Читать книгу Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick - Sabria David - Страница 9
Bindungstheorie im Licht der Digitalisierung
ОглавлениеMit ihrer Bindungstheorie haben John Bowlby und Mary Ainsworth Aufschluss darüber gegeben, was uns Menschen bei der Bindungssuche antreibt. Ihr Verdienst war die Erkenntnis, dass das Verhalten von Gänsen und Rhesusaffen in gewissen Punkten auch aufschlussreich für das menschliche Verhalten ist. Als Psychoanalytiker eigentlich aus einem anderen Fachgebiet kommend, hat sich John Bowlby von den evolutionsbiologischen Studien Konrad Lorenz’ und Harry Harlows inspirieren lassen. Das »Gänsekind Martina« folgte seinem Ersatzvater Lorenz unbeirrt nach, die fragenden Bindungsrufe (»wiwiwiwi?«) von sich gebend, wenn er sich aus dem Blickfeld entfernte. Das Gänseküken war nach seinem Schlüpfen aus dem Ei auf den Forscher und nicht auf seine biologische Gänsemutter geprägt.
In seinen ethisch zweifelhaften, aber für die Bindungstheorie bedeutsamen Studien trennte der Verhaltensforscher Harry Harlow Rhesusaffen-Babys nach der Geburt von ihren Müttern und ersetzte sie durch Puppen aus Draht. Eine davon war mit Fell überzogen, die andere konnte Milch spenden. In Schreckmomenten suchte der kleine Rhesusaffe nicht wie erwartet bei dem nahrungsspendenden Drahtgestell Zuflucht, sondern bei der Ersatzmutter, die mit kuscheligem Fell bezogen war und außer Weichheit nichts zu bieten hatte. Damit war belegt, dass das Bedürfnis nach Trost und Körperkontakt biologisch mindestens ebenso verankert ist wie das nach Nahrung.
Auch bei den Menschen war man bis dahin davon ausgegangen, dass das Bindungsverhalten der Kinder gegenüber ihren Müttern ihren biologischen Grund in der Nahrungsspende hat, dass kleine Kinder also die Nähe zu ihrer Mutter suchen, weil sie ihnen Milch gibt. Seit den Studien zur Bindungstheorie ist klar: Das Bedürfnis nach Bindung und Nähe ist ein eigenes, von der Nahrung unabhängiges, primäres Grundbedürfnis. Die Nähe und emotionale Verbindung zu schutzgebenden Bezugspersonen ist im biologischen Sinn überlebenswichtig für den Menschen. Wir sind in den ersten Lebensjahren für unser Überleben auf den Schutz und die Sicherheit schutzgebender Erwachsener angewiesen. Nach den Studien der Bindungsforschung um Bowlby und Ainsworth gestaltet sich das Bindungsverhalten als ein zielorientiertes, sich selbst auf sein Ziel ausrichtendes Verhaltenssetting. Es sind also keine vorher festgelegten Verhaltensweisen, die uns eingeprägt sind, sondern die Verhaltensmuster passen sich den jeweiligen Kontexten und Verhältnissen an, immer mit striktem Fokus auf das Herstellen und Aufrechterhalten von Bindung. Kinder müssen auf Leben und Tod die Verhaltensweisen adaptieren und entwickeln, mit denen sie in ihrem jeweiligen Beziehungskontext die größtmögliche Chance auf Schutz und Versorgung haben. Das kann dazu führen, dass in frühen Bindungserfahrungen Verhaltensweisen entwickelt werden, die zwar das Überleben in einer toxischen Familie ermöglichen, im späteren Leben, in normalen und gesunden emotionalen Beziehungen aber eher hinderlich sind. Das Bindungsverhalten ist also ein uns biologisch mitgegebenes selbstlernendes System, das sich den jeweiligen Bedingungen anpasst.
Mit ihren Methoden der empirischen Forschung hat Mary Ainsworth diese Hypothesen Bowlbys belegen und spezifizieren können. Das Studienkonzept der »fremden Situation« machte Bowlbys Hypothesen überprüfbar. Im klassischen Studienaufbau wird ein kleines Kind für kurze Zeit von seiner Mutter verlassen, indem sie aus dem Raum geht. Die verschiedenen Bindungsstile lassen sich anhand der Reaktion des Kindes bei der Rückkehr der Mutter ablesen: Verfügt das Kind über eine sichere Bindung, drückt es zwar seinen Schmerz über die Abwesenheit der Mutter frei aus, lässt sich aber von einer anderen Person trösten und freut sich, wenn seine Mutter schließlich wieder den Raum betritt. Bei einer unsicheren Bindung reagiert das Kind mit einer Überbetonung entweder des einen (Verbindung) oder des anderen Aspektes (Distanz): Bei unsicherer Bindung kann das Kind die Bezugsperson nicht ohne größten Schmerz gehen lassen, klammert sich an sie und bleibt auch bei ihrer Rückkehr untröstlich. Bei unsicher-vermeidender Bindung versucht das Kind erst gar keine Verbindung einzugehen und reagiert desinteressiert bei Weggehen und Wiederkommen der Bezugsperson. Aber nur vermeintlich, denn die Studien zeigen wie bei den sicher gebundenen Kindern auch bei diesen eine hohe Ausschüttung an Stresshormonen. Im Gegensatz zu den trostsuchenden und getrösteten Kindern werden bei ihnen die Stresshormone aber nicht wieder abgebaut.
In Jahrzehnten weiterer Arbeit von Forschern wurde die Bindungstheorie seither verfeinert, präzisiert und weiterentwickelt.
Die Zuversicht, dass eine geliebte Bezugsperson nach einer schmerzlichen Abwesenheit zurückkehrt – dass also die Mitmenschen und damit auch die Welt im Prinzip vertrauenswürdig und zuverlässig sind –, entwickelt sich dabei gerade in einer tiefen emotionalen Nähe und im »feinfühligen« Beantworten der kindlichen Bedürfnisse. Genauer: Die Kinder dürfen und können ihre eigenen Gefühle wie Freude und Schmerz empfinden und ihre Nähe- und Schutzbedürfnisse ausdrücken. Diese werden dann von der Bezugsperson verstanden, richtig gedeutet und adäquat beantwortet und erfüllt. So entsteht Urvertrauen. Dieses wiederum gibt genug Kraft und Zuversicht, um Getrenntsein und Abwesenheiten zu ertragen. Und auch, um dieses Getrenntsein bewusst in Kauf zu nehmen, um seine Umwelt zu erkunden. So hängt das Bindungsverhalten entwicklungsbiologisch direkt mit dem Explorationsverhalten zusammen: Kinder erlernen die Welt, indem sie sie erkunden und erforschen. Diese Welterfahrung bedeutet immer, sich aus dem vertrauten Radius der schutzgebenden Bezugspersonen herauszuwagen. Sicher gebundene Kinder sind an ihrem Spielverhalten zu erkennen. Sie sind neugierig, experimentierfreudig und frustrationstolerant. Sie wenden sich mit Interesse ihrer Umwelt zu, sie erkunden ihre Umgebung, wagen sich an neue und herausfordernde Aufgaben heran. Und wenn sie sich zu weit herausgewagt haben, kehren sie in den Schoß der Bindungsperson zurück, tanken Kraft und wagen sich von dort aus aufs Neue in die Welt.
Im Licht der Digitalisierung betrachtet gibt es also einige Aspekte der Bindungstheorie, die von besonderer Bedeutung sind:
1. Eine sichere Bindung besteht gerade dann, wenn beides souverän und mit innerer Sicherheit und Gelassenheit möglich ist: sowohl das Zulassen und Eingehen von emotionaler Verbundenheit als auch das Aushalten von Abwesenheit und Trennung von der Bindungsperson. Das Gelingen von Bindung liegt also im souveränen Wechsel von Verschmelzung und Abgrenzung.
Auf die Herausforderungen der Digitalisierung übertragen bedeutet dies: Mediensouveränität braucht ebenfalls den souveränen Wechsel zwischen Einlassen und Abgrenzung. Digitale Kompetenz bedeutet, eigenverantwortlich zwischen den Zuständen »On« und »Off« hin- und herwechseln zu können. Es bedeutet nicht, sich digitalen Medien gänzlich zu versagen, sondern sich ihnen gut wieder entziehen zu können. Eine sichere Bindung ist eine gute Voraussetzung dafür, dass einem diese gesunde und gute Mediennutzung gelingt.
2. Das Bindungssystem wird vor allem in unsicheren Situationen aktiviert. Die Studien zur »fremden Situation« zeigen, dass dies nicht nur bei Kindern, sondern auch noch im Erwachsenenalter der Fall ist. Erwachsene suchen in unsicheren Situationen und Zuständen ebenso die Nähe ihnen vertrauter Menschen.16 Das deckt sich mit den Ergebnissen der Vaillant-Studie, nach der gerade ein gutes Netzwerk an emotional nahen Verbindungen einen Menschen glücklich und resilient werden lässt.
Auf die Herausforderungen der Digitalisierung übertragen bedeutet dies: Grundlegende Umwälzungen, wie sie sich im Zuge der Digitalisierung und durch den digitalen Wandel vollziehen, markieren eine Zeit großer Veränderungen und Unsicherheiten, die mit einer gesellschaftlichen »fremden Situation« vergleichbar sind. In Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheiten suchen die Menschen Orientierung, Sicherheit, Bindung und Selbstversicherung. Wenn die gesellschaftliche Kohäsion in Krisenzeiten nicht stark genug ist, finden einfache und schnelle Lösungs- und Identitätsangebote populistischer Strömungen einen fruchtbaren Nährboden. Eine gute gesellschaftliche Bindung, Zusammengehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit stärken hingegen eine Gesellschaft, sodass die Menschen auch in Zeiten starker Veränderung wie dem digitalen Wandel Ruhe und Zuversicht bewahren können und weniger anfällig für Beeinflussung sind.
3. Eine gute und sichere Bindung hängt direkt mit unserem Explorationsverhalten zusammen und hat positiven Einfluss auf unser Erkundungsverhalten. Je sicherer und verbundener wir uns fühlen, umso zuversichtlicher können wir mit ständigen Veränderungen und Reorganisationen umgehen.
Auf die Herausforderungen der Digitalisierung übertragen bedeutet dies: In Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen und neuer Herausforderungen wie der Digitalisierung brauchen wir Mut, Neugierde, Experimentierfreude und Zuversicht, um neue Lösungen zu entwickeln und die anstehenden Transformationsprozesse bewältigen zu können. Wir brauchen Vertrauen, um uns aus unseren Komfortzonen der Vertrautheiten herauswagen zu können. Wir können sagen: Trost und Weltoffenheit gehören zusammen.