Читать книгу Milas Wunschliste ans Universum - Sabine Wallner - Страница 8

Tanzreigen

Оглавление

Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich endlich genau das Mädchen, das meine Eltern, vor allem aber meine Mutter sich immer gewünscht hatte. Ich beschloss, in meinem neuen Leben alles zu lieben, was „normale“ Kinder in meinem Alter gut finden und begann, meine selbst gebastelten Figuren aus Knetmasse und Kastanientiere, mit denen ich immer gerne gespielt hatte, gegen Handarbeiten und Jungmädchen-Bücher zu tauschen. Meinen unsichtbaren Freund „Gilu“ und meine Schmusepuppe „Nunu“ wurden von mir aus dem Kinderzimmer verbannt. Dafür begann ich, Poster aufzuhängen von Primaballerina und Pferden. Meine Mutter mochte Ballett und so wurde Tanzen zu meiner bevorzugten Fortbewegungsart: Tanzend bewegte ich mich vom Bett zum Badezimmer, Pirouetten drehend putze ich mir die Zähne, auf Zehenspitzen dribbelnd bewegte ich mich zum Kleiderschrank. Dabei erinnerte mich meine Mutter gerne daran, dass ich wenig mit den Tänzerinnen gemein hatte, die sie so bewunderte.

Ich steckte in einem plumpen, zu Babyspeck neigenden Kinderkörper, hatte ein zu großes Gesicht auf zu schmalen Schultern, hatte offenbar zu viele Gene meines grobschlächtigen Großvaters übernommen und so gar nichts Elfenartiges an mir. Meine dunkelbraunen Augen standen etwas zu schräg in meinem Gesicht, was mir im besten Fall ein exotisch asiatisches Aussehen verlieh. Meine rötlich-braunen Haare fielen schnittlauchgerade über den Rücken und klebten immer an der Kopfhaut, anstatt luftig leicht zu fallen. Ich konnte mich waschen, so oft und so lange ich wollte, irgendwie sah ich immer schmuddelig aus. Meine Füße waren riesengroß und breit, bereits in der vierten Klasse Grundschule passte ich nicht mehr in die zarten Sandälchen meiner Mutter und musste unförmige dunkle Jungenschuhe mit Klettverschluss tragen. Zudem hingen meine Arme linkisch an meinem Körper hinunter wie Fremdkörper und stießen ständig irgendwo an, so dass sie mit blauen Flecken und Schrunden übersät waren. Wenn wir am Frühstückstisch saßen und ich von meinem Vater an meine Diät erinnert wurde, war der ergänzende Lieblingssatz meiner Mutter. „Jemand, der so aussieht wie du Mila, muss besonders viel Wissen in den Kopf füllen, um später ein gutes Leben führen zu können.“

Ich bin sicher, dass sich meine Mutter nie für grausam hielt oder Selbstzweifel hatte wie ich bei der Erziehung meiner beiden Kinder. Sie war so überzeugt davon, dass ihr Konzept das richtige war, dass sie gar nicht auf die Idee kam, dass Isa oder ich darunter litten. „Ich bin Realist“, sagte sie gerne. Und ich bemühte mich, nicht beleidigt zu sein. Schließlich war ich an meine Mutter gewöhnt. Lediglich stellte ich in der Konsequenz in ihrer Gegenwart meine Tanzversuche ein. Nur vor meinem Vater wagte ich den einen oder anderen Hüpfer. „Fein, wie du das machst, mein Kind“, war sein ewig gleicher Kommentar. Den bekam ich allerdings auch für eine gute Schulnote, ein aufgegessenes Pausenbrot oder einen sauber geputzten Schuh zu hören. Insofern war er dann doch nicht wirklich aufmunternd gemeint. Vater wollte einfach Zeit gewinnen und Raum schaffen zwischen sich und seinen Kindern. Die einzige, die meine Ambitionen weitestgehend zu schätzen wusste, war meine um vier Jahre ältere Schwester Isa. Wenn auch nicht ganz selbstlos. Als ich sie bettelte, sie möge mir beibringen zu tanzen, bot sie mir ein Tauschgeschäft an. Ich verstand immer schon wenig vom Handeln und war abgöttisch verliebt in die in meinen Augen Engelsgleiche, blond-gelockte Isa. Sie klärte mich über ihre präzisen Vorstellungen auf und formulierte diese auch schriftlich in ihrer sauberen Jungmädchenschrift in einem Vertrag, den ich mit Blut aus meinem Handrücken besiegelte. „Wir zupfen dir den Schorf ab, Mila. Dann muss ich dich nicht mit einer Nadel piksen, einverstanden?“ Ich war mit allem einverstanden. Der Vertrag sah vor, dass Isa sich verpflichtete, täglich fünfzehn Minuten nach der Schule und zehn Minuten vor dem Abendessen mit mir zu tanzen. Meistens waren es wilde Ringelreihen-Scharaden mit hochfliegenden Beinen, rasanten Drehungen, begleitet von wildem Gejohle meiner Schwester. Das Ganze hatte mehr etwas von einem rasanten Husarenritt als von tänzerischer Leichtigkeit. Es war, um es ehrlich zu sagen, nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte. Aber es war besser, als nichts. Dafür musste ich Isa für den Rest der Zeit – wann immer sie danach verlangte - als ihre persönliche Leibeigene zur Verfügung stehen. Ich hatte das Wort „Leibeigene“ lesen gelernt, da war ich gerade zwölf Jahre alt. Die Bedeutung hinter dem Wort brachte mir Isa bei. „Mila, du holst mir jetzt sofort einen Apfel aus der Küche und wenn du damit fertig bist, putzt du mit der Zahnbürste die Innenseite meines Federmäppchens blitzeblank sauber.“ Oder: „So lange ich meine Hausaufgaben mache, musst Du neben mir stehen und mir meine Stifte halten. Wenn ich mit dem Finger schnippe, gibst du mir den Radiergummi. Wenn ich zwei Mal schnippe, reichst du mir das Lineal. Hast du das verstanden, Mila?“ Ich nickte eifrig. Und war ehrlich bemüht, allen Wünschen meiner Schwester gerecht zu werden. Sie sprach immer mit mir, ohne mir direkt ins Gesicht zu sehen. Ihre Pupillen wanderten. Von meinem Mund, über meine Augenbrauen, meinen Scheitel, zurück zum Kinn. Manchmal bis hinunter zum Brustbein. So müssen sich Waren fühlen, die auf dem Laufband liegen und von der Kassiererin gescannt werden. Ich fühlte mich unbehaglich, immer. Dennoch: Die Belohnung für ein wenig Unterstützung schien mir riesengroß zu sein.

Allerdings wurden aus den „normalen“ Handlangerdiensten mit der Zeit Auftritte in Rollenspielen. Wobei meine Rolle immer eng gefasst war: Ich hatte zu kriechen, zu knien oder Dinge mit meinem Mund oder meiner Zunge sauber zu machen. Sie führte mich mehrmals in der Woche am Hundehalsband durch das Kinderzimmer. Gerne ließ sie mich aus dem Teigschüssel unserer Mutter Himbeersaft trinken, wenn ich mich bei ihr mit „danke, Herrin“ bedankt hatte. Manchmal musste ich mit meiner kleinen rosa Zunge ihre weißen Hallenturn-Schuhe sauber machen, was moderate Unterwerfung war, nachdem die Sneakers lediglich ein wenig nach Fußschweiß rochen und im Grunde staub- und schmutzfrei im Turnbeutel ihr Dasein fristeten. Mit der Zeit kippte darum meine Begeisterung hin zu Ernüchterung und es reifte in mir sehr nachhaltig die Erkenntnis, dass meine zwanzig Minuten Schwesterntanz in keinem Verhältnis standen zu meinem ständigen Bereitschaftsdienst. Es gelang Isa, mich mit Engelszungen noch ein halbes Jahr bei der Stange zu halten. Auch weil sie mich feierlich an den mit Blut besiegelten Vertrag erinnerte und mir unter die Nase hielt. Mit der Zeit wurde aus dem ehemals roten Blutfleck ein schmutzig brauner und als ich meinen dreizehnten Geburtstag feierte, endete die Zusammenarbeit abrupt. Unsere Eltern fanden bis dahin offenbar nichts an Isas Spielen, sofern sie diese überhaupt bemerkten. Als Isa mich aber an meinem Geburtstag in einen großen schwarzen Müllsack steckte, der mir nur eine winzige Öffnung zum Atmen ließ, fanden sie mich so „versorgt“ in Isas Zimmer. Erst dann schritten sie ein und verboten Isa, mich zukünftig „wie Dreck“ zu behandeln. Meine Schwester war beleidigt abgerauscht und hatte sogar den geburtstäglichen Kaffeeklatsch mit Schwarzwälder Kirschtorte und Verwandtschaft versäumt, was als großer Fauxpas in unserer Familie galt. Den schwarzen Müllsack mit zwei Löchern darin, der indirekt Fluchthelfer gewesen war, behielt ich noch lange als Andenken an diese Zeit und daran, dass meine Eltern sich für mich eingesetzt hatten. Wofür ich ihnen sogar heute noch ehrlich dankbar bin.

Milas Wunschliste ans Universum

Подняться наверх