Читать книгу Milas Wunschliste ans Universum - Sabine Wallner - Страница 5
Endlos
ОглавлениеAls ich etwa fünf Jahre alt war, fiel mir zum ersten Mal auf, dass es mir schwer fällt, etwas ganz zu Ende zu bringen. Damals hatte ich dafür noch keine Erklärung. Aber es war etwas, das mich ganz klar unterschied von meinen Altersgenossen und das mir selbst auffiel. Als Kind malte ich zum Beispiel an drei Bildern gleichzeitig, ohne eines zu vollenden. Später, als Schülerin, lagen auf meinem Nachttisch immer zwei aus der Stadtbücherei entliehene Bücher in denen ich abwechselnd blätterte, ohne je bis zur letzten Seite zu kommen. Einfach weil ich es nie schaffte, wenigstens eines von beiden bis zum Rückgabetag ausgelesen zu haben. Je älter ich wurde, desto eindringlicher wurden die Stimmen der Erwachsenen um mich herum, dass ich langsam in ein Alter käme, wo man erwarten dürfte, dass ich „bei der Sache“ bliebe. Es gab, jenseits meiner eigenen Verwandtschaft, ganze Kolonnen von Erziehern, Trainern und Freunden, die zusätzlich an mir herumgemäkelt haben, weil sie der Meinung waren, ich müsste mich ja nur noch ein „ganz klein wenig anstrengen“, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Je lauter die Stimmen wurden, umso schwerer fiel es mir, über die Ziellinie zu gehen. Mich motivierten die Anregungen nicht, im Gegenteil. Fast vier Jahrzehnte lang blieb ich davon sogar relativ unbeeindruckt.
Mein Hang zum Unvollendeten hat sich im Erwachsenenalter sogar zu einem ausgeprägten Spleen gemausert. Das beginnt bei der Hausarbeit und endet bei dem Vorsatz, ein paar Kilo abzunehmen. Ich nehme mir fünf Kilo vor und bei vier höre ich auf. Ich putze alle Fenster im Haus bis auf eines. Das ist bei kurzfristigen Projekten nicht dramatisch. Bei langfristigen kann es zum Problem werden. Wenn man etwa an Karriereplanung denkt, an Beziehungen oder an künstlerische Projekte. Das einzige, was ich wirklich restlos und bis zu Ende durchgezogen habe, war die Geburt meiner Kinder. Hätte ich gekonnt, ich wäre bei meiner ersten Tochter bereits nach zwei Stunden wieder nach Hause gegangen. Nicht, ohne den Hebammen und Ärzten zugerufen zu haben: „Bringt diese absolut unwürdige Sache doch alleine zu Ende!“ Ich gebe zu, bei meinem zweiten und bisher letzten Kind, einem Sohn mit einem gefühlten Kopfumfang von 60 Zentimetern, hatte ich sogar Ansätze von Flucht. Zwischendurch brüllte ich der diensthabenden Hebamme und dem völlig überforderten Kindsvater abwechselnd meine Vorwürfe ins blässliche Gesicht. Dass es „so nicht weitergehe“, dass ich diese Prozedur „barbarisch fände“ und „nicht einsehe, warum gerade ich nun schon zum zweiten Mal hechelnd vor einem grünen Gummiball knien musste und zeitnah die Gewalt über meine sämtlichen Körperfunktionen und –säfte zu verlieren drohte“. Die junge Frau mit den grünen Katzenaugen nahm mich nicht wirklich ernst. Ich war wohl nicht die erste Gebärende, die sich kurz vor der Geburt entschied, das ganze Projekt abzubrechen und, wenn überhaupt, ein anderes Mal fortzuführen. Ich erinnere mich noch an die goldenen Sprenkel in ihrer Iris. Und genau weiß ich noch den Wortlaut ihrer Erwiderung. Er hat sich eingebrannt: „Sie bringen das jetzt hier zu Ende, meine Liebe. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig.“ Endlich kam der Junge, mein kleiner Bruno zur Welt. Glitschig und zerknautscht und doch wunderschön in seiner grotesken lila-bläulichen Hässlichkeit. Die Hebamme hatte Recht behalten: Uns blieb ja nichts anderes übrig.
Wenn man aber die Wahl hat, und die hat man erstaunlicherweise sehr oft, gibt es jede Menge plausibler Entschuldigungen, die man sich selbst ausstellt, wenn man kurz vor der Ziellinie stehen bleiben möchte. Ich kenne die, die gesellschaftlich am stärksten toleriert werden. Man kann z. B. zu sich sagen: „Das Allermeiste hast Du ja jetzt geschafft. Du kannst Dir jetzt ruhig eine Pause gönnen“. Oder „Auf einen Handgriff mehr oder weniger kommt es wirklich nicht an.“ Oder „Dieser Kurs, diese Yoga-Lehrerin“ ist unerträglich. Es ist nicht zumutbar, mir nicht zumutbar, sie auch nur einen Tag länger zu ertragen und fortzusetzen.“ Ich habe mich also die ersten vierzig Jahre meines Lebens ständig um ein sehr wichtiges Element betrogen: um das grandiose Finale oder schlicht um das Gefühl, es wirklich geschafft zu haben.
Aus meinen Schubladen, den echten und den anderen, quellen unfertige Entwürfe, halbfertige Einzelstücke, mehrere höchst ambitioniert begonnene Manuskripte, denen plötzlich, nach dem vierten, achten oder zwanzigsten Kapitel, die Worte ausgegangen sind. Seitenweise schwülstige Liebesgeschichten, Romane mit autobiografischen Zügen, kriminalistische Meisterwerke. Allesamt für die Papiertonne produziert. Meine alte Biologielehrerin, eine glühende Umweltschützerin mit militanten Ansichten, hätte diese Verschwendung von Material kommentiert mit: „So viele Bäume mussten sterben wegen der Charakterschwäche einer einzigen Frau“. Irgendwie hat sie sogar Recht, die Gute. Ich gebe es zu! Bestimmte Projekte sind in meinem Lebensplan darum auch gar nicht erst vorgesehen. Ich werde, um nur ein Beispiel zu nennen, keinen Pullover fertig stricken. Ich kaufe mir lieber einen, bei den beiden Ärmeln gleich lang sind und an dem nirgends ein Bündchen fehlt, weil der, der gestrickt hat, plötzlich keine Lust mehr hatte, auch den linken Arm abzuschließen. Bisher fand ich das, ehrlich gesagt, auch gar nicht so schlimm. Irgendwie war es ja auch immer schon so. Wenn man etwas nur lang genug macht, dann wird es irgendwann normal und auch wenn andere sagen: „Das ist aber völlig schräg“, irritiert einen das nicht weiter. Schließlich ist man daran gewöhnt.
Es ist nicht so, dass ich nicht auch manchmal Lust hätte darauf, auf dem Siegerpodest zu stehen. Ich erinnere mich nämlich dunkel daran, dass es schon auch in meinem Leben diese Erfolgserlebnisse gab, von denen die anderen später immer sprachen. Im Kindergarten wurde ein Hindernislauf mit Schubkarren organisiert. Ich lief als erste durchs Ziel und meine Erzieherin piekte mich in meine flache Brust, als sie mir die große „1. Platz“ Papierblume an meine Bluse stecken wollte. Auf diese Blume war ich unfassbar stolz. Ich trug sie Tag und Nacht. So lange, bis ich vergaß, sie von meiner Bluse zu nehmen und Mutter sie mit wusch. Was mich so todtraurig machte, dass sie sogar davon absah mich zu bestrafen. Schließlich hatte sich das feine Papier während des Waschganges aufgelöst und alle Poren der Waschtrommel verklebt, die Farbe – ich meine es war ein kräftiges Rot – hatte zudem sämtliche Kleidungsstücke gefärbt. Aber meine Verzweiflung muss so groß gewesen sein, dass meine Mutter wohl fand, dass ich bereits bestraft genug war.
Meinem „Nono“, dem Vater meines Vaters, an den ich mich nur sehr schemenhaft erinnere, weil er starb, als ich sehr jung war, schenkte ich mit fünf Jahren ein Bild. Ich weiß ganz genau, dass ich so alt war, weil wir fast am selben Tag Geburtstag haben und meine kleine Torte mit fünf Kerzen neben seiner stand, die keine Kerzen mehr hatte. Offenbar findet mancher Erwachsene ab einem bestimmten Alter keinen Gefallen mehr daran, Kerzen auszublasen. Was ich überhaupt nicht verstehen kann. Schließlich ist das Auspusten der kleinen Flammen der Höhepunkt all meiner Geburtstage. Mein Geschenk an ihn war ein Portrait. Es war ein sehr großes Bild von ihm und zeigt ihn arbeitend in seiner Werkstatt. Dort bewahrte er alles auf, was man braucht, um Möbel reparieren, leimen oder bauen zu können. Ich hatte ein paar Stunden auf dem Boden gesessen in einem Haufen von wunderbar duftenden Hobelspänen und ihm zugesehen. Vor mir lag ein Blatt Zeichenpapier und eine Handvoll Buntstifte, die er mir zuvor mit einem scharfen Messer sorgfältig zugespitzt hatte. Wir wechselten kaum ein Wort, ich unterhielt mich nur leise mit „Gilu“, meinem unsichtbaren Freund, mit dem ich mich unterhielt, wenn meine Eltern oder meine Schwester nicht in der Nähe waren. Dagegen wusste ich: Bei Großvater waren „Gilu“ und ich sicher und ich war glücklich in diesem Moment. Auf dem Bild, das ich malte, war jedes noch zu kleine Detail zu finden, das ich an diesem Tag in Großvaters Werkstatt wahrgenommen hatte. Jede Schraubzwinge, jede Schachtel mit Nägeln oder Schrauben, jedes Brett und jedes vorwitzige Haar, dass unter der staubigen Werkstattmütze meines Großvaters hervorlugte, hatte ich verewigt. Es war mir nicht schwer gefallen, im Gegenteil. Ich freute mich über sein Lob, weil es ähnliches selten gab in meinem Elternhaus.
Mein Bild hing von da an fast sieben Jahre lang über seinem weinrot bespannten Canapé im Wohnzimmer, auf dem er sich nach dem Essen immer eine Stunde ausruhte und Mittagsschlaf hielt. Mit der Zeit wurde es heller und das Papier vergilbte. Als „Nono“ starb, fand der Nachmittagskaffee in seinem Wohnzimmer statt. Großmutter hatte Kuchen gebacken und ich saß in einem steifen Kleidchen auf dem harten Rand der Tagesliege. Wie immer hatte ich schon beim Eintreten in den Raum versucht, einen Blick auf mein Bild zu werfen. Aber es hing nicht mehr an seinem Platz. Jemand hatte es abgenommen oder abgerissen und sich dabei nicht einmal die Mühe gemacht, die kleinen Nägel zu entfernen, mit denen es befestigt gewesen war. An einer Ecke hing noch ein kleiner unbemalter Zipfel Papier der leicht im Luftzug flackerte. Die Erwachsenen waren still und bedrückt, mein Vater weinte sogar, was ich bisher noch nie bei ihm gesehen hatte. Also wagte ich nicht, nach meinem Bild zu fragen. Wenige Tage danach geschah, was mein Leben für immer veränderte. Und als ich wieder denken konnte, hatte ich das Bild meines Großvaters vergessen.