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Offener Brief an Gott 1 Mai 1997

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… wenn der Himmel es weiß … Nun, da du ein allwissender Gott bist, musst du es ja wohl wissen. Und du weißt sogar noch viel mehr.

Natürlich weißt du, dass bei der Zeugung meines Kindes das kranke Gen in der befruchteten Eizelle steckte. Natürlich weißt du, dass das Kind in meinem Bauch nie eine Chance auf ein eigenständiges Leben haben wird. Natürlich weißt du, dass ich mir das alles ganz anders vorgestellt habe. Natürlich weißt du, dass mein Leben ab jetzt völlig anders aussehen wird als geplant – und nicht gerade besser.

Und obwohl du das alles gewusst hast, hast du das alles zugelassen. Wer bist du eigentlich?

»Gott ist die Liebe«, steht in der Bibel. Eigentlich glaube ich das ja auch. Nicht nur, weil es in der Bibel steht. Sondern auch, weil ich es immer wieder so erfahren habe. Ich habe mit begeistertem Herzen unzählige Lieder darüber gesungen, habe dir immer wieder im Gebet dafür gedankt. Ich habe Anspiele dazu geschrieben und immer wieder erzählt: Gott liebt jeden Menschen.

An diesem Satz will ich ja gar nicht rütteln. Ich muss ihm nur drei kurze Worte anhängen: Nur nicht mich.

Denn du musst gewusst haben, was du mir damit antust. Du kennst mich doch! Du hast gesehen, wie ich die Diagnose »MS« damals ziemlich klaglos weggesteckt habe. Du hast auch meinen inneren Kampf darum miterlebt, Jacobs Behinderung zu akzeptieren. Du weißt, dass die ganzen Arztbesuche und Therapien mich oft an den Rand meiner Belastungsfähigkeit bringen.

Und du weißt, dass Martin und ich uns ganz bewusst dafür entschieden haben, als Pfarrersfamilie dir zu dienen: Dein Wort verkündigen, in Predigten, Gesprächen, Krabbelgruppen, Kindergruppen, Jugendfreizeiten. Das wollten wir, das tun wir.

Und was tust du? Statt dich darüber zu freuen, schmeißt du uns einen Stolperstein nach dem anderen in den Weg.

Reicht es dir nicht, dass wir schon eine chronische Krankheit und ein behindertes Kind in der Familie haben? Musste es jetzt auch noch das zweite treffen?

Sieht so Liebe aus?

Dass in dieser Welt nicht alles glatt läuft, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat, das ist mir schon klar. Aber das Päckchen, das ich bis jetzt zu schultern hatte, war mir schon fast zu schwer. Und nun setzt du noch eins oben drauf. Das ist definitiv keine Liebe mehr, das ist auch keine »normale Härte« mehr. Das ist Sadismus.

Was hast du dir dabei eigentlich gedacht? Vielleicht hat es dir ja sogar Spaß gemacht? Oder vielleicht sitzt du jetzt gerade oben auf deiner Wolke Nummer sieben und denkst dir den nächsten Nackenschlag für mich aus?

Und ich sitze hier unten und habe keine Chance, aus diesem Spiel auszusteigen. Obwohl – eine Chance habe ich immer, aber die will ich jetzt lieber nicht genauer andenken. Das würde ich Martin auf keinen Fall antun. Also muss ich dein Spiel mitspielen. Aber du kannst nicht auch noch verlangen, dass ich das weiterhin mit Begeisterung tun werde.

Alle Formen meines Glaubenslebens, die ich bisher mit echter Überzeugung gelebt habe, werden sich nun wohl grundlegend ändern. Ich hab ja versucht, weiterzumachen wie früher, mir selbst business as usual vorzuspielen, aber es geht einfach nicht.

Da war der Gottesdienst.

Mit dem wunderschönen Choral »Gott ist gegenwärtig«. Und ich habe in Gedanken mit den Schultern gezuckt. Na und? Was habe ich von deiner Gegenwart, wenn du immer nur weiteren Mist in mein Leben schaufelst? Der Pfarrer hat irgendwas von tätiger Nächstenliebe gepredigt. Dafür werde ich in den nächsten zwanzig Jahren ganz bestimmt keine Zeit haben. Meine beiden Kinder zu lieben, wird schon eine genügend schwierige Aufgabe für mich sein. Wenn ich das überhaupt schaffe …

Gegen Schluss das Vater Unser, darin ganz am Anfang der Satz: »Dein Wille geschehe«. Ich setze flüsternd, mit einem Blick auf meinen Bauch, dazu: »Wenn der so aussieht, bitte nicht«.

Ich versuche ja, zu beten. Aber ich kann mich nicht aufraffen zu einem Dank, erst recht nicht zu einem Lob. Das Bitten hab ich aufgegeben, mit denen stoße ich bei dir ganz offensichtlich auf taube Ohren. Bleiben nur noch Vorwürfe an dich, so wie hier.

Und ich versuche, in der Bibel zu lesen. Die Texte, die für diese Woche vorgeschlagen sind, bestehen aus Worten, die sinnlos an meinem Kopf und wirkungslos an meinem Herz vorbeirauschen.

Deshalb habe ich die Berichte über Jesus aufgeschlagen. Das sind wenigstens leichter fassbare Geschichten. Lauter Berichte von Wundern, vorzugsweise Heilungen. Und mittendrin so steile Sätze wie: »Die Menschen brachten ihre Kranken zu Jesus, und er heilte sie alle.« Wirklich alle? Einfach so? Auch die, die gar nichts mit dir am Hut hatten? Solche, die auch später nichts von dir wissen wollten? Mit all denen hattest du Mitleid. Und mit mir? Ich hatte was mit dir am Hut, sehr viel sogar! Aber wo bleibt die Heilung?

Irgendwie bin ich doch erleichtert, dass meine Bibel gut gebunden ist. So hat sie es wieder einmal überlebt, dass ich sie mit Nachdruck in die Zimmerecke geschmissen habe.

Ob ich es jemals wieder schaffen werde, ganz normal an dich zu glauben? Ob ich das überhaupt will?

Ob du das überhaupt willst? Wenn ja, dann musst du ziemlich bald etwas dafür tun!

Martin will es, und viele unserer Freunde wollen es auch. Sie tun auch etwas dafür. Sie hören mir geduldig zu, sie versuchen mich zu trösten, mich zu ermutigen. Und lassen sich von ihrer Erfolglosigkeit bisher nicht entmutigen. Sie beten für mich.

Ich bin ihnen auch wirklich dankbar. Vor allem dafür, dass mir bisher keiner mit frommen Sprüchen gekommen ist. Ich kenne schon genug davon: »Gott lädt niemandem mehr auf, als er tragen kann« – da bin ich der lebende Gegenbeweis.

»Gottes Hilfe kommt nie zu spät« – stimmt. Denn »nicht zu spät« kann ja auch heißen, dass sie gar nicht kommt.

Und dann die steile Behauptung von Paulus aus seinem Brief an die ersten Christen in Rom: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.« Eine Forderung, die ich weder erfüllen kann noch will. Jedenfalls nicht, solange mir niemand sagen kann, wie dieses »Beste« aussehen könnte. Um an Gutem auszugleichen, was meine Kinder an Einschränkungen ihrer Lebensmöglichkeiten hinnehmen müssen, müsste es ziemlich gewaltig sein!

Okay, Paulus konnte das für sich wohl so sehen. Ich beneide ihn sogar ein wenig deswegen.

Aber akzeptieren, dass es für mich das Beste sei, wenn du meinen Kindern keine Chance auf eine normale Zukunft gibst – nein, das kann ich nicht.

Wenn ich überhaupt irgendwie weiter an dich glauben will, muss ich wohl diesen Vers aus meiner Bibel herausschneiden.

Aber so weit bin ich längst noch nicht. Ich meine nicht das Rausschneiden, ich meine das Glauben.

Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse

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