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Die Prüfung

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Nantai trat aus der Hütte, bekleidet mit dem Festgewand, das Pohawe zurechtgelegt hatte, um dem heutigen Tag einen würdigen Rahmen zu verleihen.

Ihr Sohn wurde zwanzig!

Die wichtigsten Stunden seines bisherigen Lebens lagen vor ihm!

Er sah ihr Gesicht erwartungsvoll auf sich gerichtet, ebenso das des Vaters und der Brüder, die ungewohnt still an Achaks Seite standen. Sogar die Schwester war mit Mann und Kindern gekommen, um ihm Glück für die bevorstehende Prüfung zu wünschen.

Nantai senkte den Blick. Sie durften nicht sehen, wie unwohl er sich fühlte, sollten nicht ahnen, dass er statt Vorfreude Furcht im Herzen trug.

„Du siehst gut aus, mein Sohn!“

Pohawe musterte ihn stolz. Nicht zum ersten Mal stellte sie fest, dass Nantai körperlich längst zum Mann geworden war – und zu einem ausgesprochen attraktiven obendrein. Einen halben Kopf größer als der Vater war er inzwischen, kräftig und muskulös, und dennoch schlank wie ein Reh.

Auch sein Gesicht war das eines Mannes geworden, obwohl er nicht die hageren Züge Achaks besaß, sondern die ihren - sanft geschwungene Lippen, eine schmale Nase und sehr ausdrucksvolle, tiefdunkle Augen.

Sie seufzte unhörbar. Von nun an würde Nantai seinen eigenen Weg beschreiten, würde bald eine Familie gründen, und in die eigene Hütte, vielleicht sogar zu einem anderen Stamm ziehen – eine Vorstellung, vor der ihr insgeheim graute.

Aber schon im nächsten Augenblick haderte sie mit sich selbst.

Sie sollte nicht an sich denken, sondern an Nantai, der trotz der Bedeutung des heutigen Tages unerklärlich bedrückt wirkte!

Mit einem aufmunternden Lächeln wandte sie sich zu ihm. „Dies ist dein Tag, Nantai. Heute Abend wirst du ein Mann sein!“

Nur mit Mühe erwiderte er das Lächeln der Mutter. Wenn sie wüsste, was in ihm vorging! - oder gar die beiden Brüder, deren Blicke voller Bewunderung an ihm hingen! Sie beneideten ihn, weil er nun von niemandem mehr Rat annehmen musste, weil er dem eigenen Willen folgen konnte, ohne respektlos zu erscheinen, und von nun an allein für sein Schicksal verantwortlich war.

Ein richtiger Mann eben.

Und dennoch hätte er in diesem Augenblick so gerne mit ihnen getauscht.

„Möchtest du noch etwas essen, Nantai?“ Pohawe hatte sein Lieblingsgericht gekocht - er sollte sich vor der Prüfung ausreichend stärken.

Er nickte stumm, setzte sich ans Feuer und begann langsam zu essen, die beiden Brüder ignorierend, die wieder einmal lautstark darum stritten, wem die nächste Portion zustand. Solange, bis Pohawe drohte, sie ohne Frühstück wegzuschicken, und sie damit endlich zum Schweigen brachte.

Aber die überschüssige Energie der beiden Jungen fand rasch ein neues Ziel. „Erzähl uns noch einmal ganz genau, was heute mit Nantai geschieht“

bedrängten sie den Vater, der schmunzelnd auf ihre Bitte einging und zum wiederholten Mal erklärte, dass der Älteste ihren Bruder zum See führen würde, um ihn dort auf die Probe zu stellen, und Nantai nach bestandener Prüfung - was außer Frage stand - zu einem verborgenen Ort im Wald bringen würde, an dem auch derjenige den Geistwesen begegnen konnte, der nicht die Fähigkeiten eines Schamanen besaß.

Allerdings, fügte Achak am Ende bedeutungsvoll hinzu, gebe es hin und wieder jemanden, der dieser Begegnung nicht gewachsen sei. Deshalb bleibe der Älteste stets in der Nähe, um die Verbindung zur anderen Welt zu beenden, sobald er spürte, dass sie Unheil statt Erkenntnis brachte.

„Was geschieht, wenn dies auch bei Nantai der Fall ist?“ Aufgeregt unterbrach der jüngere den Vater mitten im Satz. „Wird Nantai dann eine zweite Chance erhalten?“

Achak verzog das Gesicht. „Diese ganz besondere Möglichkeit der Begegnung mit den Geistwesen wird jedem von uns nur ein einziges Mal gewährt“ erwiderte er. „Wird die Verbindung abgebrochen, ist sie für immer vertan. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Dein Bruder ist sehr stark. Er wird diesen Kräften ohne Probleme Stand halten.“

„Warum bist du dir so sicher?“ hakte der ältere nach. „Nur, weil Nantai dein Sohn ist?“

„Weil ich der Schamane unseres Volkes bin, ihr respektlosen jungen Burschen, und weil niemand außer euch beiden meine Worte anzuzweifeln wagt!!“

Achaks Stimme klang so drohend, dass es ihm tatsächlich gelang, die beiden einzuschüchtern. Wenn auch nicht für lange.

„Werden wir so stark sein wie Nantai, wenn wir erwachsen sind?“ folgte nur Sekunden später die nächste Frage.

„…wenn ihr beiden euch bis zu diesem Tag nicht vollkommen verändert habt…“ Sie fuhren herum. Nantai hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt, und bemühte sich vergeblich um eine grimmige Miene, als er den begonnenen Satz zu Ende brachte. „…dann habt ihr bei dieser Begegnung tatsächlich nichts zu befürchten - weil die Geistwesen dann nämlich vor euch die Flucht ergreifen werden, und nicht umgekehrt!“

Doch dann wurde sein Miene ernst. „Könntet ihr Vater und mich bitte alleine lassen?“

Empört gestikulierend rannten sie zu Pohawe, die sie zum Waschen an den See schickte. Achak blickte ihnen schmunzelnd hinterher, ehe er sich Nantai zuwandte. „Wolltest du mit mir allein sein, weil du Ruhe brauchst, um deine Seele auf die Prüfung vorzubereiten?“

„Nein, Vater. Ich…“ Nantai vollendete den Satz nicht.

Achak musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Du freust dich nicht auf diese Prüfung, mein Sohn - obwohl du bisher keine Herausforderung gescheut hast!“

„Es ist nicht die Prüfung, die mir das Herz schwer macht“ gestand Nantai. „Es ist vielmehr die Sorge vor dem Weg, den die Geistwesen mir danach weisen werden. Was ist, wenn er ein anderer ist, als der, den ich beschritt? Wenn ich erkennen muss, dass wir irrten?“

„Ich glaube nicht, dass wir irrten“ widersprach Achak voller Überzeugung. „Die Geistwesen verliehen dir diese Gabe nicht ohne Grund, und wiesen mich gar an, dich zu unterrichten, nur, um dir jetzt einen anderen Weg aufzuzeigen.“

„Und wenn sie sich in mir täuschten? Wenn ich meiner Gabe nicht würdig bin? Schließlich gelang es mir bis heute nicht, sie zu wecken, geschweige denn, sie zu nutzen!“

Endlich sprach er aus, was ihn schon lange belastete. Endlich fand er den Mut, sich dem Vater zu offenbaren.

Der schwieg jetzt. Starrte lange Zeit sehr nachdenklich in die Glut zu seinen Füßen.

„Auch ich fragte mich oft, warum dies so ist“ antwortete Achak schließlich, ohne den Blick vom Feuer zu nehmen. „Ob ich deinen Eifer hätte bremsen sollen, ob ich dir nicht doch zu früh zu viel zumutete. Doch selbst dann könnten wir dies nicht mehr ändern.“ Er hob den Kopf - und lächelte zuversichtlich. „Und selbst dann bestünde kein Grund zur Sorge, mein Sohn. Weil die Geistwesen dir in diesem Fall einen neuen Weg weisen werden, der dich zu deiner Bestimmung führt. Du solltest ihre Botschaft nicht fürchten, sondern als Hilfe betrachten.“

Nantai zwang sich, das Lächeln des Vaters zu erwidern. „Ich hoffe sehr, dass du Recht behältst.“

Aber auch Achaks offen gezeigte Zuversicht konnte ihn nicht aufmuntern. Er fühlte sich seltsam mutlos, war sicher, dass all seine Anstrengung umsonst gewesen war. Dass die Geistwesen ihm heute die Träume nehmen würden.

Und dann sah er den Ältesten näher kommen - und mit ihm den Augenblick der Wahrheit. Und zum ersten Mal erhob er sich jetzt nur sehr zögerlich, um seinem weisen Lehrer Ehrerbietung zu erweisen.

Achak war ebenfalls aufgestanden, und neigte den Kopf zur Begrüßung des Alten. „Sei gegrüßt, weiser Mann.“

„Auch du seiest gegrüßt, Schamane“ erwiderte der Älteste nicht minder respektvoll.

Nantai hingegen wartete stumm, bis der alte Mann sich zu ihm wandte. Erst dann grüßte er, indem er den Kopf neigte und die rechte Hand aufs Herz legte. So, wie er den weisen Lehrer stets begrüßte.

„Bist du bereit, Nantai?“ fragte der Alte.

„Das bin ich.“ Er hob den Kopf, und sah kohlegleiche, ungeheuer wache Augen auf sich gerichtet - Augen, die tief in ihn hineinzublicken, die alles zu sehen schienen.

Der alte Mann kannte ihn tatsächlich gut.

So gut, dass er Nantais Widerwillen gegen die bevorstehende Prüfung sofort erfasste, seine bohrenden Zweifel, und die tief sitzende Angst vor der Botschaft der Geistwesen… Nantai war für die Begegnung mit ihnen noch nicht bereit.

Der Alte seufzte unhörbar. Ihm selbst, aber auch seinem Schützling stand ein hartes Stück Arbeit bevor. „Dann lass uns gehen.“

Er führte Nantai hinunter zum See, und an dessen Ufer entlang zu der seichten Bucht, in der die Prüfung stattfand. Von dichtem Schilf umgeben und dadurch vor Blicken aus dem Dorf geschützt, war sie an normalen Tagen ein beliebter Treffpunkt für verliebte Paare. Heute jedoch würde niemand den Weg hierher nehmen, weil jeder wusste, dass Nantai sich dort seiner Prüfung unterzog.

„Und nun leg deine Kleidung ab.“

Nantai fragte nicht nach. So sinnlos ihm diese Aufforderung angesichts der herbstlichen Kühle auch erschien, so folgte er ihr dennoch, und zog sich ohne ein Widerwort aus. Sah den alten Mann danach fragend an. Der zeigte auf das Wasser zu ihren Füßen. „Geh hinein und knie nieder. Der See ist hier nicht sehr tief.“

Und erneut gehorchte Nantai. Stieg zögernd ins unangenehm kalte Nass, und tauchte fröstelnd hinein, bis nur noch sein Kopf aus dem Wasser ragte.

Eine kühle Brise strich über den See und kräuselte die Oberfläche.

Nantai schauderte.

Was hatte der alte Mann vor? Es war viel zu kalt, um lange im Wasser zu bleiben!

„Du musst Vertrauen zeigen, Nantai. Denn ich muss nun prüfen, ob du bereit bist, dich meinem Willen vollkommen zu unterwerfen.“

„Ich bin bereit.“

„Dann lass uns beginnen.“

Ergeben schloss Nantai die Augen und hielt den Atem an, als der Älteste am Ufer nieder hockte, ihn bei den Haaren packte und seinen Kopf unter Wasser drückte. Und wartete geduldig, bis der Alte ihn wieder freigab. Er kannte dieses Spiel. Er hatte es oft gespielt, hatte mit den Freunden gewettet, wer am längsten unter Wasser blieb - und war nicht nur einmal als Sieger aus diesem Wettstreit hervorgegangen.

Aber heute geschah viel zu lange nichts.

Merkte der alte Mann denn nicht, wie dringend er atmen musste?

Plötzlich glaubte er, ersticken zu müssen, und schlug um sich, so heftig, dass die Hand ihn augenblicklich freigab. Keuchend, und nach Atem ringend, schoss er aus dem Wasser empor. „Willst du mich umbringen?“

„Du darfst dich nicht wehren, Nantai“ erwiderte sein alter Lehrer ungewohnt streng. „Du musst dich vollkommen aufgeben, ehe du den Geistwesen begegnen darfst. Vertrau mir. Du wirst nicht sterben!“

Mit diesen Worten drückte er Nantai erneut unter Wasser. Und wieder wurde Nantais Drang zu atmen übermächtig, wieder erfasste ihn Panik, als der Griff des Alten sich viel zu lange nicht lockern wollte. Wieder wehrte er sich so heftig, dass die Hand ihn freigab. Und wieder tauchte er auf, rang keuchend nach Atem, und starrte den Lehrer voller Empörung an.

„Du bist noch lange nicht bereit, Nantai.“

In der Stimme des Ältesten lag kein Bedauern, als er Nantai erneut unter Wasser zwang, ihn erneut die Todesangst spüren ließ.

Nantai kannte diese Bräuche. Er hatte bei vielen zugesehen, und manche von ihnen selbst durchlaufen. Er wusste, dass sie allein dazu dienten, den Mut und die Selbstbeherrschung eines Menschen zu prüfen. Er wusste, dass dabei normalerweise niemand zu Schaden kam.

Und wehrte sich dennoch jedes Mal, wenn der Älteste ihn unter Wasser zwang. Obwohl er ahnte, dass das Ritual für ihn bereits zu Ende war, wenn er sich dem Willen des Alten nicht beugte. Obwohl er dann der Erste und Einzige sein würde, dem die Begegnung mit den Geistwesen verwehrt blieb.

Mit jedem Mal rechnete er mehr damit, dass sein Peiniger aufgab, und ihn ins Dorf zurückschickte.

Aber der alte Mann gab nicht auf.

Nicht minder beharrlich als sein Prüfling, kämpfte er darum, dessen Widerstand zu brechen. Wollte nicht hinnehmen, dass ausgerechnet Nantai diese Prüfung nicht bestand.

Solange, bis Nantai vor Kälte und Erschöpfung am ganzen Körper zitterte.

Solange, bis er die Kontrolle über seine Glieder verlor.

Solange, bis er dem erbarmungslosen Druck der Hand zum ersten Mal nichts mehr entgegensetzte, auch wenn die Stiche in der Brust unerträglich schienen, auch wenn sein ganzer Körper nach Überleben schrie.

Das Ziel der Prüfung war erreicht. Endlich.

Ein Lächeln erschien im Gesicht des Ältesten, und er zog die Hand zurück, packte Nantai unter den Armen, und half ihm aus dem Wasser.

Stöhnend sank Nantai ins Gras. „Warum sagte niemand, was hier geschieht? Ich hätte diese Prüfung besser ertragen, wäre ich darauf vorbereitet gewesen!“

Der alte Mann hockte sich zu ihm. „Eine Herausforderung, auf die man vorbereitet ist, verliert ihre wahre Bedeutung“ sagte er, und verzog das faltige Gesicht zu einem verschmitzten Lächeln. „Allerdings muss ich zugeben, dass auch du für mich eine beachtliche Herausforderung warst. Noch nie hat sich jemand bei dieser Prüfung so hartnäckig gewehrt wie du. Ich fürchtete bereits, dass ich dich ertränke, ehe dein Wille bricht.“

Abrupt setzte sich Nantai auf. „Das hättest du getan?“

„Nein, das hätte ich nicht getan.“ Der alte Mann schmunzelte erneut. „Hättest du dich allerdings noch sehr viel länger verweigert, hätte ich dir die Begegnung mit den Geistwesen verwehren müssen – mit unabsehbaren Folgen für dein weiteres Leben.“

Müde senkte Nantai den Kopf. „Das verstehe ich nicht“ murmelte er. „Warum musst du meinen Willen brechen, damit ich den Geistwesen begegnen darf?“

„Ehe ich antworte, möchte ich, dass du in dich hineinhorchst, Nantai. Sage mir, ob du eine Veränderung in dir wahrnimmst. Sage mir, ob du noch immer derjenige bist, der mir hierher folgte.“

Nantai schloss die Augen.

Aber er fühlte nichts. Nur das Zittern seines Körpers im kühlen Herbstwind, und das aufgeregte Pochen seines Herzens, das sich noch immer nicht beruhigen wollte.

Erst als er tiefer in sich hinein horchte, begriff er, dass seine Angst vor der Begegnung mit den Geistwesen verschwunden war. Es war, als habe es sie niemals gegeben.

Verblüfft öffnete er die Augen wieder. „Was geschah mit mir?“

Die dunklen Augen des Ältesten funkelten. „Als wir hierher kamen, warst du für die Botschaft der Geistwesen nicht bereit, Nantai. Du warst voller Ängste und Sorgen, und dennoch voller Erwartungen. Denn du hattest deinen Weg bereits gewählt, und wolltest ihn durch die Geistwesen bestätigt sehen. Aber noch größer war deine Angst, dass sie dir einen anderen Weg weisen. Nun erst bist du bereit, dich ihrem Willen zu unterwerfen - selbst wenn sie von dir fordern, was du nicht erhoffst.“

Er erhob sich und streckte Nantai die Hand hin. „Steh auf und zieh dich an, dann bringe ich dich zu ihnen.“

Der Älteste schritt rasch voran, in kurzem Abstand folgte Nantai, seltsam gelassen jetzt, und ohne Erwartungen. Sie mochten eine Stunde gelaufen sein, als der alte Mann stehen blieb. „Wir sind am Ziel.“

Nantai schaute sich um. Auf den ersten Blick wirkte der Ort nicht ungewöhnlich, wenn man von den uralten Bäumen absah, die hier in großer Zahl wuchsen.

Aber dann spürte er sie... Kaum merkliche, eigenartige Schwingungen, die aus einem Gebüsch mit leuchtend roten Blättern vor ihnen zu kommen schienen.

Hier also sollte er den Geistwesen begegnen? Er hatte sich diesen Ort anders vorgestellt…

„Warte hier.“

Während der alte Mann zielstrebig auf das Gebüsch zuschritt, fiel Nantais Blick auf die Beeren, die in solch dicken Trauben an dessen Ästen hingen, dass diese fast den Boden berührten. Er stutzte. Er kannte diese Pflanze - einen Feuerbusch. Aber noch niemals hatte er sie Früchte tragen sehen.

Ein Wink des Ältesten lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge. „Komm zu mir.“

Nantai bemerkte die dunkle Öffnung im Boden erst, als er den alten Mann erreicht hatte. Von den Zweigen des Feuerbuschs verdeckt, war sie zuvor nicht zu erkennen gewesen, und er hätte sie vielleicht auch jetzt übersehen, wäre sie nicht die Quelle der Schwingungen gewesen. Wellen ungeheurer Energie drangen aus dem Loch am Boden, das ihm plötzlich so einladend erschien wie das geöffnete Maul einer gewaltigen Schlange.

„Dort müssen wir hinein.“ Gelassen schob der alte Mann die störenden Zweige über der Öffnung zur Seite, setzte sich an deren Rand, rutschte mit den Füßen voran hinein, und war kurz darauf verschwunden.

Nantai zögerte. Er hasste es, unter die Erde zu gehen.

Weil ihn jedes Mal nach kurzer Zeit eine entsetzliche Panik begriff. Weil er jedes Mal viel zu bald nur noch ein einziges Ziel kannte: der bedrückenden Finsternis wieder zu entfliehen. Mühsam drängte er die aufkeimende Angst zurück, setzte sich an den Rand der Öffnung und tastete mit den Füßen vorsichtig in die Dunkelheit. Fand Stufen aus Fels, die schräg nach unten führten.

Wenigstens würde er nicht in die finstere Tiefe springen müssen, wie er im ersten Moment befürchtet hatte.

Er nahm einen tiefen Atemzug und füllte die Lungen ein letztes Mal mit der frischen Waldluft. Dann folgte er dem Ältesten in die Finsternis, die mit jeder Stufe zunahm - bis der letzte Rest von Tageslicht am Ende erlosch.

Und mit jedem weiteren Schritt in der Finsternis wuchs die Angst.

Dann endeten die Stufen plötzlich, und er spürte wieder flachen Boden unter den Füßen.

Mit pochendem Herzen sandte er seine Sinne in die Dunkelheit. Wo waren die Geistwesen? Doch er fühlte ihre Nähe nicht, nur eine überraschend angenehme Wärme, die ihn freundlich willkommen hieß. Und als sie die letzten Reste der Kälte des Sees, und mit ihr die Angst, aus seinem Körper vertrieben hatte, fühlte er auch die seltsamen Schwingungen wieder.

Um ein Vielfaches stärker jedoch als zuvor.

„Folge mir“ sagte eine Stimme im Dunkel, so dicht neben ihm, dass er heftig zusammenzuckte. Vollkommen in seine Wahrnehmungen versunken, hatte er für den Augenblick vergessen, dass er nicht alleine gekommen war.

Den alten Mann nur noch erahnend, betrat er einen Felsengang, der vom Ende der Treppe wegführte. Aber dieser Gang war tückisch.

Immer wieder machte Nantai unliebsame Bekanntschaft mit dem harten Gestein, rieb sich fluchend Kopf oder Schultern, während der Älteste ungeachtet der Finsternis vor ihm her schritt, ohne ein einziges Mal stehen zu bleiben, ohne sich ein einziges Mal zu stoßen.

Endlos lange dauerte es, bis sich in der Ferne ein schwacher Lichtschein abzeichnete. Erleichtert atmete Nantai auf. Tageslicht! Bald würden sie die Finsternis wieder verlassen! Denn die Angst, von der Wärme nur für kurze Zeit verdrängt, war mit großer Macht zurückgekehrt.

Doch als der Älteste wenig später im Lichtschein stehen blieb, musste Nantai erkennen, dass er sich noch immer tief unter der Erdoberfläche befand. Der Felsengang hatte sich an dieser Stelle lediglich zu einem höhlenartigen Raum erweitert, in den durch eine Öffnung weit oben Licht hereindrang - Tageslicht. Zumindest darin hatte er sich nicht getäuscht.

Aber der Weg hatte ihn nicht ins Freie geführt, sondern in eine gewaltige Kuppel aus Fels, in deren Mitte er nun stand - umringt von steinernen Wänden, die in sanftem Bogen nach oben strebten, ehe sie in der Öffnung mündeten, die dem Tageslicht Einlass gewährte.

Seltsame Wände.

Er näherte sich der, die ihm am nächsten lag, und streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Ungewöhnlich hell und glatt, in einem fast lebendigen Glanz schimmernd, lud sie ihn förmlich dazu ein. Doch im nächsten Moment schrie er auf, und zog die Hand wieder zurück. Ein gewaltiger Energiestoß hatte ihn erfasst, sobald er den Felsen berührt hatte.

„Was war das?!“ wandte er sich verstört an den alten Mann.

Der verzog das faltige Gesicht zu einem rätselhaften Lächeln. „Die Kräfte, die in diesen Wänden wohnen, sind für gewöhnliche Sterbliche viel zu stark. Normalerweise vernichten sie den, der ihnen so nahe kommt.“

„Warum hast du mich nicht vor ihnen gewarnt?“

„Weil es normalerweise gar nicht möglich ist, sie zu berühren“ stellte der Älteste gelassen fest. „Dass du es trotzdem konntest, könnte ein Hinweis auf deine Gabe sein. Aber darüber werde ich mir zu gegebener Zeit Gedanken machen. Im Augenblick sind andere Dinge wichtig.“ Er wies auf den Boden. „Setze dich dort.“

Nantais Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Alten.

Jemand hatte mit leuchtenden Farben, und sehr sorgfältig, ein rituelles Muster auf den Felsboden gemalt – genau in der Mitte der kreisförmigen Fläche, die den Boden der Kuppel bildete, sodass durch die Öffnung in der Decke ein schmaler Streifen Tageslicht auf das Muster fiel.

Mit klopfendem Herzen ließ er sich darauf nieder, während der Älteste ihm gegenüber Platz nahm, und dabei peinlich darauf achtete, die rituelle Zeichnung nicht zu berühren.

Damit begann, wovor Nantai so sehr graute. Denn nun würde der alte Mann ihn zum ersten Mal mit den Geistwesen in Berührung bringen. Ein Erlebnis, das er ebenso sehr fürchtete, wie alle anderen es herbeisehnten… Und mit einem Mal hatte er große Mühe, den Erklärungen seines Lehrers zu folgen.

„Hier sind uns die Geistwesen so nahe, dass auch derjenige sie wahrnehmen kann, der normalerweise nicht über diese Fähigkeit verfügt“ hörte er den Ältesten wie aus weiter Ferne sagen. „Allerdings gewähren sie den meisten von uns nur dieses eine Mal Zugang zu diesem Ort. Darum genieße, was du nun erlebst, und fürchte dich nicht!“

…Wie so oft wusste der alte Mann viel zu gut, was in ihm vorging.

„Ich weiß“ murmelte er schuldbewusst, weil er nicht die geringste Freude über die bevorstehende Begegnung verspürte.

„Bist du bereit?“ Der Älteste sah ihn fragend an.

Er nickte stumm. Und im selben Moment wurde der Blick seines Lehrers hart wie Stein - drang tief in den seinen. Kurz darauf hörte er den alten Mann Worte in der Ewigen Sprache murmeln, Worte, die er nicht verstand, obwohl auch er dieser Sprache mächtig war.

Und dann spürte er bereits die wundervolle Leichtigkeit, die mit jeder Trance einhergeht. Sein Geist löste sich vom Körper, schwebte langsam, als habe er nie anderes gekannt, in die gewaltige Kuppel aus Felsen empor - und verharrte dort, vollkommen gebannt von dem Anblick, der sich ihm bot.

Denn die Kuppel war nicht leer, wie Nantai geglaubt hatte.

Sie war erfüllt von flirrenden Bündeln aus Energie, seltsamen Wesen, die ein sonderbares Eigenleben führten. Sie bewegten sich in geisterhaftem Tanz, flossen ineinander, zu fantastischen Gebilden, die sich am Ende zu einem einzigen, wundersam leuchtenden Wesen vereinten – und sich danach wieder trennten. Doch nur, um den Tanz erneut zu beginnen, und in ihm erneut zusammenzufinden. Begleitet wurde das magische Schauspiel von melodischen Klängen, die von unsichtbaren Schwingen getragen durch die Kuppel schwebten.

Allerdings nur solange, bis der ungebetene Gast endlich entdeckt wurde, und der Tanz abrupt endete.

Zunächst noch ein wenig zögerlich, dann immer rascher und von wachsender Neugier getrieben, bewegten sich die seltsamen Wesen jetzt auf ihn zu.

Bis sie ihm so nahe waren, dass er glaubte, sie berühren zu können.

Er konnte sich nicht satt sehen an ihnen.

Sie waren wunderschön!

Er wollte nur noch eines. Ihnen nahe sein.

Eins mit ihnen werden.

Sie nie mehr verlassen.

Er hätte schreien können vor Glück.

Und war zugleich von grenzenloser Trauer erfüllt.

Als wisse er bereits um die Einzigartigkeit dieses Augenblicks.

Nantai hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren, als die Wesen sich ein weiteres Mal veränderten, als sie zu verblassen begannen, mehr und mehr ihr Leuchten verloren.

Doch ehe sie seiner Wahrnehmung ganz entschwanden, schufen sie ein Bild für ihn. Zunächst nur ein Schemen, ein Schatten, von Nebelschwaden verdeckt, würden seine Konturen immer deutlicher.

Bis er die turmhohen Häuser mit den glänzenden Fassaden, und Tausenden von Fenstern erkannte.

Megalaia, die größte Stadt NanGaias.

Viele hundert Meilen nördlich der Waldgebiete gelegen, war sie in den vergangenen Jahrzehnten unermesslich rasch gewachsen - ohne dass jemand wusste, warum sie die Bewohner NanGaias wie ein Magnet anzog.

Denn jetzt lebten dort so viele Menschen wie nirgendwo sonst in dieser Welt.

Megalaia.

Die Stadt, die die Geschicke dieser Welt bestimmte. Die wohlhabende, und in den Augen der Waldbewohner dennoch arme Hauptstadt NanGaias.

Nantai hatte sie nie besucht – und wusste trotzdem genug, hatte genug Bilder von ihr gesehen, um sie sofort zu erkennen. Und trotz des strahlenden Glanzes löste ihr Anblick keinerlei Freude in ihm aus.

Zu deutlich war die Botschaft, die sich hinter ihrem Bild verbarg.

Die Geistwesen wollten, dass er nach Megalaia ging.

Sein Weg führte ihn am Ende also doch in die Stadt, in die er bereits vor vielen Jahren hätte gehen sollen.

Damals hatte er sich noch erfolgreich dagegen gewehrt.

Aber dieses Mal blieb ihm keine Wahl. Widersetzte er sich ihrem Willen, würde er den Zorn der Geistwesen auf sich laden.

Als er aus der Trance erwachte, war jede Freude in ihm erloschen. Alles, was er noch fühlte, war Enttäuschung.

Nun kannte er seinen Weg. Und es war nicht der, auf den er gehofft hatte … Er hatte es geahnt.

Niedergeschlagen verließ er die Kuppel und trat in den dunklen Felsengang, in dem der Älteste auf ihn wartete.

Der weise Mann bemerkte Nantais Kummer sofort. Doch er fragte nicht nach dem Grund. Seine Aufgabe war getan. Er hatte seinen Schützling auf die Begegnung mit den Geistwesen vorbereitet, und während der Trance über ihn gewacht, um einzugreifen, falls er den Kräften aus der anderen Welt nicht standhielt.

Was nun folgte, war allein für Nantai bestimmt. An ihm war es, den Weg zu beschreiten, den die Geistwesen ihm gewiesen hatten.

Denn dies war ihr Wille. So geschah es seit Menschengedenken.

„Lass uns gehen.“ Ohne auf Antwort zu warten, wandte sich der Älteste um, und schritt eilig voran, dem Ausgang zu. Und Nantai folgte ihm, stumm, und seltsam kraftlos. Fand sich irgendwann am Fuß der Treppe wieder - ohne sich an den Weg dorthin zu erinnern - und stieg hinter dem alten Mann die Steinstufen empor, ins Freie.

Draußen dämmerte es bereits. Sie waren länger in der Finsternis gewesen, als er gedacht hatte. Zudem war es empfindlich kühl geworden. So kühl, dass er nach der Wärme der Höhle plötzlich fröstelte, und dem raschen Schritt des Alten nun willig folgte.

Noch ehe das Tageslicht erlosch, erreichten sie die Siedlung, die trotz der frühen Stunde verlassen wirkte. Die Kälte hatte die Bewohner in ihre Hütten getrieben. Nur Achak und Pohawe saßen noch am Feuer und warteten auf die Rückkehr des Sohnes, voller Unruhe, weil diese sich so lange hinauszögerte.

„Endlich seid ihr zurück!“

Erleichtert sprang Pohawe auf, als sie die beiden Männer erblickte. Dann erst sah sie die bedrückte Miene ihres Sohnes.

„Ist alles, wie es sein soll?“ fragte sie besorgt.

„Das ist es“ erwiderte der Älteste an Nantais Stelle. „Nach unseren Bräuchen ist Nantai jetzt zum Manne geworden.“ Er lächelte. „Und dies ist nicht alles – denn die Geistwesen waren ihm überaus wohl gesonnen. Sie zeigten sich ihm so lange wie niemandem zuvor.“

Pohawes Blick glitt zu ihrem Sohn, der gedankenverloren in die lodernden Flammen starrte. Er hatte gar nicht zugehört.

„Trotzdem ist Nantai nicht glücklich“ murmelte sie. „Sagte er dir, welchen Weg sie ihm wiesen?“

Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Nein, das sagte er nicht.“

Und verneinte erneut, als sie ihn bat, bei ihnen zu essen. „Ich danke dir für deine Gastfreundschaft, Pohawe“ erklärte er müde. „Aber mein alter Körper verlangt jetzt nach Ruhe, nicht nach Nahrung, und ich sollte auf seinen Ruf hören.“ Dann ging er. Mit mühsamen Schritten, die zum ersten Mal an diesem langen Tag sein hohes Alter erkennen ließen.

Sorgenvoll blickte ihm Pohawe nach, bis er im Eingang seiner Hütte verschwand. Erst dann wandte sie sich Nantai zu, der noch immer seltsam verloren am Feuer stand.

Sie füllte eine Schale mit Essen und reichte sie ihm. „Setz dich zu uns, Nantai, und teile diese Mahlzeit mit uns! Dein Vater und ich haben auf dich gewartet.“

Sie hatten dieses besondere Mahl mit ihm teilen wollen - das erste, an dem er als ihnen gleichgestellt teilnahm.

Von nun an hatten sie kein Recht mehr, Gehorsam von ihm zu verlangen. Von nun an durften sie keine Rechenschaft mehr von ihm erwarten, konnten nur darauf hoffen, dass er sie um Rat fragte, wenn er Rat brauchte …und dass er Rat brauchte, war mehr als offensichtlich.

Auch Achak war die bedrückte Stimmung des Sohnes nicht entgangen. Im Gegensatz zu Pohawe nahm er Nantais Schweigen zunächst jedoch gelassen hin, beobachtete fast amüsiert, wie sie sich um den Sohn bemühte. Trotz aller gegenteiligen Bekundungen sah sie in Nantai noch immer ihr Kind, es fiel ihr schwer, hinzunehmen, dass er schon bald für sich selbst sorgen würde… vielleicht sogar für seine eigene Familie.

Ich bin neugierig, wie sie reagiert, wenn er eine Partnerin wählt. Schließlich ist er alt genug, um den Bund einzugehen. Auch wenn es schien, als ginge Nantai zumindest in dieser Hinsicht denselben Weg wie sein Vater. Denn Achak war Mitte zwanzig gewesen, als er die damals sechzehnjährige Pohawe getroffen hatte - in einem Alter also, in dem die meisten Waldbewohner den Bund bereits eingegangen waren. Doch ihn hatte bis zu diesem Tag keines der Mädchen interessiert. Bis zu diesem Tag war auch für ihn die Geisterwelt das Zentrum seines Lebens gewesen - ebenso wie für Nantai, dessen ganzes Streben bisher der Suche nach seiner Gabe gegolten hatte. …Und dies, obwohl seine Chancen ausgesprochen gut standen, eine Partnerin zu finden. Nicht ohne Stolz hatte Achak bemerkt, wie die jungen Frauen des Stammes Nantai umgarnten, und wie sehr sie um seine Aufmerksamkeit rangen. Mit nur mäßigem Erfolg allerdings. Zwar gab sich Nantai gerne mit ihnen ab, lachte und scherzte oft mit ihnen. Doch keines der Mädchen hatte jemals sein Herz berührt. Vielleicht sollte er sich auf andere Dinge besinnen. Vielleicht würde ihm die Liebe einer Frau sogar helfen, sich seiner Gabe zu nähern. Schmunzelnd musterte er den Sohn, der mit finsterer Miene vor sich hin starrte… Allerdings wird er mit Sicherheit kein weibliches Herz erobern, wenn er so grimmig dreinblickt wie jetzt. Dieser Gedanke rief den Schamanen in die Gegenwart zurück. Nantai war heute zum Manne geworden und hatte von den Geistwesen seinen Weg erfahren. Doch anstatt sich den Eltern stolz mitzuteilen, hockte er niedergeschlagen am Feuer und löffelte stumm seine Schale leer. Und mit einem Mal drängte es Achak doch, seinen Sohn nach dem Grund seines Verhaltens zu fragen. Aber Pohawe kam ihm zuvor, wie so oft. Sie hatte nur gewartet, bis Nantai ihr die leere Schale zurückgab, um ihn auf die Botschaft der Geistwesen anzusprechen. „Ich weiß, dass ich keine Erklärungen mehr von dir verlangen darf, mein Sohn“ begann sie. „Trotzdem bitte ich dich, uns den Kummer anzuvertrauen, der dich ganz offensichtlich quält. Vielleicht wissen dein Vater und ich Rat. Vielleicht können wir helfen.“ Nantai rang mit sich. Lange Zeit. Aber dann erzählte er den Eltern von der Botschaft der Geistwesen, und dass sein Weg ihn nach Megalaia führte. Pohawe reagierte wie erwartet. „Du musst dich täuschen, Nantai!“ stammelte sie entsetzt. „Die Botschaft der Geistwesen muss etwas anderes bedeuten. Du gehörst hierher in die Wälder, zu deinem Stamm! Warum solltest du nach Megalaia gehen? Wie sollte eine Stadt, die vor langer Zeit von den Geistwesen verlassen wurde, dir bei der Suche nach deiner Gabe helfen?“ Doch zu ihrem Leidwesen blieb sie mit dieser Meinung allein. „Nein, Pohawe“ erklärte Achak entschieden, „Nantai hat Recht. Auch ich habe keinen Zweifel, dass die Geistwesen ihn nach Megalaia sandten." Empört öffnete sie den Mund, um zu widersprechen. Doch der Blick ihres Gatten erstickte die Worte, noch ehe sie ihre Lippen verließen. „Wir sollten den Willen der Geistwesen nicht noch einmal in Frage stellen“ erklärte der Schamane ernst. „Wenn sie wollen, dass Nantai in diese Stadt zieht, dann wird er es diesmal tun - und dort vielleicht endlich zu seiner Gabe finden.“ Pohawe begriff, dass sie Nantais Abreise diesmal nicht verhindern würde. Deshalb versuchte sie sich damit zu trösten, dass er nun kein Kind mehr war, dass er eine starke Seele besaß, und dass ihm das Leben in der Fremde jetzt um vieles leichter fallen würde als dem Zehnjährigen damals. Aber irgendetwas in ihr wollte nicht daran glauben. * Nantais Weg stand nun fest. Doch wie er die Zeit in Megalaia verbringen, und wovon er dort leben sollte, war ein noch ungelöstes Problem. Nicht allein, weil die Stadt kein Mitleid mit jenen kannte, die sich nicht selbst halfen, sondern auch, weil man dort, um den Zustrom zu begrenzen, für Neuankömmlinge hohe Hürden gesetzt hatte. Aber noch ehe Nantai eine Entscheidung traf, hielt der Winter Einzug in den Wäldern, viel früher als sonst, und ungewohnt heftig, mit Schneestürmen, die die Dorfbewohner tagelang von der Außenwelt abschnitten. Zum Bleiben gezwungen, nutzte er die dunklen und kalten Wochen, um nachzudenken. Er rief sich ins Gedächtnis, was er über Megalaia wusste, redete mit den wenigen, die die Stadt aus eigener Erfahrung kannten - und mit den vielen, die durch andere von ihr wussten. Horchte immer wieder in sich hinein. Was wollte er selbst? Sollte er sich wie fast alle Waldbewohner, die sich zuvor in die Stadt gewagt hatten, als Handwerker oder als Bauarbeiter verdingen? Oder sollte er einen anderen Weg beschreiten? Sich auf etwas einlassen, das kaum einer vor ihm getan hatte? Sollte er ein Studium beginnen? Den Kopf dazu besaß er zweifellos. Aber seine Seele? Würde sie dieser Belastung standhalten? Immer wieder wog er beide Möglichkeiten ab, entschied sich mal für die eine, mal für die andere. Doch nur, um sie wieder zu verwerfen - und wenig später erneut zu bedenken. Viele Nächte lang lag er wach, und lauschte dem Wüten der Elemente draußen, während seine Gedanken sich unablässig um diese Frage drehten. Bis er sich, mit dem Ende des Winters, endlich entschied. Er würde studieren, und dafür ein Stipendium nutzen, mit dem die Regierung versuchte, die jungen Waldbewohner in die Stadt zu locken - ohne Erfolg bisher. Die wenigen, die das Angebot vor ihm genutzt hatten, waren allesamt gescheitert und hatten Megalaia lange vor dem Abschluss den Rücken gekehrt. Aber das störte ihn nicht. Er hatte ohnehin nicht vor, lange zu bleiben. Er wollte seinem Aufenthalt durch das Studium lediglich einen Sinn verleihen. Und die Stadt wieder verlassen, sobald seine Gabe erwachte.

Die Wälder von NanGaia

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