Читать книгу Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse - Sabine Zinkernagel - Страница 13

Das Ei des Jacobus Januar 1998

Оглавление

Kennen Sie die schöne Erzählung vom Ei des Kolumbus? Ich war schon als Kind fasziniert davon, wie der wackere Seemann das scheinbar Unmögliche vollbrachte, indem er kurz die üblichen Denkmuster verließ. Als seine Gegner ihm vorhielten, auch jeder andere hätte Amerika entdecken können, forderte er sie auf, ein rohes Ei senkrecht auf den Tisch zu stellen. Nach allen Regeln der Physik ist das unmöglich, und natürlich gelang keinem der Anwesenden das Kunststück. Bis schließlich Christoph Kolumbus das Ei nahm, es mit dosiertem Schwung auf die Tischplatte stellte, so dass die Eischale ganz leicht eingedrückt wurde. Und siehe da – das Ei stand senkrecht.

Im 17. Jahrhundert gab es noch keine IQ-Tests. Hätte es sie gegeben, wäre Kolumbus sicher auf einen Wert von über 120 gekommen. Unser Jacob liegt zwischen 70 und 80. Keine Chance, Seefahrt zu studieren, einen Segelschein zu machen, neue Welten zu entdecken.

Aber auch er vollbringt das scheinbar Unmögliche, indem er die üblichen Denkmuster verlässt.

Bevor ich weiter erzähle, überlegen Sie selbst: Ist es möglich, eine mit einer üblichen Kindersicherung geschlossene Autotür von innen zu öffnen? Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Suche nach einer Lösung; Jacob hat es immerhin auch erst nach drei Tagen geschafft. Aber dann innerhalb von etwa 30 Sekunden.

Bis unser Ältester knapp vier Jahre alt ist, bleibt die Kindersicherung in unserem Auto unbenutzt. Erst ist Jacob gar nicht in der Lage, die Tür von innen zu öffnen, später hat er kein Interesse daran. Bis er schließlich doch den entsprechenden Hebel betätigt – bei Tempo 100 auf der Überholspur. Natürlich schreiten wir Eltern sofort ein und legen den Knopf der Kindersicherung um. Jacob versucht drei Tage lang, seine neue Entdeckung noch einmal durchzuführen. Vergeblich, die Autotür bleibt zu. Nur Mama und Papa sind in der Lage, sie zu öffnen. Und zwar von außen.

Hat es jetzt bei Ihnen »Klick« gemacht? Nein? Bei Jacob schon. Drei Mal beobachtete er, wie wir die Tür auf bekamen. Beim vierten Mal lade ich erst die Einkäufe aus dem Kofferraum, bevor ich Sohnemann von der Rückbank holen will. Und finde eine sperrangelweit geöffnete Tür samt einem schelmisch grinsenden Jacob vor.

Ist die Kindersicherung doch nicht eingerastet? Ein kurzer Check bestätigt: Doch, sie ist. Aber das Fenster ist heruntergekurbelt. Und zwar nicht von mir.

Mein Mund steht wahrscheinlich mindestens so weit offen wie die Autotür. Sollte Jacob tatsächlich ... ? Schließlich mache ich die Probe aufs Exempel: Schließe Fenster und Türe und fordere Jacob auf, auszusteigen. Und siehe da, als wäre es das Logischste der Welt, kurbelt Jacob das Fenster herunter, greift nach außen und öffnet die Autotür. Trotz eingerasteter Kindersicherung.

»Ach«, denken Sie jetzt vielleicht, »das war ja einfach. So hätte ich das ebenfalls hingekriegt.«

Genau das sagten auch die Menschen, die um Christoph Kolumbus und sein aufrecht stehendes Ei herum standen. Und der wackere Seemann entgegnete ihnen: »Der Unterschied liegt darin, dass ihr es hättet machen können, ich es aber gemacht habe.«

Könnte Jacob schon fließend sprechen, würde er das auch sagen.

Wie schon erwähnt, Christoph Kolumbus war ein hochintelligenter Gelehrter, und Jacob ist ein geistig behindertes Kind. Offensichtlich ist der Unterschied zwischen beidem manchmal gar nicht so groß.

Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse

Подняться наверх