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Engel Mai 1997

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Natürlich gibt es Engel. Himmlische Wesen, die Gott manchmal mit besonderen Aufträgen auf die Erde schickt. Aber es gibt auch Menschen, die Engelsaufgaben übernehmen. Rein rational gesehen gibt es keinen Grund dafür, dass sie tun, was sie tun. Bleibt nur eine Erklärung: Gott muss ihnen diesen Auftrag gegeben haben.

In den ersten Monaten nach der Diagnose für Cornelius beauftragt Gott wohl mehrere Menschen damit, für uns zum Engel zu werden. Um uns zu zeigen, dass er sich mitten in dem organisatorischen und gefühlsmäßigen Chaos immer noch für uns zuständig fühlt.

Es fängt mit unseren Nachbarn an. Wir sind gerade in das kleine Dorf im Westerwald gezogen. Dass Erika und Helmut nette Leute sind und sich bemühen, uns den Anfang in der neuen Stelle zu erleichtern, haben wir schon bald gemerkt. Aber das, worum wir sie nun zu bitten wagen, kann man auch vom nettesten Menschen der Welt nicht erwarten: Mein Frauenarzt hat mich zur Absicherung der Diagnose an das Klinikum in Siegburg überwiesen. Etwa 90 Minuten Fahrt für eine Strecke. Und was dort auf mich zukommen wird, kann ich mir nach den Erfahrungen mit Jacob schon lebhaft vorstellen: Endloses Warten in zugigen Gängen oder stickigen Wartezimmern, in denen andere Frauen in freudiger Erwartung ihr Baby im Bauch herumtragen. Endlose Ultraschall-Sitzungen, Blutabnahme, weitere Untersuchungen, nach denen sich die Ärzte erst einmal bedeckt halten würden. Und dann das abschließende Gespräch, das jedes kleinste Fünkchen Hoffnung, mein Gynäkologe könnte sich doch geirrt haben, zunichte machen würde.

Kein Tag für schwache Nerven also. Und meine Nerven sind nicht nur schwach, sie sind am Ende. Allein werde ich das nicht durchstehen. Martin muss mit.

Und Jacob kann nicht mit. Diesen ganzen Tag lang das erste von nun zwei behinderten Kindern um mich herum zu haben, inklusive Wickeln, Füttern, Beschäftigen und Vom-Untersuchen-der-Kabeldiverser-medizinischer-Geräte-Abhalten – das wäre definitiv zu viel für mich. Und für Martin auch.

An unserem neuen Wohnort kennen wir noch kaum jemanden. Unsere Nachbarn sind die einzigen, die wir bitten können, Jacob für einen Tag zu übernehmen.

Ausgerechnet Jacob. Einen Zweieinhalbjährigen, der nicht laufen kann. Der gerade einmal drei Worte spricht: »Augo« heißt Auto, »Mami« bedeutet Papa,1 und mit »Gu« bezeichnet er sich selbst. Einen Jungen, der mit Duplosteinen und Malstiften noch nichts anzufangen weiß. Der gerade gelernt hat, mit dem Löffel zu essen. Und den unsere Nachbarn vielleicht ein Dutzend Mal gesehen, aber noch nicht näher kennengelernt haben.

Für dieses Kind sollten sie also einen ganzen Tag lang verantwortlich sein? Ohne zu wissen, wann wir zurückkommen würden. Ohne eine Möglichkeit, uns im Notfall zu erreichen.

Eigentlich können wir uns das Fragen gleich sparen.

Martin tut es trotzdem. Und erntet natürlich keine begeisterte Zustimmung. Nur ein zögerndes: »Wir denken darüber nach«. Das ist eigentlich schon mehr, als ich erwartet habe.

Keine zwei Stunden später klingelt Erika an der Tür. Das sei ja eine echte Notlage, und ihr täte das alles so leid, und sie würde ja verstehen, dass Martin mitkommen müsse nach Siegburg, und … und deshalb würde sie es wagen und sich solange um Jacob kümmern.

Es geht nicht nur gut, es ist der Anfang einer wunderbaren Freundschaft zwischen Jacob und seinen Ersatzgroßeltern. Nach diesem Tag hat Jacob seinen Wortschatz um die Worte »Elmu« und »Eika« erweitert.

Nach diesem Monat staunt das ganze Dorf darüber, was Helmut, der bisher nicht gerade als Kindernarr aufgefallen ist, mit seinem Ersatzenkel alles unternimmt. Jacob darf mit ihm Rasen mähen und Unimog fahren, auf der Werkbank sitzen und mit dem Bobby Car seine Einfahrt herunterrasen.

Nach Cornelius’ Geburt stoße ich mehr als einmal an die Grenzen meiner Multi-Tasking-Fähigkeiten: Da will ich mein Baby stillen, das Mittagessen ist längst überfällig, Jacob räumt quengelnd alle Küchenschubladen aus, das Telefon klingelt zum x-ten Mal – und dann schrillt noch die Haustürklingel. Draußen steht Erika mit der Frage: »Darf der Jacob zu uns kommen?« Nichts lieber als das! Als die beiden miteinander abziehen, wäre es schwer zu sagen, wer am glücklichsten ist: Die Ersatz-Oma, das freudig jauchzende Kind oder die erleichterte Mama.

Woher ahnte Erika, wann ihr Erscheinen derart willkommen war? Konnte sie dicke Luft nebenan riechen? Waren unsere Hauswände so dünn? Hatte sie unser Wohnzimmer verwanzt? Die einzig plausible Erklärung: Gott muss ihr den Gedanken eingegeben haben. Und sie hat es einfach getan. Wie es Engel eben tun.

1 Jacob redete uns immer nur mit dem Vornamen an. »Mami« war seine erste Version für »Martin«.

Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse

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