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Baumstark

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Mein größtes Glück stand in unserem Garten am nördlichsten Winkel, fest verwurzelt seit Hunderten von Jahren und wartete geduldig auf mich. Die alte Eiche hatte schon dort gestanden, bevor meine Eltern überhaupt daran gedacht hatten, sich nieder zu lassen. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass niemand dem Baum etwas anhaben konnte. Sie war genau so, wie ich gerne sein wollte: Über alles erhaben, stark und unbeirrbar. Niemand hatte ihr gesagt, sie solle sich in Acht nehmen und bloß nicht zu hoch wachsen. So war sie einfach jedes Jahr ein bisschen größer geworden und stand nun hier, hunderte Jahre später, riesengroß und mächtig. Niemand hatte sie gehindert und sie hatte niemanden gefragt. So einfach war es für sie gewesen. Sicher hatte sie schon weitaus bedeutenderes gesehen als unsere vierköpfige Menagerie aus mäßig glücklich bis eher unglücklichen und in unseren Verstrickungen gefangenen Menschen. Trotzdem hatte ich immer das irrationale Gefühl, sie war dort nur für mich gewachsen. Ihre Äste waren stark und weit verzweigt und wenn sie voll im Laub stand, war das Blätterdach so dicht, dass nur sehr dünne Strahlen den Weg zum Boden fanden. An heißen Sommertagen war es herrlich kühl unter ihrem Stamm. Ich war nicht nur einmal zu ihr geflohen, wenn die Luft im Haus so dick geworden war, dass sie sich nur noch schneiden, aber nicht mehr atmen ließ. Viele Jahre lang hindurch war es mein größter Wunsch, bis ganz nach oben zu steigen und in den Ästen der Eiche Zuflucht zu finden. Vor dem strengen Gesicht meiner Mutter. Den strikten Regularien. Der Gleichgültigkeit meines Vaters. Und den Eigenarten meiner Schwester. Dort würde ich mich lebendig und frei fühlen, davon war ich überzeugt. Meine Sehnsucht wurde nur gebremst von der strikten Ermahnung meiner Mutter, "nur ja nicht daran zu denken, auch nur einen Meter in die Höhe zu klettern. Ich könnte mir weiß Gott was brechen. Und dann hätte sie die Scherereien, mit dem kranken Kind." Dabei war ich tief in mir drin ein mutiges Kind. Ich konnte mir zumindest alles vorstellen. Und ist nicht der Gedanke, den man sich traut zu denken, der erste Schritt in Richtung Verwirklichung?

Wäre ich als Junge auf die Welt gekommen, hätte mein Vater vielleicht irgendwann Position bezogen und meine Mutter dazu angehalten, mir mehr zuzutrauen und mehr Freiraum zu lassen. Vielleicht hätte er sogar mit mir den Baum besichtigt und mir gezeigt, wie ich ihn am besten besteigen kann. Wo etwas die dicksten und tragenden Äste wachsen und wo ich mich vor morschem Holz in Acht nehmen muss. Womöglich hätten wir an seinen freien Sonntagen gemeinsam ein Baumhaus in die Krone gesetzt, gesägt und gehämmert und wären uns nahe gewesen in Gesprächen, die wir zwischen Vater und Sohn in den Wipfeln unserer Eiche geführt hätten. Aber ich war kein Junge und so oblag die Hochheit über meine Erziehung und mein Tun ausschließlich meiner Mutter. Meinen Vater bekam ich lediglich am Esstisch zu Gesicht, manchmal bei gemeinsamen Ausflügen, die aber stets sehr manierlich verliefen, jenseits von Abenteuern, Wildnis und Freiheit. Dabei sehnte ich mich so unglaublich danach, meine Grenzen kennen zu lernen. Ich wollte nicht nur in einem meiner zahllosen Bücher davon lesen, was die Welt mir bot. Ich wollte es selbst erleben. Es musste wunderbar sein dort oben in der Baumkrone zu sitzen und den leichten Sommerwind zu spüren, das Rascheln der Blätter ganz dicht am Ohr zu hören und weit über das Land zu blicken aus einer Perspektive, die ansonsten nur Vögeln vorbehalten war. Meine Mutter sah das allerdings ganz anders. Sie hatte klare Vorstellungen davon, wie ein Mädchen zu sein hatte. Und auf Bäume klettern gehörte eindeutig nicht dazu. Ein, zwei Jahre begnügte ich mich also damit, mein Gesicht an die raue Rinde zu drücken und meine Hände nach oben wandern zu lassen. So lange, bis ich nur noch auf Zehenspitzen stehen konnte und meine kleinen Finger den ersten Ast umfassen konnten. Dieser sehr tief liegende, ausragende Ast war das Objekt meiner Begierde. Tausende Male hatte ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, mich dort hinaus zu hangeln. Und dann immer höher zu klettern. Es würde leicht sein. Davon war ich überzeugt. Ich war ein kräftiges, gesundes Kind. Mit langen Armen, starken Beinen und einem guten Gespür für meinen Körper, der mich verlässlich trug und nie im Stich ließ. Mein Herz wusste von meiner Kraft, mein Kopf zweifelte dagegen. Schließlich hatte meine Familie viel Zeit damit verbracht mir abzugewöhnen, an mich zu glauben.

Aber eines morgens war ich aufgewacht und wusste: Heute würde ich den Stamm hoch klettern bis in die Baumkrone! Es war ein milder Sommertag, ich erinnere mich genau. Das Haus schlief noch, es muss Sonntag gewesen sein. Ich hatte schulfrei und mich leise angezogen. Meine Vorfreude war groß, als ich im Garten angekommen war. Ich spürte schon das nasse Gras, das vom Morgentau glitzerte an meinen nackten Zehen und fühlte mich ungewohnt frei. Alles schien möglich in diesem kurzen Moment. Als ich außer Atem bei der Eiche ankam, sah ich nah am Stamm liegend ein kleines, fiepsenden, fast nacktes Vogelküken liegen. Es musste eben aus dem Nest gefallen sein und hob seinen kleinen Schnabel suchend in die Luft, als würde dort die Amselmutter mit einem Käfer oder einem Wurm warten. Der Anblick war nicht ungewohnt. Schließlich bot die Eiche nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Lebewesen Heimat. Abgesehen von den Unmengen an Insekten, die sie wie die Arche Noah aufgenommen hatte, waren auch immer wieder Vogelnester vom Boden aus zu sehen, in denen die unterschiedlichsten Arten brüteten. Am treusten war die Amsel, die, wie es mir schien, jedes Jahr am selben Platz ihr Nest baute und tapfer ihre Eier, später ihre Küken bewachte. Obwohl regelmäßig ein oder zwei oder manchmal auch alle Jungtiere aus dem Nest fielen, bevor sie flügge waren, so wie jenes, das jetzt zu meinen Füßen lag. Dort am Boden wurden die hilflosen Jungtiere entweder gleich von einer der vielen streunenden Katzen gefressen oder verhungerten langsam, begleitet vom verzweifelten Gesang ihrer Eltern. Ich war mir auch sicher, dass ein Eichkätzchen ganz oben im Baum wohnte. Ab und zu sah ich es über die Wiese flitzen und bis ganz nach oben den Stamm hinauf rennen. Es verschwand in einem hohlen Ast und darunter fand ich immer die Schalen von Bucheckern oder kleinen Nüssen, die es von einem Strauch im Garten stibitzen. Ich lehnte oft mit dem Rücken an meiner Eiche und betrachtete liebevoll die Überreste der vielen Mahlzeiten, die sich dort fanden. Bis eines Tages keine neuen Schalen mehr hinzukamen, so sehr ich auch danach Ausschau hielt und ich feststellte: "Keiner mehr, der dort oben im Giebel auf einem Ast knabbert und keckend durch die Dachkrone turnt."

Ein ähnliches Gefühl kam jetzt in mir auf und meine Freude schlug in Entsetzen um. Das Küken würde jämmerlich verhungern, wenn es niemand aufzog. Daran zu denken, meiner Mutter ein kaum entwickeltes Vogelkind ins Haus zu tragen, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Es zu pflegen, zu füttern und dabei zuzusehen, wie es groß und flügge werden würde, war keine Option, die sich im Nahbereich meines Elternhauses verwirklichen lies, also zurück ins Nest, mit dem Küken. Ohne lange zu überlegen schob ich mir das nackte Amselbaby unter meinen Pullover, wo es eng an meinem Herzen lag und leicht zappelte, hob meinen Arm nach oben, packte den ersten Ast und schwang mich mühelos nach oben. Mit dem Blick in den Himmel kletterte ich weiter. Unbeirrt, schnell, als hätte ich nie etwas anderes getan Ich fühlte mich frei und die Zeit schien still zu stehen. Jedes Zeitgefühl verloren blickte ich mich suchend um nach jenem Nest, aus dem das Tier gefallen war und fand es sogar. Es hing nur wenige Meter über meinem Kopf in einer Astgabel. Noch wenige Griffe, dann wäre ich oben und das Küken sicher im Nest. Da schrie, gellend und schrill, eine Frau. "Mila, bist Du den Wahnsinns! Sofort kommst du von diesem Baum herunter!". Meine Hände wurden zu Krallen. Der Schweiß lief mir augenblicklich den Rücken hinunter. Ich verlor alle Körperspannung und klammerte mich kraftlos an den Ast, den ich gerade noch voller Zuversicht als Verbündeten erkannt hatte. In dem Moment, wo meine Mutter rief: "Das schaffst Du nie, Du fehlst runter und brichst Dir alle Knochen" spürte ich, wie mir der Baum entglitt und ich rücklings den ganzen Weg nach unten fiel, den ich wenige Minuten zuvor so behände und mühelos in die andere Richtung überwunden hatte. Ich hörte mich noch rufen: „Gilu, hilf mir!“. Aber mein unsichtbarer Freund, der mir bis dahin immer treu zur Seite gestanden hatte, war plötzlich verschwunden. An seine Stelle trat der harte Boden, auf dem ich landete. Den Schmerz in dem Moment, als ich unten aufkam, habe ich verdrängt. Ich kann mich nur noch an das Gefühl von Verlust, von Ohnmacht und unfassbarer Traurigkeit erinnern. Und daran, wie es sich anfühlt, ein zerquetschtes, totes Vogelküken am Körper kleben zu haben.

Milas Wunschliste ans Universum

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