Ferien dem Ende zuneigten, begann der Vater endlich, auch sein Wissen über die Welt der Geistwesen mit ihm zu teilen.
Doch es war Winter geworden, ehe er Nantai die Worte der Ewigen Sprache anvertraute, die den Zugang zur anderen Welt ermöglichten.
Und wieder Sommer, als er Nantai in die Geheimnisse der Geist einweihte.
Und auch dieses Wissen sog Nantai so rasch und gierig in sich auf, dass er den Ältesten ihres Volkes schließlich bat, ihn bei der Ausbildung seines Sohnes zu unterstützen.
Und dennoch.
Trotz seines übergroßen Eifers, und trotz der Unterstützung durch nunmehr zwei Lehrer, fand Nantai weder in diesem Jahr, noch in den folgenden einen Zugang zur anderen Weltseite.
Und auch seine Gabe entzog sich weiterhin seinem Zugriff.
Trotz aller Bemühungen blieben ihm beide Tore verschlossen.
Kein Wunder, dass er zu zweifeln begann - am meisten an sich selbst, aber auch an seiner Bestimmung.
Kein Wunder, dass er sich selbst, und vor allem den Vater, immer häufiger mit bohrenden Fragen quälte.
Zu Anfang gelang es Achak noch, Nantai die Zweifel zu nehmen, indem er darauf hinwies, dass er trotz seiner Jugend über ein immenses Wissen verfüge, und stolz auf sich sein könne. Nantai müsse sich Zeit geben, sagte der Schamane, manchmal dauere es, bis die Geistwesen ihre Welt für einen der Auserwählten öffneten. Und was seine Gabe betreffe: diese müsse so mächtig sein, dass sie sich wohl erst zeige, wenn er stark genug sei, sie zu beherrschen.
Doch als Jahr um Jahr verstrich, ohne dass dergleichen geschah, als sich das Tor zur anderen Weltseite noch immer nicht öffnen wollte, begann auch Achak zu ahnen, dass der Weg seines Sohnes ein anderer war, als er glaubte.
Nantai war nicht zum Schamanen bestimmt. Sonst hätten die Geistwesen ihm längst den Zugang zu ihrer Welt gewährt.
Auch Nantais Zweifel waren nun größer denn je. Was war seine Bestimmung, wenn nicht die eines Schamanen? Und worin bestand seine Gabe? Warum hatte er bis heute weder ihre Art erkannt, noch Zugang zu ihr gefunden?
Wie sollte er sie jemals nutzen können, wenn sie sich vor ihm verschloss?
Und noch schlimmere Zweifel quälten ihn.
Hatte der Vater die Prophezeiung der Geistwesen falsch verstanden?
Besaß er gar keine Gabe? Jagte er seit Jahren nur einem Hirngespinst nach?
Meist verwarf er solche Gedanken sofort wieder. Der Vater war den Geistwesen so nahe wie niemand, und hatte sich noch nie in ihren Botschaften geirrt!
Manchmal ließen sich solche Gedanken aber nicht so leicht abschütteln.
Zeigt sich meine Gabe nicht … weil ich ihrer nicht würdig bin? All diese Zweifel waren der Grund, aus dem Nantai seinem zwanzigsten Geburtstag nicht mit Freude entgegensah, wie all anderen, sondern mit Furcht. Nicht, weil er sich an diesem Tag einer geheimnisvollen Prüfung unterziehen musste – jeder hatte sie bestanden, obwohl sie als hart galt. Er fürchtete, was nach dieser Prüfung folgte. Weil der Älteste ihn danach an einen Ort führte, an dem er zum ersten Mal den Geistwesen begegnen würde. Weil sie ihm dort den Lebensweg weisen würden. Weil er fast sicher war, dass dieser Weg ein anderer sein würde, als der, den er ging. Und es dann keine Zweifel mehr an seinem Versagen geben würde. Dann würde ihn nicht einmal mehr die Tatsache trösten können, dass er am Ende dieses Tages in seinem Volk als erwachsen galt.