Читать книгу Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick - Sabria David - Страница 6
Glück im Längsschnitt
ОглавлениеWas macht Menschen glücklich? Mit dieser Frage beschäftigt sich seit 1938 eine Langzeitstudie der Harvard Universität, die sogenannte »Grant Study«. Die Lebensentwicklungen von 268 Studenten werden seitdem in einer ungewöhnlich langen und kontinuierlichen Studie erforscht. Die Studie wird erst mit dem Tod des letzten Studienteilnehmers enden.
Dabei ergänzen sich Fragebögen, die Erhebung medizinischer Parameter und ausführliche Interviews. Die Auswahl der Probanden ist zwar nur eingeschränkt repräsentativ – die Kohorte besteht nur aus Männern und nur aus Absolventen einer amerikanischen Eliteuniversität. Aber die Datenmenge und vor allem der lebenslange Bogen der Erhebungen ermöglichen einen tiefen Einblick in die Parameter menschlichen Glücks.
Was also sind die Faktoren für ein gelingendes Leben? »Das mit Abstand wichtigste ist die Bindung«7, sagt George Vaillant, der Leiter der Studie, der mit seinen Probanden mitgealtert und inzwischen selbst über 85 Jahre alt ist. »Die wahre Glückseligkeit liegt [dann] in der echten und tiefen Bindung mit anderen Menschen.«8 In einem Interview danach befragt, was er persönlich durch seine Probanden gelernt habe, antwortet er demzufolge: »the only thing that really matters in life are your relationships to other people.«9 Ob Menschen zu warmen zwischenmenschlichen Bindungen fähig sind, hat dabei einen größeren Einfluss auf Glück und Gesundheit im Verlauf des Lebens als Herkunft oder Einkommen.
Ein interessanter Aspekt dabei ist, dass es weniger darauf ankommt, ob man ein sorgenfreies Leben führt, sondern wie die Menschen mit den Herausforderungen des Lebens umgehen. Entscheidend für Glück und Gesundheit ist also nicht das Vermeiden von Unglück, Irritationen und Veränderungen, sondern die Art, wie man auf sie antwortet und mit ihnen umgeht. Die Fähigkeit, auf reife Art an Herausforderungen des Lebens zu wachsen (»mature adaptions«), hat eine hohe Aussagekraft für ein späteres sowohl physisches wie psychisch gesundes und glückliches Altwerden. Die Fähigkeit, warmherzige und unterstützende soziale Beziehungen zu knüpfen, einzugehen und aufrechtzuerhalten ist dabei eine zentrale Ressource: Wenn wir in ein soziales Netz eingebettet sind, Hilfe und Unterstützung annehmen und auch geben können und uns als Teil eines sozialen Geflechtes und Netzes wahrnehmen, dann können wir auch mit den Herausforderungen, die unser Leben bietet, konstruktiv umgehen.
Glück erwächst also auch aus der Fähigkeit, mit Unglück umzugehen. Ressourcen und Schutzfaktoren wie gute soziale Bindungen helfen uns dabei, dass wir auf die Wirksamkeit unseres Handelns in unserer Umwelt vertrauen können, dass wir die Belastungen in etwas Gutes umwandeln und uns daran weiterentwickeln können. Nicht die Vermeidung von Konflikten, Auseinandersetzungen und Dissonanzen macht uns stark, sondern sie zu nutzen, um neue Wege zu finden.
Dies wird auch durch die Hirnforschung gestützt. Der Hirnforscher Gerald Hüther weist darauf hin, dass das Gehirn ein plastisches Organ ist, das lebenslang an gelungen bewältigten Herausforderungen des Lebens reift und sich weiterentwickelt. Glück und Resilienz hängen zusammen.
Die Anerkennung unserer Schiffbrüchigkeit macht uns erst zum Menschen, so lautet die These des Psychoanalytikers Arno Gruen. »Nur wenn wir unsere Verletzbarkeit und Hilflosigkeit als zum Leben gehörend annehmen, anstatt sie zu kompensieren, wird Liebe, also Frieden sein«10, schreibt er. Arno Gruen emigrierte 1934 nach Amerika und kehrte erst als über 80-jähriger Forscher in die Schweiz zurück. Von ihm stammt der Begriff der »empathielosen Gesellschaft«. In früher Kindheit erlebter Schmerz wird abgespalten und nach außen projiziert, so seine These. Wer aber seinen Schmerz selbst nicht fühlen möchte, kann auch nicht den Schmerz der anderen fühlen, also empathisch sein.
Eine empathielose Gesellschaft fördert diese Abspaltung, Fragmentierung und Entfremdung des Einzelnen – und sie ist als Gesamtheit anfällig für »Verführung« durch extreme Gruppen und als charismatisch erlebte Führungsfiguren. Sie bieten – so scheint es – Identität und Sinn und erlösen von der eigenen, nicht eingestandenen Schwäche. Verantwortung für sich selbst, das Gefühl von Schuld und verdrängte Ohnmacht und Hilflosigkeit können so nach außen projiziert und im anderen bekämpft werden. Die »Wurzel des Bösen« liegt nach Arno Gruen »in der Erdrosselung der menschlichen Fähigkeit, eigenes und fremdes Leid zu erspüren«11. Zwar sei diese Entwicklung für unsere Gesellschaft prägend12, aber, so konstatiert Arno Gruen 2003 und somit zu einer Zeit, als die Digitalisierung heutiger Ausprägung noch in den Kinderschuhen steckte, »es ist das Zwischenmenschlich-Gemeinschaftliche, das wir wieder zurückholen müssen«13. »Das Menschsein wird nicht gefördert«14, konstatierte er. Wie aber müsste eine Gesellschaft aussehen, die das Menschsein fördert?
Läge die Chance für eine resiliente Gesellschaft nicht gerade darin, auch Ambivalenzen, Schwäche, Schmerz und Hilflosigkeit einen Raum und Platz zu geben, um resilient und stark genug zu sein, die Herausforderungen und Veränderungen, die anstehen, gut angehen zu können?
In der Anerkennung und Würdigung unserer eigenen Verletzlichkeit und Abgründe werden wir in lebenslanger Entwicklungsarbeit zum »ganzen« Menschen.
Ist das nicht eine Aufgabe, die wir auch als Gesellschaft leisten müssen? Müssen wir nicht auch zu einer »ganzen« Gesellschaft werden, indem wir unsere eigenen Abgründe anerkennen und die Verantwortung dafür akzeptieren? Gerade unserer deutschen Gesellschaft scheint es schwerzufallen, den Abgrund des Holocaust und des Dritten Reiches als Teil unserer Geschichte zu akzeptieren und einen konstruktiven, zukunftsgewandten Umgang damit zu finden. Rechtspopulistische Gruppen – die im Übrigen hierfür sehr versiert digital agieren – nutzen den Unwillen vieler Menschen, sich damit länger auseinanderzusetzen. Mit ihrem »Jetzt muss damit mal Schluss sein« bieten sie an, die Menschen von ihrer historischen Last zu erlösen. Auch die kollektive Abwehr der Flüchtlingsthematik mag den Wunsch bedienen, sich nicht den Kriegsflüchtlingserlebnissen der eigenen Familie auszusetzen.15 Der Ruf nach Grenzen soll nicht nur die Flüchtlinge selbst, sondern mit ihnen das ganze Thema von uns fernhalten. Auch an das eigene Ausgesetztsein in einem Deutschland nach der Wende, das die eigene ostdeutsche Geschichte hinweggefegt hat, mag man sich nur ungern erinnern lassen. So verzahnen sich individuelles Erleben und gesellschaftliche Prozesse.
Gerade eine Welt und Vergangenheit mit Brüchen, Rissen und disruptiven Veränderungen braucht aber die »mature adaptions«, von denen George Vaillant in der »Grant Study« gesprochen hat: Eine reife und erwachsene Art, sich den Herausforderungen der Vergangenheit und Zukunft zu stellen.
Die Gesellschaft, wie sie sich uns heute darstellt, benötigt ebenso diese Fähigkeiten. Sie fordert es geradezu heraus, alle unsere Ressourcen zu nutzen, damit uns die Veränderungen gelingen. Die Gesellschaft ist zu Beginn des neuen Jahrtausends in einem Zustand konstanter Veränderung. Die Veränderung selbst ist der Grundzustand geworden. Es gibt keine allgemeingültigen, allumfassenden gesellschaftlichen Verhaltenskodizes mehr. Die Religion hat schon lange an Bedeutung verloren, unsere Ökonomie, die Logik des Kapitalismus, die an ihre Stelle getreten ist, vermag die Leere nicht zu füllen. Die Arbeitswelt verändert sich rasant, die Entwicklungszeiträume zwischen Produkt und neuem Produkt werden immer kürzer, können jedoch mit der Veränderung der Rahmenbedingungen nicht Schritt halten. Was heute noch Geltung hat, ist morgen schon überholt. Für viele entsteht der Eindruck einer Beschleunigung.
Der digitale Wandel ist dabei zwar Treiber der gesellschaftlichen Veränderung – aber nicht ihre Ursache. Er steht selbst in enger Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Veränderungen und Erfordernissen.
Der digitale Wandel treibt die Veränderungen an und bietet zugleich neue Möglichkeiten, mit den Veränderungen umzugehen: Distanzen überwinden, Gespräche führen, Freunde finden und halten, inspirieren und sich inspirieren lassen, Entdeckungen machen, mit anderen zusammenarbeiten und Neues entwickeln, Wissen teilen, Vertrauen, Fairness und Offenheit pflegen, Experimentierfreude und Improvisationskunst feiern – das macht eine digitale Infrastruktur möglich. Und all dies kann uns helfen, eine gute digitale Gesellschaft aufzubauen, in der es uns gelingen kann, glücklich zu sein.