Читать книгу Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick - Sabria David - Страница 4
Auftakt:
Verstehen, was passiert
ОглавлениеNach der Jahrtausendwende haben digitale Technologien und soziale Medien ihren Siegeszug angetreten und schon binnen dieser kurzen Zeit unser Leben radikal verändert. Die Digitalisierung ist die große gesellschaftliche Herausforderung, sie erfasst die unterschiedlichsten Bereiche unseres Lebens.
Bei diesem tiefgreifenden Wandel stellen sich Fragen: Was bedeutet der digitale Wandel für unser ganz persönliches Leben, für den Umgang mit anderen, für die Gesellschaft, für Unternehmen? Jenseits des Alarmismus wollen wir fragen: Was macht dieser Wandel mit uns, wie können wir diese Entwicklung positiv und proaktiv steuern? Und schließlich: Wie gelingt es uns, als Menschen in einer digitalisierten und globalisierten Welt souverän und – ja sogar – glücklich zu sein? Wie kann eine gute resiliente digitale Gesellschaft gelingen?
Voraussetzung dafür ist, überhaupt zu verstehen, was den digitalen Wandel ausmacht und welche gesellschaftlichen und menschlichen Bedürfnisse er bedient.
Die Debatte um Digitalisierung steht stellvertretend für unser Unbehagen in Bezug auf den technologischen Fortschritt. Technologiekritik ist natürlich kein neues Phänomen1. Neue Technologien – und sei es die Straßenlaterne – haben Menschen immer schon irritiert, in ihren Gewohnheiten gestört, aufgescheucht und zu Veränderungen genötigt, die sie mit Unwillen quittierten. Aber es lohnt sich, unser Unbehagen in punkto Digitalisierung näher anzusehen, zu verstehen, was passiert, damit wir handeln können.
Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat 1967 in seinem experimentellen Collagen-Werk »The Medium is the Massage«2 auf die Parallele zwischen den Veränderungen der Medienwelt und dem Strudel aus Edgar Allan Poes Kurzgeschichte »A Descent into the Maelström« hingewiesen. Ein Blick in die Originalquelle3 gibt ihm recht. In dieser Geschichte treiben zwei Brüder in einem Boot unaufhaltsam auf einen allesverschlingenden Meeresstrudel zu. Lähmendes Entsetzen erfasst sie, als sie feststellen, dass sie die Kontrolle über die Situation verloren haben. Nachdem der Erzähler zuerst vor Entsetzen die Augen schließt, erlangt er schließlich doch seine Handlungsfähigkeit wieder. Die Wende kommt damit, dass er die Augen wieder öffnet und trotz seines Entsetzens einen Blick in den Abgrund wagt: Er beobachtet, mit welchen Mechanismen der Strom funktioniert und nach welchen Gesetzen welche Gegenstände sich wie im Strudel verhalten. Er sieht, dass kleine zylindrische Gegenstände länger oben treiben, während große schnell herabgezogen werden. Daraus schließt er, dass er das Boot verlassen muss und überleben könnte, wenn er sich statt am vertrauten Boot an einem kleinen, mobilen Fass festhielte. Sein Bruder indessen verharrt in seiner Lähmung und mag sich ihm nicht anschließen. Er klammert sich an das Boot – wir können sagen: an das Vertraute, ihm Bekannte, das ihm bisher Schutz gegeben hat. Der Erzähler – entschlossen, die Konsequenzen aus seinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu ziehen – handelt und wechselt ins Ungewisse. Auf einem kleinen Fass überlebt er als Einziger den Abgrund, während das Schiff mitsamt seinem festgeketteten Bruder untergeht.
Die Verben, die Edgar Allan Poe im Lauf der Erzählung seinem Erzähler nach dieser Wende zur Selbstkontrolle in den Mund legt, geben auch eine gute Anleitung für den konstruktiven Umgang mit unserem heutigen digitalen Wandel: beobachten, wahrnehmen, reflektieren, neugierig sein, erforschen wollen, den Schrecken loswerden, der einen überwältigt, eine freie Sicht erhalten, mit Interesse beobachten und die Augen öffnen für das Wunder dessen, was passiert.4
Der Moment, in dem der Erzähler das Heft in die Hand nimmt, ist das, was ich – auf den digitalen Wandel übertragen – Mediensouveränität nenne: der Wechsel von einem reflexhaften zu einem reflektierten Umgang mit der Technologie. Dieser Mediensouveränität liegt zugrunde, dass wir selbst die Verantwortung für uns und unser Handeln übernehmen. Wir beginnen, unsere digitale Welt aktiv zu gestalten. Wir machen uns die Technik zu Diensten, anstatt ihr zu dienen. Wir entwickeln neue Kulturtechniken und Verhaltensregeln, die den Veränderungen entsprechen.
Meine Arbeit der letzten zehn Jahre ist für mich dabei wie eine Feldstudie zum Verständnis des Mahlstroms des digitalen Wandels. Sie speist sich aus theoretischer und höchst praktischer Auseinandersetzung mit dem digitalen Wandel in den Theorien, aber auch an der Werkbank im täglichen Arbeits- und Lebensalltag der Menschen, aus einer eigenen quantitativen Studie und einer Vielzahl von Begegnungen, Vorträgen, Diskussionen, Gesprächen – sprechend, zuhörend, schreibend.
Steigen Sie mit mir hinab in den Mahlstrom! Haben Sie keine Angst. Soyez courageux! Es sind aufregende Zeiten. Gute Zeiten für Menschen mit Gestaltungswillen.