Читать книгу Milas Wunschliste ans Universum - Sabine Wallner - Страница 10
Graujahre
ОглавлениеNatürlich war Isa trotz oder vielleicht sogar wegen all der Vorkommnisse in unserer gemeinsamen Jugend mein Vorbild. Meine ältere Schwester war konsequent, schnell und gut in allem, was sie tat. Sie schlug die härteren Bälle beim Tennis, sie lief mir mit ihren langen Beinen jedes Mal davon, wenn ich sie um ein Rennen bat. Und selbstverständlich tanzte, sang und malte sie auch besser als ich. Niemand in der Familie, weder mein Vater noch meine Mutter noch meine Schwester selbst hielten es für nötig mir zu sagen, dass ihr Vorsprung womöglich auch altersbedingt begründet sein könnte und so gesehen ganz normal war. Niemand legte ihr ans Herz, mich – die kleinere – wenigstens ab und zu gewinnen zu lassen. Keiner bot mir an, zusammen im Team gegen sie anzutreten oder mir auch nur zu zeigen, wie ich mich verbessern könnte. Im Haus Rittersporn galt für den Nachwuchs das Gesetz des Stärkeren und die Überzeugung, dass unabhängig von Alter oder Talent einheitlich Maß zu nehmen sei. Man „schaffte es allein“ und man „ließ sich nicht gehen“. Meinem Vater schien das Seelenheil seiner Töchter per Geburt egal zu sein, meine Mutter hingegen verfolgte mit ihrer Erziehung offenbar ein klares Ziel. Jedenfalls wurde sie nicht müde zu sagen: „Mila, irgendwann wirst du mir dankbar dafür sein, dass ich dich so konsequent gefördert habe“.
Ihre Förderung bestand zum Beispiel darin, mir ihre Sichtweise zu vermitteln und klar zu machen, dass nur diese für mich zu gelten hatte. Jedes Mal, wenn ich etwa begonnen hatte, ein Bild zu malen, mit vielen Farben und erstaunlicher Fantasie, stand irgendwann kurz bevor ich zufrieden mein Bild zur Seite legen und als "fertig" definieren konnte, meine Mutter neben mir. Sie sagte Sätze wie: "Die Komposition ist ein wenig schlicht, wenn auch nicht uninteressant. Die Verwendung dieses Grüntones in Kombination mit einer orangen Grundierung zeigt dein naives Verständnis von Farbe. Hättest du dich über ein sattes Gelb gewagt, wäre die Strahlkraft weit größer. Und der bunte Drache links außen im Feld hätte wesentlich mehr Raum, sich zu entfalten. So verliert dein Bild an Tiefe. Ein netter Versuch, wenn doch ein wenig unausgereift." Ich betrachtete mein Bild mit den Augen meiner Mutter. Und fand bestätigt, was sie sagte. Jedes Kind sah, dass der Drache viel zu wenig Luft zum atmen hatte und dass mein schmutziges Orange mit dem vorgeschlagenen Gelbton meiner Mutter nicht konkurrieren konnte.
Hätte ich zu diesem Zeitpunkt das Talent gehabt, mit den Augen meines „Nonnos“ zu schauen, hätte ich mich vielleicht nicht von Mutters Kritik beirren lassen. Ich wäre zu meinem Bild gestanden und hätte es verteidigt, vielleicht hätte ich damit meine Mutter beeindruckt und Schritt für Schritt an Selbstbewusstsein gewonnen. Aber der Vater meines Vaters war tot, ich ein Kind ohne die Fähigkeit, zu reflektieren und nur allzu bereit zu glauben, was meine Mutter mir sagte. Mit der Zeit brauchte ich niemanden mehr aus der Familie Rittersporn der mir sagte, dass das, was ich leiste, nicht genügt. Ich war mein schärfster Kritiker geworden. In meinem Kinderzimmer stapelten sich in einer Sammelmappe unzählige unvollendete Werke, die ich niemals mehr aus den Fächern zog. Meine Bilder waren immer dreiviertelvoll mit Farbe. Überschäumend, fröhlich, bunt und kindlich. Irgendwann begannen sie steif zu werden. Die Versuche, es "gut" zu machen im Sinne meiner Mutter waren kläglich. Die Verbesserungsstriche, die ich mit meinen Pinseln und Malfarben setze, unbeholfen. Ich wusste eigentlich gar nicht, was von mir erwartet wurde und so entschied ich mich in der Regel lieber dafür, aufzuhören, als mich auszuprobieren. Vielleicht war Mutter der Meinung, mein Ehrgeiz würde durch die anhaltenden Frustrationen entfacht werden oder meine Kämpferseele erwachen, wenn ich mich immer wieder aufs neue mit eigener Kraft aus Löchern ziehen muss, in die ich hinein gestolpert bin. Das Beispiel meiner Schwester schien ich Recht zu geben. Aber während die Erziehung meiner Eltern bei Isa Früchte zu tragen schien und diese zäh, hart und ehrgeizig, bis hin zu rücksichtslos bei der Erreichung ihrer Ziele wurde, entwickelte ich mich zu einer mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten Mimose. Ich war entgegen der Vorhersagen meiner Mutter keineswegs von dem Wunsch beseelt, es richtig oder besser zu machen. Sondern irgendwann frustriert davon überzeugt, dass ich den Ansprüchen meiner Familie nie gerecht werden würde. Als ich fünfzehn Jahre alt war und in einem Alter, in dem ich womöglich aufgrund meiner körperlichen Entwicklung mit Isa gleichziehen hätte können, hatte ich aufgegeben. Selbst wenn ich zufällig etwas zu Ende bringen konnte, merkte ich nach der ersten Euphorie nagenden Zweifel. „Was würde meine Mutter davon denken, war es gut genug in ihren Augen?“.
In meiner Erinnerung sind die Jahre nach meinem Unfall wohl vor allem deshalb ziemlich grau. Mag sein, dass es auch an der Pubertät lag, die sich ewig hinzog und mir zu allem Übel auch noch eine schwerere Form der Akne bescherte. Was mich, die ich ohnehin nicht besonders selbstbewusst im Leben stand, um Längen zurück warf. Ich hatte wenige Freunde, viele eitrige Pickel und daher jede Menge Zeit, mich mit der Schule zu beschäftigen. Was ich auch tat, nachdem ich heraus gefunden hatte, dass ich über gute Noten in Französisch, Mathematik oder Geschichte die Anerkennung erntete, die ich für mein Aussehen, meinen Kreativität oder meine Entdeckerfreude nie bekommen hatte. Ein paar Wochen Sprachurlaub in Frankreich, den meine Schwester möglich gemacht hatte, war mein persönliches Highlight in dieser ansonsten eher eintönigen Phase meines Lebens. Mein Abiturzeugnis war entsprechend gut ausgefallen und die kleine Feier, die meine Eltern zu meinen Ehren abhielten, war für unsere Maßstäbe beinahe ausgelassen. Vater hatte den Jahrgangswein, den er zu meiner Geburt eingelagert hatte, geöffnet und ich hatte den pelzigen, leicht säuerlich schmeckenden Rotwein fast allein getrunken. Es gab Lichterketten, Häppchen und Erdbeerbowle im Garten und Isa hatte an die untersten Äste der Eiche kleine Laternen gehängt, die in der Dunkelheit warm zum Haus herüber leuchten. Meine Mutter buk die obligatorische Schwarzwälder Kirschtorte, die zu allen feierlichen Anlässen auf den Tisch kam und mein Vater hielt sogar eine kleine Rede, die Isa, die nach drei Jahren an der Sorbonne ihr Studium abgebrochen und zwischenzeitlich wieder zurück in unser Elternhaus gezogen war, glucksend mit einem „Salut“ kommentierte. Das Blatt hatte sich plötzlich gewendet. Während all die Jahre Isa als die perfekte Tochter galt, war sie aufgrund ihrer verfrühten Heimkehr aus Frankreich und der sehr mangelhaft vorhandenen Studiennachweise in Ungnade gefallen und ich hatte ihren Platz eingenommen. Meine Eltern hatten nie wirklich kontrolliert, was Isa in Paris trieb. Sicherlich studierte sie eifrig und vertiefte ihr Wissen in diversen human-wissenschaftlichen Spezialfächern enorm, nur eben nicht in ihrem inskribierten Hauptfach an der Universität. Während meine Eltern tobten, nahm Isa es gelassen. Sie hatte die Zusage für die Ausbildung zur Bankkauffrau bereits in der Tasche und saß lediglich die Zeit ab, bis zum Ausbildungsbeginn in drei Monaten. Das tat sie provokant untätig, was mir einiges an Bewunderung abrang. Ich erkannte meine ehrgeizige Schwester kaum wieder und meinen Eltern ging es offenbar genauso. Aber nachdem Isa volljährig war und wieder Vater noch Mutter es aus gesellschaftlichen Gründen übers Herz brachten, sie vor die Tür zu setzen, lebte sie ein Leben wie die Made im Speck und schien sich dabei königlich zu amüsieren. Ich konnte mich darüber nur bedingt freuen. Denn trotz der bestandenen Prüfungen und meiner 18 Jahre war ich fast gänzlich ohne Lebenserfahrung und gefühlt hilfloser, als ein Neugeborenes am Tag seiner Geburt.
Mir fiel beim besten Willen nicht ein, was ich mit dem Zeugnis und meiner Volljährigkeit anfangen sollte. Was meine Mutter zum Anlass nahm, die Fäden in die Hand zu nehmen und sich für mich um einen Studienplatz zu bewerben. Während sie vor vier Jahren, in der Zeit, als Isa nach Frankreich ging, noch frankophil war und alles kopierte, was aus Paris zu uns schwappte, war sie nun in ihrer Asia-Phase angekommen. Sie züchtete neuerdings Bonsai, trug lange Seidenkimonos und kochte ständig asiatisch. Zudem trank sie literweise Tee aus Sri Lanka an Stelle von Filterkaffee, was sie damit begründete, dass die Gerbstoffe ihr besser bekamen, als alles andere. Asien als Reiseland hatte es ihr angetan und nachdem mein Vater in den Nachrichten gehört hatte, dass die Handlungsbeziehungen zu Japan ausgebaut werden sollen, befanden sie gemeinsam, dass ihre jüngere Tochter Japanologin werden würde. Ich hatte mich noch nie mit diesem Studienfach auseinandergesetzt, im übrigen auch mit keinem anderen. Aber die Begeisterung meiner Eltern übertrug sich allmählich auch auf mich und im Laufe der Semester stellte ich erstaunt fest, dass ich tatsächlich auch eine Begabung für das Fach hatte. Ich mochte die Kultur, die Schriftzeichen und vor allem die Sprache, die ich nach knapp vier Jahren fließend sprach. Mein Selbstbewusstsein wuchs mit meinem Vokabelschatz. Vielleicht aber auch deshalb, weil meine Haut mittlerweile sehr ebenmäßig war, meine roten Haare glänzend und voll über meine Schulten fielen und mein Körper sich gestreckt und durchaus ansehnlich geworden war. Ich hatte nicht die glatte Schönheit meiner Schwester Isa, aber eine exotisch-attraktive Ausstrahlung, die mich zusammen mit meinem seltenen Studienfach zu einem beliebten Gast auf jeder Verbindungsfeier machten. Mein Leben war von einem Tag auf den anderen fast perfekt. Ein Jahr blieb mir noch bis zur Abschlussarbeit. Meine Eltern liebten mich neuerdings, ich hatte Freunde, Sex und Perspektiven. Dieses Mal würde alles gut werden!