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Noch mehr Engel Juli–September 1997

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Nach Tante Erika und Onkel Helmut hat Gott eine ganze Reihe von Engeln mobilisiert, um mir einen Herzenswunsch zu erfüllen: Mein zweites Kind wollte ich unbedingt stillen.

Bei Jacob wollte ich das auch schon. Ich hatte mir alles Mögliche dazu angelesen, wusste um die gesundheitliche Bedeutung der Muttermilch, um die durchs Stillen geförderte emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind. Zwei Sätze aus all diesen schlauen Büchern hatten sich mir besonders eingeprägt: Jede Mutter kann stillen. Jedes Kind kann gestillt werden.

Die Bücher wurden ganz offensichtlich zu früh geschrieben, nämlich vor der Geburt meines ersten Babys. Denn ich konnte Jacob definitiv nicht stillen. Und Jacob konnte definitiv nicht gestillt werden.

Ich habe es hartnäckig versucht, Jacob an die Brust zu bekommen. Vom zweiten Lebenstag an habe ich ihn trotz der schmerzenden Kaiserschnitt-Narbe immer wieder angelegt. Und danach gewogen. Nur einmal zeigte die Waage ein anderes als Gewicht als vor dem Stillversuch: Da wog Jacob noch weniger als zuvor.

Erst nach zwölf Wochen, als die Milchpumpe mehr Blut als Milch aus meiner Brust zog, habe ich kapituliert. Jacobs Mundmuskulatur war einfach zu schwach, um die Muttermilch an der Quelle zu trinken. Wir mussten ja sogar die Löcher der Sauger mit einer heißen Stecknadel erweitern, damit er die Milch wenigstens aus der Flasche trinken konnte.

So lange würde ich diesmal bestimmt nicht mehr Milch abpumpen. Aber das Stillen versuchen wollte ich noch einmal! Ganz bewusst habe ich deshalb für Cornelius’ Geburt ein Krankenhaus ausgesucht, das wenigstens einige Säuglings-Intensivbetten im Haus hatte. Denn wenn ich ihn stillen wollte, musste er natürlich in meiner Nähe sein. Nur wenn die kleine Intensivstation belegt wäre, müsste Cornelius in die Kinderklinik auf einem anderen Hügel der Stadt umziehen.

Das musste ich auf jeden Fall verhindern! Jedem, der mir bei einer der zahllosen Untersuchungen im Krankenhaus über den Weg lief, erzählte ich, dass ich mein Kind ganz unbedingt bei mir behalten wollte, um es zu stillen. Nicht nur den Gynäkologen und Stationsschwestern, sondern auch der Frau an der Pforte, einer kaum deutsch sprechenden Putzfrau und mehreren nichts ahnenden Besuchern.

Einen Engel habe ich dabei nie getroffen. Jedenfalls habe ich keinen als solchen erkannt. Aber er muss heimlich und unerkannt unter all den Leuten gewesen sein, die ich mit meinem Still-Wunsch überrumpelte.

Zunächst habe ich davon natürlich nicht das Geringste geahnt. Als ich am 9. Juli endlich aus der Narkose erwachte, war ich erst einmal damit zufrieden, dass mein Bauch weniger schmerzte als nach dem ersten Kaiserschnitt, und dass mein Kind im gleichen Krankenhaus geblieben war.

An Cornelius’ zweiten Lebenstag schaffte ich es mit Martins Hilfe schon, unser Kind auf der Intensivstation zu besuchen. Da lag er, schläfrig und verkabelt, in seinem Wärmebettchen.

Ob wir ihn herausnehmen könnten? Allein die Frage versetzte die Schwester in Panik. Nein, auf gar keinen Fall! Streicheln dürften wir ihn, aber nur durch die dafür vorgesehenen Eingriffsluken mit daran angenähten Handschuhen.

Bei Jacob war das alles viel unkomplizierter möglich gewesen. Aber Cornelius lag hier eben nicht auf einer Kinderstation, sondern auf der Intensivstation. Da waren die Wärmebettchen Standard, etwas anderes gab es nicht. So konnten wir wohl bis zur Entlassung mit unserem Neugeborenen nicht einmal Hautkontakt aufnehmen. Obwohl Cornelius völlig ausgereift zur Welt gekommen war. Obwohl er mit seinem ganz normalen Geburtsgewicht wie ein Riese wirkte neben dem zarten Frühchen von 1500 g im Nachbar-Inkubator.

Wir waren zutiefst enttäuscht. Martin, weil er seinen Sohn so gerne auf den Arm genommen hätte. Ich, weil ich meine letzten Hoffnungen auf ein Stillkind am Horizont entschwinden sah.

Auf der Heimfahrt hätte Martin am liebsten geheult. Stattdessen machte er Gott klar, dass sich diese Situation schleunigst ändern müsse, weil sonst auch er noch durchdrehen würde.

Zwei Tage später kam unser Ortspfarrer mich besuchen. Viel Zeit hatte er nicht, seine Patientenliste war lang. Aber bevor er ging, bat ich ihn, mit mir dafür zu beten, dass diese unhaltbare Situation bald irgendein Ende finden würde. Eines, das mir Stillversuche erlauben würde, wagte ich schon nicht mehr zu erhoffen.

Aber wie sagt Gott es so schön in der Bibel? »Noch ehe sie mich anrufen, will ich ihre Bitten erhören.« Das galt nicht nur vor 4000 Jahren dem Volk Israel, das gilt heute auch mir.

Und so erschien kurz nach unserem Gebet eine Schwester mit der Frage, ob ich mein Kind jetzt gleich von der normalen Säuglingsstation abholen wolle.

Von der Säuglingsstation? Abholen? Hieß das, dass Cornelius vom angeblichen Intensiv-Pflegefall zum ganz normalen Rooming-in-Kind aufgestiegen war? Ja, das hieß es tatsächlich.

Es war gerade ein Kind zur Welt gekommen, das dringend ein Intensivbettchen benötigte. Die waren aber alle belegt. Die Ärzte waren sich einig: Cornelius konnte am ehesten von der Intensivstation verlegt werden. Das hieß: einen Säuglingstransport zur Kinderklinik anfordern.

Aber genau in diesem Moment muss mein Engel auf den Plan getreten sein. Ich werde nie erfahren, wer es war. Ich weiß nur, dass er wie so mancher biblische Engel in weiß gekleidet gewesen sein muss. Er erinnerte die anderen Ärzte an meinen Wunsch, Cornelius zu stillen. Und daran, dass ich mit einer frischen Kaiserschnittnarbe unmöglich den ganzen Tag auf einem Stuhl in der Kinderklinik verbringen konnte. Cornelius war ja organisch gesund, nur der Hydrozephalus musste regelmäßig kontrolliert werden. Ob man es nicht wagen könne, das Baby hier zu behalten, eben auf der normalen Kinderstation?

Man konnte. Und ich konnte mein Baby den ganzen Tag lang neben meinem Bett stehen haben, es wickeln, umziehen und ihm das Fläschchen mit der abgepumpten Mamamilch geben. Was für ein Unterschied zum vorigen Zustand! Was für ein Geschenk!

Erste Versuche, Cornelius anzulegen, zeigten allerdings keinen Erfolg. Dafür musste Gott noch einen weiteren Engel auftreten lassen. Diesmal in Form der Stillschwester. Sie zeigte mir, wie ich mit dem kleinen Finger Cornelius zu Saugbewegungen animieren konnte, bevor ich ihm das Fläschchen gab.

Ausgerechnet sonntags, als außer ihr nur noch eine Lehrschwester für alle Mütter und Babys der Station zuständig war, nahm sie mich mitsamt meinem Sohn ins Schwesternzimmer. »Heute muss das Kind an die Brust, sonst lernt er es womöglich nie«, erklärte sie resolut. Und genauso resolut machte sie sich an die Arbeit.

Ja, Arbeit war es wirklich. Normales Anlegen brachte nämlich nichts. Also versuchte sie es mit dem Anlegen von außen, von oben, von unten. Ich hätte schon nach einer halben Stunde aufgegeben, aber das ließ die Schwester nicht zu. Nach einer Stunde waren wir beide schweißgebadet. Aufgeben kam immer noch nicht in Frage.

Etwas später spürte ich plötzlich ein deutliches Ziehen an meiner Brust. Spürte, wie die Milch nach draußen floss, direkt in Cornelius’ Mund. Hörte ihn schmatzen und schlucken. Sah, wie die Stillschwester mindestens so erschöpft wie erleichtert wie glücklich auf einen Stuhl sank. Und hielt wenige Minuten später ein halbsatt eingeschlafenes Stillkind im Arm.

Es war, als sei ein Schalter umgelegt worden. Seither trank Cornelius direkt bei mir. Zwar immer etwas schwach, da auch seine Mundmuskulatur nicht so kräftig war wie die eines Durchschnitts-Babys. Aber er trank. Er trank bei mir im Bett, er trank im Gottesdienst, er trank bei Ausflügen auf einer Parkbank, er trank vor und nach seiner Ventil-Operation im Krankenhaus. Er trank nachts immer seltener, weil er mit acht Wochen schon fast durchschlief. An heißen Sommertagen trank er stündlich, jeweils fast eine halbe Stunde lang. Ich saß dabei im Gartenstuhl, kühlte meine Füße im Planschbecken, in dem Jacob fröhlich herumspritzte, und genoss Glücksgefühle. Glücksgefühle, auf die ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.

Allerdings entwickelte sich Cornelius’ Saugkraft nicht in gleichem Maße wie sein Hunger. Was tun? Zufüttern? Nein, meint die Hebamme kategorisch. Sie hatte da etwas anderes im Sinn …

Was es war, erfuhr ich erst, als sie eines Samstags in Begleitung ihrer Schwester erschien. Die Schwester arbeitete in der Schweiz, in einer Klinik, die auf Säuglinge mit Down-Syndrom spezialisiert ist. Dort hatten sie spezielle Massagegriffe entwickelt, um die Mundmuskulatur der Babys zu stärken. Die wollte sie mir nun zeigen.

Ich war völlig platt. Da hatte die mir völlig unbekannte Frau gerade einmal ein Wochenende Urlaub, fährt von der Schweiz in den Westerwald zu ihrer Schwester, und was machen die beiden an dem einzigen Nachmittag, den sie gemeinsam hatten? Kommen zu mir, um mir Mundmuskel-Stimulation beizubringen. Das tun keine Menschen, so etwas tun nur Engel!

Es half tatsächlich. Durch regelmäßiges Massieren aller Gesichtsmuskeln hin zum Mund saugte Cornelius stärker. Ein halbes Jahr lang konnte ich ihn voll stillen! Dann bekam ich doch wieder einmal einen Schub MS, musste Cortisontabletten nehmen und mein Kind deshalb schlagartig abstillen. Aber eben erst im Alter von sechs Monaten. Fast so, als sei Cornelius ein ganz normaler Säugling.

Was für ein Wunder nach allem, was so deutlich dagegen gesprochen hat! Und was für ein Gott, der das möglich gemacht hat!

Und was für tolle Menschen, die sich dafür im richtigen Moment als Engel zur Verfügung gestellt haben! Ich habe sie alle nur flüchtig kennengelernt. Ich weiß nicht einmal mehr ihre Namen. Aber ich bin mir sicher: Gott kennt ihre Namen. Und er wird sich eines Tages daran erinnern, dass sie dazu bereit waren, sein Geschenk an mich zu überbringen.

Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse

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