Читать книгу Milas Wunschliste ans Universum - Sabine Wallner - Страница 11

Neurotisch

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Wie sich sehr bald herausgestellt hatte, hatte ich mich in Bezug auf die Erfolgsaussichten hinsichtlich meines in greifbare Nähe gerückten Studienabschluss verkalkuliert. Woran das liegt? Die wenigsten Menschen, denen ich bisher begegnet bin haben verstanden, dass ich mit meiner „Dreiviertel-ist-genug“-Meise in meinem bisherigen Erwachsenenleben tatsächlich noch nichts wirklich zu Ende gebracht habe. Seit ich mit zwölf Jahren unfreiwillig wieder den Weg von der Baumkrone nach unten auf den harten Boden der Tatsachen angetreten habe, ist das so. Es war also nur konsequent, dass ich auch das Studium der Japanologie, das ich auf Wunsch meiner Eltern begonnen hatte, abbrach. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass ich gar keine andere Wahl gehabt hätte.

Aber vielleicht muss ich ein wenig ausholen? Mir ist selbst klar, dass jeder von uns Neurosen oder netter ausgedrückt – Spleens hat, die man, auch wenn man sich derer bewusst ist, gar nicht so einfach wieder los wird. Ich war davon natürlich nicht ausgenommen. Kein Mensch auf der Welt ahnt etwa, dass ich beim Urinieren immer das Wasser laufen lasse, damit Menschen, die möglicherweise an der WC-Tür lauschen, nichts von meinem Plätschern auf der Kloschüssel mitbekommen. Oder dass es mir lange Zeit eine diebische Freude macht, auf dem Spielplatz liegen gebliebene Sandformen einzustecken und mit nach Hause zu nehmen. Zuhause stapelten sich die bunten Förmchen auf meinem Balkon und immer im Winter pflanzte ich Kresse-Samen darin, was hübsch aussah. Natürlich hatten diese Angewohnheiten, die ich mir im Alltag gönnte, kaum negativen Einfluss auf mein Leben, meine Gesundheit oder mein Auskommen. Dagegen war meine Unfähigkeit, etwas zu vollenden, ein ganz anderes Kaliber. Das leuchtete sogar mir ein, ich konnte nur nichts dagegen tun.

Während ich die meiste Zeit des Studiums genossen und sogar selbst an ein reguläres Ende geglaubt hatte, stieg meine Anspannung im letzten Jahr an der Universität drastisch an. Ich war einem erfolgreichen Abschluss bereits beängstigend nahe gekommen. Ich konnte mich schlecht von der Brücke stürzen, um dem Abschluss zu entkommen, also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Die Lösung kam dann schneller als erhofft, verpackt in einen geselligen Filmabend. Mit Freunden aus dem Abschlussjahrgang plante ich zur Feier der bevorstehenden letzten Studienwochen einen japanischen Abend. Wir verabredeten uns zur traditionellen Teezeremonie, hatten während dessen buddhistische Ritualgesänge gelauscht und uns alle unseren traditionellen Hakama angezogen. Ein Hakama ist ein japanisches Beinkleid, das es für Männer, ebenso wie für Frauen gibt. Wunderbar bequem im Übrigen, weil es in der Regel weit geschnitten ist und durch seinen Schnitt jede Problemzone verdeckt. Wir fanden den Hakama angemessen, nachdem das Kleidungsstück in Japan in Kombination mit dem Kimono auch bei Abschlusszeremonien eine große Rolle spielt. Schließlich waren wir angehende Japanologen und hatten den Abschuss so gut wie in der Tasche. Unseren Abend sollte neben Tee, Musik und kleinen, landestypischen Gerichten auch ein echter japanischer Film bereichern. Die Auswahl dafür traf Mike, ein schlaksiger, pickeliger Mann dessen Vater im Auswärtigen Amt ein kleiner Beamter war und ihn unbedingt im diplomatischen Dienst sehen wollte. Mike war an sich eine sensible Seele, ein Feingeist und Liebhaber schöner Dinge. Als er herausfand, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte, begann er bei einem amerikanischen Therapeuten mit zweifelhafter Zulassung eine so genannte Reparativtherapie. Vereinfacht gesagt ging es dabei darum, aus dem homosexuellen Mike einen heterosexuellen Mike zu machen. Obwohl „schwul sein“ in unseren Kreisen genauso normal war wie „in Therapie“ oder „Kind geschiedener Eltern“, wollte Mike ganz klassisch um jeden Preis die Ansprüche seines Vaters erfüllen und sich als Mitglied seiner ehrbaren Familie skandallos in die Gesellschaft integrieren. Natürlich schlug die Therapie fehl. Und natürlich begehrte Mike seine Mitstudenten mehr als denn je. Das erfuhren wir aber erst viel später, nachdem jemand nach seinem Selbstmord – er hatte sich auf die Gleise gelegt und sich vom Schnellzug den Kopf vom Rumpf trennen lassen - seine erschütternde Klageschrift ins Netz stellte.

Jedenfalls hatte Mike, zu diesem Zeitpunkt noch quicklebendig aber schwer depressiv das dystopische Werk „Battle Royale“ von Kinji Fukasaku ausgesucht. Der Film stand auf allen schwarzen Listen und hatte keine FSK-Freischaltung erhalten, war im Gegenteil in Europa als bedenklich eingestuft. In Japan erhielten Darsteller und Drehbuch dagegen hochdekorierte Auszeichnungen. Und das reichte für Mike aus, um „Battle Royal“ für die richtige Wahl als authentischen Beitrag zu unserem Abschlussabend zu halten. Rasch zeichnete sich für uns anderen ab, worum es bei „Battle Royale“ im Wesentlichen ging: Um ein Spiel, an dem Schulklassen teilnehmen müssen, um sich gegenseitig zu töten. Der Film spielt in Japans Zukunft, wo die Arbeitslosigkeit riesig und der Verdruss enorm ist und es besser ist, einen Menschen bzw. Mitkonkurrenten am Arbeitsmarkt zu verlieren als ihn am Leben zu halten. Das Grauen nahm seinen Lauf, Blut spritzte und Japans Drehbuchautoren zeigten uns in schneller Reihenfolge und in erbarmungslosen Nahaufnahmen einen Abriss sämtlicher möglichen Tötungsarten. Die Jugendlichen metzelten sich nieder mit Pistolen, Messern, mit bloßen Händen, spitzen Gegenständen, durch Prügel oder Stürze aus großer Höhe. Mike und ein paar Kommilitonen, die sich von ein paar Metern Zelluloid nicht unterkriegen lassen wollten, bestanden darauf, den Film zu Ende zu schauen. Die meisten von uns waren danach schockiert, andere einfach nur erleichtert, dass es vorbei war. Ich hingegen war in meinen Grundfesten erschüttert. „Ein Land, das derartiges Gedankengut hervorbrachte und es in diesem Maße glaubwürdig auf die Leinwand brachte, hatte meine Aufmerksamkeit nicht verdient“, würgte ich heraus. Am nächsten Tag sprach ich im Sekretariat des Dekans vor. Und wurde aus der Liste der Studierenden gestrichen.

Es war anfangs nicht leicht, meine Argumente für diese Entscheidung durch zubringen. Die allermeisten Professoren und Mitstudenten verwiesen auf die reiche, jahrtausendealte Kultur Japans, meine vielversprechende Zukunft als angehende Japanologin und auf cineastische Meisterwerke wie „Die sieben Samurai“, „Die letzten Glühwürmchen“ oder „Twenty-four Eyes“ aus dem Jahr 1954. Meine Freundin und Mitbewohnerin Heike schrieb eine lange Liste mit europäischen Filmen, die es in Sachen Blutverlust und Horror mit „Battle Royale“ aufnehmen konnten und mich davon überzeugen sollten, dass es überall auf der Welt Menschen gab, die schreckliche Filme produzierten. Meine Eltern ließen mir kommentarlos einen Ordner mit Kontoauszügen und Abbuchungsbelegen der Universität, des Studentenheimes und eine Aufstellung meiner monatlichen Taschengeld-Zuwendungen während der Studienzeit zukommen, die – zusammengerechnet - eine erkleckliche Summe ergaben. Sie sprachen elf Wochen lang kein einziges Wort mit mir, obwohl wir uns auch weiterhin zwei Mal wöchentlich zum Essen im familiären Kreis trafen. Während die Abende vor meinem Studienabbruch immer eine Art Höhepunkt der Woche für mich waren, verliefen sie von da an immer gleich eintönig: Ich parkte mein Auto vor dem Haus, stieg aus, sah meine Mutter, die vom Fenster weghuschte und den Vorhang zuzog, drückte den Klingelknopf an der Haustür, wartete mindestens zehn Minuten. Drückte ein zweites Mal. Wich zurück, weil mein Vater schwungvoll die Tür aufriss, sah in sein beleidigtes Gesicht, grüßte, zog meine Schuhe aus, legte meine Jacke auf die Kommode, folgte dem Vater ins Esszimmer und traf dort auf Mutter, die mich mit wehleidigem Blick wortlos auf meinen Sitzplatz verwies. Wir aßen, wortlos. Tranken, wortlos. Ich dankte artig, schob meinen Stuhl bei Seite, trug den Teller in die Küche, verabschiedete mich. Ging. Anfangs hatte ich noch versucht, meinen Eltern die Gründe für meine Entscheidung darzulegen. Ich hatte ihnen ausdrucksvoll geschildert, wie traumatisch diese cineastische Erfahrung für mich gewesen war. Und welche moralischen Hürden sich dadurch für mich aufgetan hatten, die ich, beim besten Willen, zu Beginn meines enthusiastisch begonnenen Studiums, nicht erkennen hatte können. Meine Eltern blickten mich nur stumm an. Mein Vater, bereits kränklich, ächzte und stöhnte auf seinem Platz: „Sag mal Liebes, weißt Du, wo ich die lila Blutverdünner hingelegt habe. Du weißt schon, die dicken Brummer, die mir Dr. Matzkind verschrieben hat?“. Er verwickelte meine Mutter immer in ein Gespräch über seine Arzneimitteleinnahmen und die Beschaffenheit seiner Ausscheidungen, sobald ich auch nur Luft holte um etwas zu sagen. Deshalb beließ ich es irgendwann. Mit meinen Erzeugern offen und ehrlich über den eigentlichen Grund meines vermeintlichen Scheiterns zu sprechen, über meine Angst davor, erfolgreich zu sein, war völlig ausgeschlossen. Also tat ich das, was sich anbot. Ich blieb stumm. Die Sprachlosigkeit war das lauteste in diesem Raum, in dem wir saßen. Was mich traurig machte, zumal ich von meinem Vater wusste, dass diese beiden Menschen, die sich als meine Eltern ausgaben, irgendwann ganz anders gewesen sein mussten, als sie es heute waren.

Während also meine Eltern meinen Studienabbruch als persönlichen Affront werteten, konnte ich alle anderen von meinen Beweggründen überzeugen. Man hielt mich sogar für besonders mutig! Schließlich hatte ich es mittlerweile zur Meisterschaft darin gebracht habe, abgebrochene Projekte als etwas Gutes, Sinnvolles oder Verständliches zu verkaufen. Um im sozialen Gefüge nicht allzu sehr aufzufallen und anzuecken war ich es gewohnt, meinen „Defekt“ gut zu verstecken. Zumindest war ich wie die meisten von uns der Überzeugung, dass ich nach außen hin einen völlig normalen Eindruck mache. Wenn man ganz genau hinschaut, sich auf einen Menschen richtig einlässt, gut zuhört und feine Antennen hat, dann findet man trotzdem recht schnell heraus, welche Eigenarten das Gegenüber pflegt. Aber wer nimmt sich schon Zeit für so viel Empathie? Meistens gibt es eine Art stille Übereinkunft, an die wir uns alle halten: Wir nehmen uns zusammen und versuchen, ein Bild zu wahren, das dem entspricht, was gesellschaftlich anerkannt ist. Wie hatte es vor ein paar Tagen meine Zahnärztin so treffend auf den Punkt gebracht, nachdem der Geschäftsführer eines Mittelstandsunternehmens im Nachbarort innerhalb von wenigen Stunden sich und seine gesamte Familie buchstäblich pulverisiert hatte? Mit einer Extraportion Gas aus der Leitung und einem klitzekleinen Streichholz? Weil die Frau in wegen häuslicher Gewalt vor den Kadi bringen wollten, nachdem er begonnen hatte, nicht nur ihr, sondern auch den beiden Kindern regelmäßig taubeneigroße Hämatome zu verpassen: „Gibt es nicht jede Woche so einen anderen vermeidlichen Gutmenschen? Einen, den wir vielleicht sogar als freundlich und unauffällig, fast ein wenig bieder beschreiben würden, der sich im Verein, in der Suppenküche oder für den Tierschutz engagiert. Um nach dem geselligen Abend im Vereinsabend heimzugehen und dort genüsslich Frau und Kinder windelweich zu prügeln?“

Milas Wunschliste ans Universum

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