Читать книгу Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse - Sabine Zinkernagel - Страница 12

Psychiater Oktober 1997

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Ich bin am Ende. Zumindest fühle ich mich so. Wenn ich vor dem Fenster einen Dreijährigen mit selbst abgerissenen Blumen für Mama in der Hand herumhüpfen sehe, während mein Dreijähriger übt, sich an einem Stuhl zum Stehen hochzuziehen, gehört die nächste halbe Stunde einem Weinkrampf. Am liebsten würde ich mich den ganzen Tag unter der Bettdecke verkriechen. Oder auf die Straße rennen und allen Leuten ins Gesicht schreien, wie schrecklich diese Welt mit mir umgeht. Beides würde an meiner Situation nicht das Geringste ändern.

Martin hat eine bessere Idee: Er sucht die Adresse eines christlichen Psychiaters und vereinbart gleich einen Termin für mich.

So tief bin ich also gesunken. Der Psychiater wird mich auf seine Couch legen, sich alles anhören und mich dann mit Psychopharmaka vollpumpen, bis ich nicht mehr geradeaus denken kann. Danach bleibt als nächster Schritt nur noch die geschlossene Psychiatrie.

Ich gehe trotzdem hin. Vor allem, weil Martin immer noch darauf besteht. Dr. D. arbeitet bewusst auf christlicher Basis. Wir reden aber kaum über Gott. Er kann ja auch dabei sein, wenn man nicht über ihn redet. Dr. D. hat keine Couch, sondern einen verstellbaren Ruhesessel, in dem man sich wunderbar fallen lassen kann. Und einen herrlichen Kaffee.

Dr. D. hört sich alles an. Geduldig, verständnisvoll. Klar, das ist sein Beruf. Er versteht, dass alles Sich-Zusammenreißen-Wollen nicht funktioniert. Diagnostiziert eine exogene Depression. Das heißt, ich bin nicht von mir aus depressiv, sondern meine Lebensumstände haben mich dazu gemacht. Schön, das habe ich mir schon vorher gedacht. Aber was macht man dagegen?

Dr. D. verschreibt mir keine Tabletten, sondern erst einmal eine Putzhilfe. Die wird zwar nicht von der Krankenkasse übernommen, aber es hilft. Besonders, wenn ich den Auftrag des Psychiaters beherzige und die gewonnene Zeit dafür nutze, mit Jacob zu toben, mit Cornelius zu kuscheln oder mich einfach in die Sonne zu setzen.

Das mache ich auch für eine kurze Zeit. Es klappt nicht immer, aber immer öfter. Dann spiele ich doch wieder mit dem Gedanken, anderweitig aktiv zu werden. Eine Krabbelgruppe für unser Dorf gründen, das wäre doch etwas für mich. Es wäre zwar wieder mit Arbeit verbunden, aber mit einer, die mir wesentlich mehr Spaß macht als der Hausputz. Und die mich vielleicht herausholen könnte aus dem ständigen Kreisen um die Ungerechtigkeit des Schicksals. Ich wäre nicht mehr nur die MS-kranke Mutter von zwei behinderten Kindern, sondern wieder die Pfarrfrau, die ich eigentlich werden wollte. Die Gruppenleiterin, Ansprechpartnerin für die Mütter. Expertin in Sachen »normgerechte Entwicklung«, »sensorische Integration« und »psychomotorische Frühförderung«. Damit bin ich schon wieder nicht normal. Aber ich kann mir selbst beweisen, dass ich noch in der Lage bin, aus meinen negativen Lebensumständen positives Kapital zu schlagen.

Dr. D. ist gar nicht darüber entsetzt, dass ich seinen Auftrag nicht so ganz erfüllen möchte. Im Gegenteil, er erklärt mir den Unterschied zwischen Dys-Stress und Eu-Stress und ermutigt mich, die Sache anzupacken. Für ganz heftige Momente verschreibt er mir sogar ein Beruhigungsmittel. Aber erst jetzt. Jetzt zeigt Dr. D. mir ein paar Entspannungsübungen und übt mit mir, gewisse Gedanken mit einem Stoppschild im Kopf auszubremsen. So ausgerüstet, kann ich es hoffentlich schaffen, in der Krabbelgruppe ganz normale Kleinkinder zu erleben, ohne gleich in Tränen auszubrechen.

Inzwischen habe ich eine Frau aus unserem Dorf zu Dr. D. geschickt. Sie dreht sich seit über einem Jahr nur noch um die Frage, warum ihr Mann so schnell an einem Hirntumor gestorben ist. Aber bei ihr beißt der Arzt auf Granit. Stoppschilder im Kopf fallen schon nach ein paar Stunden wieder um. Eu-Stress-Aufgaben findet sie nicht. Selbst Psychopharmaka bleiben wirkungslos.

Ich glaube, Dr. D. hätte gerne mehr solche Patienten wie mich. Ich bin also doch noch ganz die alte Sabine: Die Musterschülerin. Früher für den Französischlehrer, heute für den Psychiater. Immerhin.

Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse

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