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Offener Brief an Gott 2 Februar 1998

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Meinen ersten Brief an dich habe ich immer wieder noch einmal gelesen. Heute, nach der Begegnung mit mehreren Engeln und einem Psychiater, mit einer Putzhilfe für die Wohnung und einem nachts schlafenden und tagsüber strahlenden Stillkind, würde ich manches anders formulieren. Ich stehe nicht mehr im ersten Schock vor den Trümmern meiner Träume.

Kaputt sind sie trotzdem. Immer noch. Und für immer.

Und mit dieser Aussicht, mit meinem Schicksal, mit dir – da bin ich noch lange nicht fertig. Ich habe dich immerhin schon länger nicht mehr als Sadisten bezeichnet.

Und ich frage mich ab und zu: Darf man wirklich so mit dir reden? Toben, manchmal sogar fluchen, dich beschimpfen? Nicht irgend wen, sondern den Herrn dieser Welt? Darf ich das?

Aber was sollte ich sonst tun?

Brav weitermachen wie bisher, so tun, als ob nichts geschehen wäre?

Fromme Lieder singen, während es in mir drin dagegen wütet?

Fromme Gebete sprechen, zu denen mein Herz Nein schreit?

Fromme Sprüche klopfen, dabei lächeln, und dir in der Hosentasche den Stinkefinger zeigen?

Mein Gegenüber würde das wahrscheinlich nicht sehen; du siehst es garantiert.

Deshalb vermute ich, dass es dich nicht sonderlich freut, wenn ich mich in frommer Schauspielerei übe. Selbst wenn ich irgendwann so perfekt sein sollte, dass es für einen irdischen Oscar reichen könnte – den himmlischen Oscar vergibst du gar nicht für Schauspiel-Leistungen, den vergibst du eher für Ehrlichkeit.

Also schütte ich lieber einfach mein Herz vor dir aus. Egal, wie viele Gedanken und Gefühle dabei sind, die dich vielleicht verletzen. Schließlich kennst du sie ohnehin schon.

Und schließlich hättest du ihre Entstehung ja ganz einfach verhindern können.

Auch vorhin hast du meinen Gefühlsausbruch nicht verhindert.

Hast Cornelius, dieses sonst so friedliche Kind, einfach brüllen lassen. Kein Wickeln, kein Stillen, kein Herumtragen, kein Singen hat geholfen. Über eine Stunde lang. Vielleicht war es auch nur eine halbe. Oder zwanzig Minuten. Egal, es hat gereicht, um Jacob derart zum Lachen zu reizen, dass er wild gackernd von seinem Kinderstühlchen gepurzelt ist. Und ebenfalls angefangen hat zu brüllen.

Ich weiß, normale Mütter brüllen dann nicht einfach mit. Aber ich bin eben keine »normale Mutter«. Wie könnte ich auch, schließlich habe ich ja keine normalen Kinder.

Ich habe nicht einmal eine normale Küchenschublade! Ausgerechnet die, aus der ich eine Stoffwindel holen wollte, um sie anzufeuchten und Jacobs Beule damit zu kühlen, klemmte. Als ich sie endlich mit roher Gewalt aufgezerrt hatte, gab es einen leisen Knacks, und die Schubladenfront fiel mir vor die Füße.

Was soll man da noch machen? Ruhig reagieren, ein Problem nach dem anderen lösen?

Aber ich bin nicht »man«, ich kann das nicht! Jedenfalls nicht, wenn sich das Leben als solches, zwei Kinder und dann auch noch eine Küchenschublade gegen mich verschwören!

Ich habe Cornelius einfach schreiend in seine Wiege verfrachtet, Jacob das feuchte Tuch auf die Stirn gepackt und mich dann auf mein eigenes Bett geschmissen. Mir die Decke über den Kopf gezogen und meine Verzweiflung in die Matratze getrommelt. Tränen, Flüche inklusive.

Als Martin nach Hause kam, war Cornelius eingeschlafen. Jacob lag friedlich auf dem Fußboden. Aber Martin sah die Schublade, er sah meine Bettdecke, und er wusste, dass ich wieder einmal »soweit war«.

Dann hat er sich einfach neben mich gesetzt und mir eine Geschichte vorgelesen. Eine von Adrian Plass, über dessen »frommen Chaoten« wir uns schon so oft schief gelacht haben.2

Diesmal war es aber keine der üblichen schreiend komischen Geschichten, sondern eine sehr nachdenkliche:

Der fromme Chaot sollte bei einem Abendessen sprechen, bei der die »überwiegende Mehrzahl Nicht-Christen« sich als eine einzige Person unter lauter Gemeindegliedern herausstellen. Aufgrund einer spontanen Eingebung ändert er seinen Vortrag und erzählt, wie sein kleiner Sohn manchmal enttäuscht, verzweifelt, wütend nach Hause kam. Wie er, der Vater, dieses tobende Kind einfach auf seinen Schoß genommen und ihn festgehalten hat. Wie das Kind ihm mit seinen kleinen geballten Fäusten schreiend auf die Brust trommelte, bis es sich schließlich völlig ausgeheult hatte und auf dem Schoß des Vaters einschlief. Und er, der Vater, war einfach glücklich darüber, dass sein Sohn zu ihm gekommen war, lieber als zu irgendjemand anderem.3

Hocke ich wirklich gerade so auf deinem Schoß? Enttäuscht, verzweifelt, wütend schreie dich an und versuche mit meinen eingeschränkten Möglichkeiten, dem Herrn dieser Welt weh zu tun? Damit er merkt, wie viel Schmerz zu viel er mir zugeteilt hat?

Nein, ich werde jetzt nicht ganz brav christlich davon reden, dass dieser Herr der Welt selbst unendlich gelitten hat, und dass er heute noch leidet an all dem Bösen, das auf dieser Welt geschieht, dass er auch mit mir mitleidet. Das wissen wir beide doch sowieso. Ich sehe nur nicht, wie mir das in irgendeiner Weise helfen könnte.

Nein, mir ist an dieser Geschichte von Adrian Plass etwas anderes wichtiger: Ich bin jetzt noch überzeugter davon, dass du mein Rebellieren gegen dich aushältst. Du kannst nicht nur Sonnensysteme erschaffen und auf dem Wasser gehen, du kannst auch das Trommeln meiner kleinen geballten Fäuste auf deiner Brust ertragen. Du lässt mich trotzdem nicht los. Auch wenn ich gerade nicht allzu viel mit dir anfangen kann, wenn ich dich gerade einfach nicht verstehe – dieses Wissen tut irgendwie gut.

Und ich verspreche dir: Ich werde mir keinen anderen Gott suchen, um mich bei ihm auszuheulen. Ich bleibe bei dir. Und sei es eben, indem ich gegen dich tobe, dich beschimpfe und deine Offenbarung in die Zimmerecke schmeiße.

Jetzt ist es raus. Das, was ich unbewusst die ganze Zeit gewusst habe: Ich bleibe bei dir.

Das heißt nicht, dass ich dich wieder so einfach lieben, deinen Weg mit mir akzeptieren würde! Es heißt nur, dass ich mich nicht von dir lossagen werde. Dass ich irgendwie nicht loskomme von dir.

Denn was hätte ich eigentlich davon, wenn ich meinen Glauben an den Nagel hängen würde? Ich müsste die letzten fünfzehn Jahre meines Lebens als Irrtum abhaken. Alles vergessen oder uminterpretieren, was ich mit dir erlebt habe. Alles leugnen, was ich jemals über dich gesagt habe. Ich müsste die restlichen Jahre meines Lebens mit einem Mann verbringen, der schon rein berufsmäßig weiterhin glauben muss.

Ich könnte statt dir irgendein blindes Schicksal anklagen, das Leben an sich, die Natur oder sonst irgendetwas. Das wäre wohl kaum erleichternder, als dich anzuschreien.

Und meine Kinder heilen würde es definitiv nicht.

Es lohnt sich also einfach nicht, dir den Laufpass zu geben.

Bei dir weiß ich wenigstens, dass du mein Schreien hörst.

Und vielleicht werde ich dich eines Tages wieder brauchen. Wenn ich wieder empfänglich bin für das, was du mir vielleicht doch einmal wieder zukommen lassen willst: Deine Hilfe. Deinen Trost. Deine Nähe. Deine Liebe.

Wie gesagt: Vielleicht.

2 Adrian Plass, Tagebuch eines frommen Chaoten, Brendow Verlag 1990.

3 Adrian Plass, Die rastlosen Reisen des frommen Chaoten, Brendow Verlag 1996, S. 54–63.

Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse

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