Читать книгу Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse - Sabine Zinkernagel - Страница 15

Krabbelgruppe Juli 1998

Оглавление

Ich muss zugeben, ich hatte etwas Bauchschmerzen vor der ersten Mutter-Kind-Stunde, die ich in unserem Ort anbiete. Immerhin kamen mir vor einem halben Jahr noch regelmäßig die Tränen, wenn vor unserem Fenster ein Kind in Jacobs Alter vorbeihüpfte, während mein Ältester gerade übte, sich zum Stehen hochzuziehen.

Aber ich kann und will mich nicht mehr den ganzen Tag nur um die Behinderung meiner Kinder drehen. Ich brauche wieder eine Aufgabe, die mich herausfordert, ohne mich zu überfordern. Deshalb habe ich es gewagt, mit Cornelius eine Krabbelgruppe ins Leben zu rufen. Er ist jetzt etwas über ein Jahr alt, und der Kontakt mit anderen Kindern wird ihm gut tun. Mal sehen, was da sonst noch so auf mich zukommt.

Als erstes kommen fünf Mütter mit sechs Kindern auf mich zu. Clara ist acht Monate alt, Tobias fast drei. Tom, Lisa und Cornelius trennen gerade mal sechs Tage Altersunterschied. Eine Gruppe, mit der sich einiges anfangen lässt.

Nach der Vorstellungsrunde nehme ich den Spiegel und singe jedem Kind mein Begrüßungslied auf die Melodie von »Bruder Jakob«: »Guten Morgen, Lisa, Gott schuf dich, er hat dich sehr schön gemacht. Gott liebt dich.«

Hilfe! Auf Lisa trifft dieser Text natürlich vollkommen zu – aber auf Cornelius? Kann ich ihm wirklich zusingen, dass Gott ihn perfekt gemacht hat? Inklusive Wasserkopf und Knick-Senk-Füßen? Warum habe ich da nicht früher dran gedacht? Jetzt ist alles zu spät, ich werde es singen müssen.

Erst mal ist Clara dran. Auf ihrer Wange prangt ein dicker Leberfleck, und sie schielt deutlich. Ihre Mutter schaut mich schon vorher skeptisch an. Hat Gott Clara schön gemacht? Ich knie mich vor Clara hin, halte ihr den Spiegel vors Gesicht. Soll ich jetzt einfach singen? Nein, ich streiche ihr kurz über den Kopf und sage ein paar bewundernde Worte über ihre dichten schwarzen Locken. Die Mutter schenkt mir ein dankbares Lächeln. Ja, Claras Haare sind schön.

Tobias scheint mir überhaupt nicht zuzuhören. Während ich singe, rutscht er auf seinem Stuhl hin und her und bemalt gleichzeitig den Spiegel mit Spucke. Garantiert wird seine Mutter ihn demnächst wegen ADHS zur Ergotherapie kutschieren.

Jetzt zu Cornelius. Zwei braune Strahleaugen, hellblonde Haare, ein Babylachen, das jeden dahinschmelzen lässt. Würde man adoptionswilligen Eltern nur Fotos von Clara und Cornelius zeigen, sie würden sich sofort für meinen Jungen entscheiden. »Schön« ist er durchaus. Perfekt ist er nicht. Aber dass Gott ihn geschaffen hat und ihn liebt, trifft für Cornelius trotzdem genau so zu wie für Clara, für Tobias und jeden anderen Menschen. Gott sei Dank! Nach Clara und Tobias kann ich mein Liedchen auch für Cornelius aus voller Überzeugung singen.

Nach dem kurzen Programmteil setzen sich die Muttis zu Kaffee und Keksen an den Tisch. Für die Kinder schütte ich meinen Duplo-Sack aus. Freudiges Quietschen aus sechs Kehlen. Tom und Lisa rennen zu den Bausteinen, Cornelius lässt sich auf seinen windelgepolsterten Popo fallen und rutscht sitzend in die Spielecke. Tom und Lisa kriegen den Mund nicht mehr zu. Wie bewegt der sich denn vorwärts? Dann, wie auf Kommando, lassen auch sie sich auf den Boden fallen und probieren Cornelius’ Fortbewegungsmethode aus: Ein Bein anwinkeln, um stabil zu sitzen, das andere vorstrecken und daran den Popo nachziehen. Klappt. Zehn Minuten lang hat Clara die Bausteine für sich, die anderen Kinder spielen fröhliches »Poporutschen« um die Wette. Cornelius ist der Geschickteste – klar, er hat ja auch die meiste Übung. Dass er noch lange nicht wird laufen können, fällt den Kindern gar nicht auf.

Die Muttis von Tom und Lisa bleiben nach der Krabbelgruppe noch da. Irgendetwas liegt ihnen auf dem Herzen. Schließlich spricht Margret, Toms Mutter, mich leicht verlegen an: »Wir haben ja gewusst, was mit deinem Sohn ist. Und wir haben lange überlegt, ob wir unseren Kindern zumuten können, jetzt schon einem Behinderten zu begegnen. Wir wussten so gar nicht, wie sie auf ein Kind reagieren würden, das gleich alt ist wie sie, aber noch nicht laufen und sprechen kann. Aber so, wie sie heute miteinander umgegangen sind – das war einfach schön.«

Margrets Worte gehen mir noch lange nach. Warum hatten sie Bedenken? Sie sind wohl selbst noch nie enger mit Behinderten in Kontakt gekommen. Dann war es also höchste Zeit, dass ich mit Cornelius die Initiative ergriffen habe!

Und was die Kinder betrifft – sie erleben doch tagtäglich, dass Menschen unterschiedlich weit in ihrer Entwicklung sind. Niemand erwartet von Tom, dass er schon lesen kann wie seine große Schwester, und Lisa kann selbstverständlich viel mehr Dinge als das Baby ihrer Nachbarin. Kinder kennen noch keine Tabellen, auf denen steht, welche Fähigkeit zu welchem Alter gehört, und die damit auch beurteilen, ob ein Kind sich »gut« oder »schlecht« entwickelt. Der eine läuft, der andere rutscht. Na und? Beides ist spannend. Hauptsache, alle haben zusammen ihren Spaß.

Vielleicht sollte ich die Entwicklungstabellen beiseite legen und von Toms und Lisas Unbefangenheit lernen. Und nächste Woche mein Begrüßungslied ganz ohne Bedenken singen. Auch für Clara, Tobias und Cornelius.

Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse

Подняться наверх