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Fremd

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Eine spannende und zugleich sehr verstörende Zeit begann. Zwar glich Megalaia in mancher Hinsicht seiner Heimat, war auf ihre eigene Art ein ebenso gewaltiger Lebensraum wie die Wälder - aufregend, voller Überraschungen und neuer Herausforderungen.

Und dennoch vollkommen anders als die Welt, die er kannte.

Und noch niemals hatte er sich so hilflos und verloren gefühlt wie jetzt.

Niemand kannte ihn. Niemand interessierte sich für ihn. Niemand kümmerte, was er tat. Er war nur ein winziges Teilchen in diesem gewaltigen Organismus, ein ziemlich unbedeutendes obendrein. Nur ein Tropfen in der gewaltigen Flut von Menschen, die sich täglich in die Straßen der Stadt ergoss.

Und wenn einmal, was selten geschah, jemand auf ihn aufmerksam wurde, dann nur, weil sein Äußeres ihn sehr deutlich als einen Bewohner der Wälder auswies. Der Bronzeton seiner Haut, die blauschwarzen Haare, die er entgegen der aktuellen Mode schulterlang, und meist offen trug, und nicht zuletzt die ungewöhnlich dunklen, leicht schräg gestellten Augen zeugten von seiner Herkunft, und sorgten dafür, dass er hin und wieder angesprochen wurde.

Manchmal aus reiner Neugierde.

Was hatte ihn nach Megalaia verschlagen, das so weit von seiner Heimat lag? Wie lange lebte er schon hier?

Manchmal schlug ihm aber auch Ablehnung entgegen, ja Feindseligkeit.

Ein ungebildeter Wilder habe in der Stadt nichts zu suchen, sagten sie, er solle zurück in die Wälder gehen, wo er hingehöre!

Solch abweisendes Verhalten war ihm fremd.

In den Wäldern waren Fremde Gäste, die man willkommen hieß, und denen man Respekt entgegen brachte, solange sie keinen Anlass zu anderem boten.

Aber das hatte er nicht getan. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen.

Ihre Ablehnung machte ihn zornig. Und sie verletzte ihn.

Doch am meisten quälte ihn, dass er sich viel zu oft tatsächlich wie ein ungebildeter Wilder fühlte. All sein Wissen über die Natur und ihre harten Gesetze, alle Kenntnis vom Überleben in der Wildnis nutzte ihm hier nicht.

Er wusste nicht, wie man Fahrpläne liest. Nicht, wie man Tickets am Automaten löst… nicht, welche Nahrungsmittel sich in den bunten Packungen der Supermarktregale versteckten… nicht, wie man sich in einem Restaurant verhielt. Er kannte weder Discotheken, noch Kinos, noch Theater.

Zudem litten seine vom Leben in der Wildnis geschärften Sinne ungemein unter der Flut der neuen Eindrücke.

So geschah es immer wieder, dass er einen der riesigen Supermärkte mit leeren Händen verließ, weil ihn die Fülle des Angebots schier erschlug. Dass er aus einem der überfüllten Busse flüchtete, weil er die Enge und den Lärm darin nicht mehr ertrug. Dass er heftig zusammenzuckte, weil neben ihm ein Auto hupte. Dass er gar im Gedränge der Menschen zu ersticken glaubte.

Erst mit der Zeit lernte er, seine Sinne vor diesen Reizen zu verschließen, und sich auf diese Weise zu schützen. Mit der Folge jedoch, dass er sich unvollständig fühlte. So, als habe man ihm einen wichtigen Teil seines Selbst genommen.

Mehr als einmal hockte er dann bis tief in die Nacht auf seinem Bett, ohne Schlaf zu finden. Fragte sich mehr als einmal, ob er die Botschaft der Geistwesen falsch gedeutet hatte. Wie sollte er unter diesen Umständen einen Zugang zu seiner Gabe finden?

Und versuchte sich damit zu trösten, dies sei eine weitere Prüfung auf dem Weg zu seiner Gabe.

Doch obwohl er sich am Ende erfolgreich durch diese Zeit kämpfte.

Obwohl er schließlich lernte, mit dem Leben in der Stadt zurecht zu kommen.

Obwohl er all diese Schwierigkeiten überwand.

Änderte sich eines nicht. Er war und blieb ein Fremder in Megalaia. War und blieb einsam, trotz der vielen Menschen in dieser Stadt.

Lange Zeit störte ihn dies nicht, schließlich war er nicht gekommen, um lange zu bleiben, hatte außerdem genug zu tun. Denn sein Zeugnis aus Threetrees, so gut es auch ausgefallen war, genügte für die Zulassung zur Hochschule nicht. Er musste einen der Kurse bestehen, die darauf vorbereiteten – und dieser war schwerer als gedacht.

Nantais Leben spielte sich fast ausschließlich zwischen der Schule und seiner Wohnung ab. Ihm blieb keine Zeit, Freunde zu finden, nicht einmal unter den anderen Kursteilnehmern, die mit den gleichen Problemen kämpften wie er, und von denen viele bereits nach kurzer Zeit aufgaben.

Doch am Ende wurde er für seine Mühen belohnt.

Als einer von wenigen erhielt er die ersehnte Zulassung für ein Studium.

Der erste Teil seines Plans war aufgegangen.

Die Zulassung in der Hand, betrat er nur wenige Tage später voller Stolz den imposanten Hochschulbau, um sich dort einzuschreiben. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hatte er das Gefühl, er sei zu Recht in dieser Stadt. Glaubte zum ersten Mal, hierher zu gehören.

Auch wenn sein Erscheinen rasch das Interesse der anderen Studenten weckte. Sie musterten ihn, neugierig, überrascht - und ungläubig. War er der einzige Eingeborene unter den vielen Menschen hier?

„Hast du dich nur verlaufen, ….oder willst du etwa studieren?“

Er studierte die Anzeigen auf dem Schwarzen Brett, als ihn jemand von der Seite ansprach. Zornig fuhr er herum – hatte nicht ein Hauch von Spott in dieser Stimme gelegen?

„Ist studieren für einen Waldbewohner etwa verboten?“

Der rotblonde junge Mann neben ihm trat erschrocken einen Schritt zurück. „Entschuldige bitte, das hatte ich nicht so gemeint“ stammelte er. „Es ist nur so, dass ich hier noch nie einen Waldbewohner getroffen habe – und dass du einer bist, ist ja kaum zu übersehen“ unternahm er den etwas hilflosen Versuch einer Rechtfertigung.

Nantai entspannte sich. Der andere schien ehrlich betrübt zu sein. „Ich muss mir recht häufig solche Bemerkungen anhören, und die allermeisten davon sind leider ernst gemeint“ erklärte er. „Tut mir Leid, wenn ich deshalb etwas heftig reagiert habe.“

„Dann bist du mir also nicht böse?“ hakte der Rotblonde besorgt nach.

Nantai lächelte. „Nein.“

„Das freut mich...“ sein Gegenüber grinste erleichtert. „..und deshalb werde ich dich jetzt zur Versöhnung zu einem Drink einladen, wenn du magst!“ Er streckte Nantai die Hand hin. „Mein Name ist übrigens Tom.“

Der offenherzige und unkomplizierte Tom war der erste Bewohner Megalaias, der sich für ihn interessierte, ohne in ihm den Exoten zu sehen. Und weil sein neuer Freund überaus gesellig war und ihn mit vielen anderen in Kontakt brachte, veränderte sich Nantais Leben auf eine Weise, die er niemals für möglich gehalten hatte.

Als sei er nur deshalb hier, stürzte er sich jetzt mit den neuen Freunden in die Vergnügungen Megalaias, zog nächtelang durch die Stadt - und verlor sein eigentliches Ziel dabei immer mehr aus den Augen... Auch wenn er sich zunächst bemühte, die Vorlesungen zu besuchen, und die spöttischen Kommentare der Freunde zu ignorieren - „Streber!“ - „Junge, was soll das? Das bringt doch nichts - genieße lieber dein Leben!“

Doch am Ende verhielt er sich wie sie, und schlief lange, anstatt zur Hochschule zu gehen.

Aus dem einstmals so ehrgeizigen, gewissenhaften und disziplinierten Eigenbrötler war jemand geworden, der die Nacht zum Tag machte, der dem Alkohol zusprach – und der seine neu entdeckte Anziehungskraft auf Frauen nach Kräften auskostete.

Die Wälder …seine Familie dort …das einfache und entbehrungsreiche Leben, das er so viele Jahre geführt hatte... All dies erschien ihm plötzlich unendlich weit entfernt.

Hatte er tatsächlich bis vor kurzem so gelebt, und sich dabei wohl gefühlt?

Hatte ihn die Einsamkeit verändert? War er durch sie ein anderer Mensch geworden? Oder hatte er lediglich eine bisher unbekannte Seite in sich entdeckt?

…Wer war er?

Doch wann immer er über diese Fragen nachdenken wollte, klingelte es, und die Freunde standen vor der Tür, um ihn abzuholen. Und schon fand er sich an einem anderen Ort wieder, lachend, mit einem Mädchen im Arm, von Feiernden umringt.

Und bei der Heimkehr war er entweder viel zu müde, um sich den Kopf zu zerbrechen - oder nicht allein, und hatte Besseres zu tun.

Auf diese Weise verrannen die Tage...wurden aus Tagen schließlich Wochen…

Und lange Zeit nahm er nicht wahr, wie sehr ihm dieses Leben schadete. Spürte lange Zeit die Leere nicht, die ihn mit jedem Tag mehr erfüllte, und nicht den schaler werdenden Geschmack, den diese Nächte in ihm hinterließen. Verdrängte lange Zeit, dass er nur noch trank, um mit den Freunden mitzuhalten, und dass die Zärtlichkeiten der Frauen seinen Körper zwar erreichten - seine Seele jedoch nicht.

Doch mit jedem Tag schlief er schlechter. Träumte in jeder Nacht heftiger - verwirrende, verstörende Träume. Träume, die ihm eine Botschaft sandten, die er nicht verstand.

Nur eines begriff er am Ende. Dass er aufhören musste mit dem Leben, das nicht seines war.

„Was ist los mit dir, Nantai?“

Tom wunderte sich, weil der Freund zum wiederholten Male nicht an einer Tour durch Megalaias Nachtleben teilnehmen wollte. „Du warst doch immer der letzte, der zu Bett ging - und oft genug nicht alleine“ fügte er grinsend hinzu. „Wird dieses Leben etwa zu anstrengend für dich?“

Die Antwort fiel Nantai sichtlich schwer. Viel zu lange hatte er versucht, zu sein wie Tom und die anderen. Wie sollte er jetzt erklären, dass er sich selbst und auch ihnen dabei etwas vorgemacht hatte? Dass er - trotz allem - nicht war wie sie?

Gleich, was er ihnen sagte - sie würden ihn nicht verstehen.

Er würde sie verlieren.

„Ich fürchte, ihr müsst künftig ohne mich durch die Clubs ziehen“ erwiderte er traurig. „Mir ist klar geworden, dass ich so nicht weitermachen kann - sonst werde ich die Prüfungen nicht bestehen, mein Stipendium verlieren - und damit die Aufenthaltserlaubnis für Megalaia. Und dieses Risiko darf ich nicht eingehen!"

Tom war überrascht. Und sehr verletzt.

„Na schön“ erwiderte er verstimmt, „wenn deine Karriere dir plötzlich mehr bedeutet als deine Freunde, dann kann ich wohl nichts dagegen tun. Ich hoffe nur für dich, dass du diese Entscheidung nicht eines Tages bereust!“

Und ließ Nantai kopfschüttelnd stehen.

Einige Male fragte Tom noch. Trotzdem. Doch als er immer dieselbe Antwort erhielt, fragte er irgendwann nicht mehr.

Sie trafen einander noch hin und wieder, an der Hochschule, wenn Tom sich ausnahmsweise dorthin quälte, gingen dann gemeinsam essen, und unterhielten sich länger, wenn sie Zeit dazu fanden.

Doch ihr Verhältnis war kühler geworden, distanzierter. Ohne dass sie den ernsthaften Versuch unternahmen, daran etwas zu ändern.

Und nur wenige Wochen später kam Tom, um sich von Nantai zu verabschieden.

„Ich musste einsehen, dass Studieren nichts für mich ist…“ erklärte er mit einem schiefen Grinsen. „Jetzt hat mein Vater mir einen Ausbildungsplatz in seiner Firma besorgt… vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder.“

Doch beide wussten, dass sie sich nicht wieder sehen würden.

Und beide nahmen es gelassen zur Kenntnis.

Von nun an bemühte sich Nantai nicht mehr um Freundschaften.

Seine ganze Energie galt nun dem Studium... eben noch zur rechten Zeit!

Denn er hatte vieles versäumt.

Auch wenn er schon bald feststellen musste, dass sie nicht lehrten, was er sich erhofft hatte. Er hatte geglaubt, die Welt besser zu verstehen, wenn er sich für einen naturwissenschaftlichen Studiengang entschied. Hatte gehofft, auf diese Weise einen Zugang zu seiner Gabe finden.

Aber das Ziel des Studiums schien nicht darin zu bestehen, die Welt und ihre Wunder besser zu verstehen. Was sie lehrten, sollte in erster Linie den Zwecken der Menschen dienen.

Diese Art zu denken stellte sein Weltbild vollkommen auf den Kopf.

Wie alle Bewohner der Wälder hatte er gelernt, in Einklang mit der Natur zu leben, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen, und sie zu respektieren.

Wie alle Bewohner der Wälder betrachtete er sich als Teil eines großen Ganzen, und versuchte, seinen Platz darin zu finden.

Das gesamte Leben in den Wäldern folgte diesem Grundsatz.

Die Menschen in den Städten hingegen hatten diesen Respekt längst abgelegt.

Sie schienen nur noch an dem Nutzen interessiert, den sie aus ihrer Kenntnis über die Gesetze des Lebens zogen. Für sie war die Welt lediglich ein Experimentierfeld, das sie nach ihrem Willen zu formen gedachten.

Er brauchte lange, um sich an diese Weltsicht zu gewöhnen - akzeptieren konnte er sie nie. „Sie erzürnen die Geister mit ihrem Tun!“ dachte er voller Entsetzen. Und fragte sich, warum die Mächte der anderen Weltseite sie nicht dafür straften. Hatten die Geistwesen die Bewohner Megalaias etwa vergessen?

War dies der Grund, warum die Menschen der Stadt so vieles nicht wussten, das ihm selbst klar und einfach erschien? Brauchten sie deshalb Computerprogramme, um das Leben zu erklären?…Und es trotzdem nicht zu begreifen….

Dennoch versuchte er, ihre Lehren zu verstehen, verbrachte viele Nächte über seinen Büchern… und blieb. Obwohl er immer wieder mit dem Gedanken spielte, Megalaia zu verlassen.

Warum wollten sie das Leben in Formeln und Theorien fassen und berechnen, anstatt es zu erleben? Warum gingen sie nicht in die Wildnis, um am eigenen Leib zu erfahren, wie sich das Leben anfühlte? Warum genügte es ihnen, sich das Leben nur vorzustellen, theoretische Modelle dafür zu entwickeln, die Wirklichkeit am Computer zu simulieren? Warum vertrauten sie nicht auf das Jahrtausende alte Wissen der Ahnen und auf die Macht der Geistwesen?

In solchen Momenten fühlte er sich wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.

Mit der Zeit jedoch wurden diese Momente weniger. Bis sie am Ende des zweiten Studienjahrs, mit dem Bestehen der Zwischenprüfung, schließlich ganz. verschwanden. Er hatte mehr erreicht als jeder Waldbewohner vor ihm - und sah dem zweiten Teil seines Studiums nun voller Hoffnung entgegen.

Denn er hatte einen Ort gefunden, der ihm die Kraft zum Bleiben verlieh.

Den Park von Megalaia.

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