Читать книгу Milas Wunschliste ans Universum - Sabine Wallner - Страница 7

Flickwerk

Оглавление

Die Zeit im Krankenhaus war eine Art Meilenstein in meinem Leben. Ein wenig so, als wäre ich zuvor auf einer breiten Straße gefahren und hätte zahllose Kreuzungen und Wendemöglichkeiten gehabt, mich aber ab diesem Zeitpunkt für eine enge, schmale Einbahnstraße ohne Umkehr und Ausfahrt entschieden. Gefühlt waren diese Wochen, in denen ich nahezu bewegungslos in meinem Korsett ans Krankenbett fest gezurrt war auch jene Wochen, in denen ich für mich akzeptierte, dass Erfolgserlebnisse in meinem Leben nicht vorgesehen zu sein schienen. Schließlich hatte ich eine echte Chance gehabt und war dennoch, wie von ihr prophezeit, vor die Füße meiner Mutter geplumpst. Während sich vor meinem Sturz noch ein dünnes Stimmchen in mir aufgelehnt und befohlen hatte, an mich zu glauben, gab ich Mutter nun innerlich Recht: Ich war wohl zu klein, zu pummelig, zu schwach, zu unkreativ, zu laut, zu schlecht erzogen und zu frech. Ich war all das, was einen Sturz aus rund zehn Meter Höhe rechtfertigt. Ich hatte sehr viel Gelegenheit, dieser Liste noch weiter Atribute hinzuzufügen, lag ich doch die erste Woche allein in einem abgedunkelten Zimmer im Krankenhaus und dämmerte vor mich hin. Die Zeit schleppte sich von einer Morphiumgabe zur anderen. Ich war noch nicht mal wirklich Teenager, aber bereits süchtig. Das Mittel bekam ich eigentlich zur Linderung meiner Schmerzen, die wirklich schlimm waren und in den ersten Wochen wie Wogen über mir zusammenbrachen. Aber noch mehr als die körperlichen Verletzungen schmerzten die ständigen Vorwürfe meiner Mutter, die final immer in der Aussage: „Hättest du nur auf mich gehört, dann hättest du uns das alles erspart!“ gipfelten. Während meine Mutter lamentierte, diskutierten die Ärzte mit meinem Vater über meine Röntgenbilder gebeugt den Bruch meiner drei Wirbel. Mein Vater behandelte mich wie eine Patientin, professionell, freundlich aber ebenso distanziert. Nur einmal strich er mir unbeholfen über meine Wange und sagte: "Das wird schon wieder, Mila."

Womit er schließlich auch Recht hatte, zumindest was meinen Körper anging. Während also meine Knochen langsam wieder zusammen wuchsen, meine Wachzeiten länger und meine Bewegungen wieder flüssiger wurden, verknöcherte ein Teil in mir, den ich gerne „Die kleine, wilde Mila“ nenne. Jener Teil meiner Persönlichkeit, der bis dahin dafür gesorgt hatte, dass ich mich mutig ins Leben geworfen und keinen Widerstand wirklich ernst genommen hatte, wurde stumm. Wenn ich heute in mich hinein höre, dann ist es so, als wäre es in dieser Ecke meines Wesens still. Ich stelle mir das immer so vor, wie wenn die vielen Bandagen und Verbände, die ich auf der Haut trug für viele Wochen nach meinem Baumsturz, nach innen gerutscht wären. Unsichtbar. Und sich um dieses innere Kind gelegt hätten. So lange, bis ein Kokon entstand, aus dem nichts nach außen dringt und nichts nach innen, hinein zu dem kleinen, wilden, unbändigen Wesen, das, wer weiß das schon, dort wartet auf wer weiß schon was? Ich erinnere mich nur sehr dunkel daran, wie ich war, bevor ich ins Krankenhaus kam. Meine Eltern nennen den Tag meiner Entlassung aus dem Klinikum auch „Tag der Vernunft“. Sie stellen es so hin, als wäre ich durch meinen Sturz gereift und erwachsen geworden. „Endlich konnte man mit dir vernünftig sprechen Kind. Zuvor hast du das Gegenteil von dem getan, was man dir gesagt hat. Aber Gott Lob hat dich dein Unfall zu einem besseren Menschen gemacht und wir alle sind sehr froh, dass wir dadurch ein paar schöne, harmonische Jahre als Familie genießen durften“.

Diese Jahre, von denen sie spricht, erscheinen in meiner Erinnerung Grau und farblos. Ich kann mich kaum an Momente erinnern, in denen ich glücklich war. Glücklich nach meiner Interpretation war ich, wenn die Haut kribbelt, die Augen strahlen, das Lachen aus dem Mund kugelt, die Beine ganz von allein hüpfen. Hingegen kann ich mich an gesittete Nachmittage am Kaffeetische erinnern. An stille Lesestunden in meinem Zimmer. An gemächliche Spaziergänge am See mit dem einzigen Höhepunkt der Entenfütterung gegen Ende der kleinen Runde. Ich kann mich an immer gleiche Dialoge erinnern wie „Was hast Du heute in der Schule gelernt, Mila?“ oder „Welchen Berufswunsch hast Du, Kind?“. Aber niemals hat sich jemand erkundigt, ob ich glücklich wäre. Oder wohin das andere, wilde, unbezähmbare, mutige Wesen gegangen sei, das ich zuvor war. In meinem anderen Leben, bevor mich der Baum abwarf, mit samt dem Vogelkind. Das Vogelkind und ich, wir waren uns wohl sehr ähnlich. Wir hatten uns alle Knochen gebrochen im Leib. Und so, wie das Tier sein Leben ausgehaucht hatte, so hatte ich das - in Metaphern gesetzt - auch getan. Ich glaubte im Krankenhausbett verstanden zu haben, warum meine Mutter Recht hat wenn sie sagt: „Nimm dich zurück, sei nicht so übermütig, das ist nichts für dich!“. Sich frei fühlen, wild sein und glücklich tat weh, bis in die Knochen hinein. Vorsicht schützt vor Verletzungen, Zurückhaltung vor Schmerz und stehen bleiben, ein paar Schritte, bevor man das eigentliche Ziel erreicht hat schützt davor, über das Ziel hinaus zu schießen. Und womöglich im Aus zu landen. Oder noch schlimmer, mit dem Rücken und zertrümmerten Knochen im Leib auf der Erde. Mir war klar, dass ich, ebenso wie das Amselküken, tot hätte sein können. Tot sein wollte ich nicht, also begann ich ein Leben, das nur ein Ziel hatte: Überleben. Das war viel mehr, als ich mir damals erhofft hatte, als mein Blick nach oben ging in den Baumwipfel und ich die Schreie meiner Mutter hörte, die brüllte: „Jetzt ist sie tot!“. Als der Rettungssanitäter mich gefühlt Stunden später auf einer harten Bahre festzurrte und meinen Nacken und meinen Kopf mit jeder Menge Schaumstoff zu sichern schien, wusste ich: „Ich lebe!“. Und das ist viel mehr, als andere von sich sagen können. Vielleicht ist das genug, zu leben?

Nachdem die Schmerzen erträglicher wurden und klar war, dass die Bruchstellen an meiner Wirbelsäule gut verheilen würden, verlegte man mich von der Intensiv- auf die normale Kinderstation. Ich bekam wenig Besuch während dieser Zeit und langweilte mich. Die Bücher, die meine Mutter mir brachte, konnte ich kaum lesen, weil mich mein Gipspanzer in eine halb-liegende Haltung zwang. Also begann ich mir Geschichten für die anderen Kindern in meinem Zimmer auszudenken. Wir waren zu viert. Ein blondes Mädchen in meinem Alter, das sich beim Radfahren einen komplizierten Armbruch zugezogen hatte, ein kleiner Junge mit großen, dunklen Augen, der viel weinte und selten sprach und ein 14-jähriger Rotschopf, dem man den Blinddarm entfernt hatte und der sich über das schlechte Essen und das ständige Gewimmer seines Bettnachbar beschwerte. Wir entwickelten gemeinsam das Genre der Drei-Wort-Geschichten: Jeder durfte abwechselnd drei Wörter auf eine Zettel schreiben und ich erfand dazu eine Geschichte. Auf den Zetteln von Greta, so hieß das andere Mädchen, standen immer typische Mädchenworte wie Pferd, Kaninchen oder Pfannkuchen. Die Geschichten, die sich daraus entsponnen, waren lieblich und wenig anspruchsvoll. Wenn ich ehrlich bin, langweilten sie mich sogar ein wenig. Auch wenn Greta und ich Freundinnen wurden und uns nach dem Krankenhausaufenthalt lange Briefe schrieben, konnte ich mich nie so richtig für ihre typischen Mädchenthemen erwärmen. Dagegen waren die Vorgaben von Paul, dem ältesten in der Runde, spannender. Ich strickte Märchen um Worte wie Kriegsheld, Wasserbombe, Zuckerschock und Schweineschnitzel. Am anspruchsvollsten und interessantesten waren allerdings die Ideen, die Manuel hatte. Der Junge, der alterslos schien und wegen unklaren Symptomen eingeliefert worden war, hatte Hämatome am ganzen Körper. Seine Arme waren übersät mit kleinen und größeren Narben, sein Ohrläppchen war eingerissen und heilte schlecht, was ich mitbekam, als ihm die Krankenschwester die Haare waschen wollte und er kurz zurück zuckte. Alles in allem wirkte Manuel ein wenig wie jemand, der lange in einer dunklen Höhle gesessen und dort um sein Überleben gekämpft hatte. Von ihm kamen krakelig beschriebene Zettel mit Worten wie Ungeheuer, Begräbnis, Zungenschlag oder Mitgefühl. Wenn ich begann, aus Manuels Worten Geschichten für uns zu erfinden, hingen alle drei Kinder wie gebannt an meinen Lippen und es war so still im Raum, dass manches Mal sogar die Krankenschwester nach uns sah aus Angst, wir würden etwas aushecken oder hätten die Flucht ergriffen. Manuel und mich verband eine tiefe Übereinkunft. Er blickte mich mit seinen dunklen Augen an und ich hatte das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, jemand sah mich wirklich so wie ich war. Während mich ab und zu meine Mutter mit meiner mürrischen Schwester im Schlepptau besuchen kam, kam für ihn nur ein oder zwei Mal eine ältere Dame im steifen Kostüm, die sich ungefragt auf seine Bettkante setze und ihm im Flüsterton Fragen stellte, die er ebenso leise beantwortete.

Die selbe Frau war es auch, die ihn am Tag seiner Entlassung in Empfang nahm, seine Sachen zusammen trug und ihn begleitete. Später, als ich wieder zuhause war, belauschte ich meine Eltern im Gespräch und erfuhr, dass die Dame vom Jugendamt gewesen war und Manuel zu ihren Schutzbefohlenen gehörte, nachdem ihn sein Vater über Jahre misshandelt, mit Zigaretten verbrand und geschlagen hatte. Er sollte wohl zu einer Pflegefamilie ziehen und ich hoffte inständig, dass es ihm dort besser erging als an dem Ort, an dem er zuvor war. Von Manuel hörte ich nie wieder etwas. Dafür sah ich den Rotschopf im neuen Schuljahr auf dem Pausenhof blitzen. Als ich Paul allerdings ansprach, tat er so, als würden wir uns nur flüchtig kennen und verbot mir rüde, ihn vor seinen Freunden zu belästigen. Offenbar war es ihm peinlich, dass ein 12-jähriges Mädchen ihm über Wochen Geschichten erzählen durfte und er eifrig immer neue forderte, weil sie ihm so gut gefielen und ihn vergessen ließen, dass seine Narbe schmerzte und er seine Familie vermisste. Nach Manuel und Paul wurde auch Greta entlassen und die leeren Betten wurden mit neuen Kindern aufgefüllt. Ich wusste, dass ich nur mehr wenige Tage bleiben musste und so beschloss ich, keine neuen Freundschaften mehr zu schließen und mich statt dessen ein wenig umzusehen in jenem Krankenhaus, in dem auch mein Vater arbeitete.

Als ich aufstehen durfte und durch die langen Krankenhausgänge schlurfte, lief ich ihm auch tatsächlich immer wieder über den Weg. Er war umgeben von einem Tross junger Ärztinnen und Ärzte und im Gespräch mit Patienten, Schwestern oder Krankenpflegern. Oft musste ich zweimal hinschauen, weil mir der Mann, der am anderen Ende des Flures jovial lächelnd der älteren Dame die Hand auf die Schulter legte, so fremd war. Ich glaube, dass ich meinen Vater zuhause niemals lachen gehört hatte. Und so starrte ich ihn überrascht an, als er lauthals los prustete, nachdem ihm eine junge Krankenschwester offenbar einen anzüglichen Patientenwitz erzählt hatte. Er rieb sich die Hände, klopfte der zierlichen Frau kameradschaftlich auf den Rücken und grinste sie mit einem breiten, schelmischen Bubenlachen an, in das ich mich sofort verliebte. Ich hatte alte Fotos von ihm und meiner Mutter gesehen aus der Zeit, in der sie sich kennen- und lieben gelernt hatten. Mein Vater, so wie ich ihn in diesem Tagen zum ersten Mal und zum letzten Mal sah, schien in der Vergangenheit ein anderer Mensch gewesen zu sein. Gerne hätte ich ihn gefragt, was geschehen war. Aber am Ende ließ ich es bleiben und akzeptierte, dass der Mann, den ich zuhause „Vater“ nannte, ein anderer Mensch war als jener, dem ich im Krankenhausflur begegnet war.

Milas Wunschliste ans Universum

Подняться наверх