Читать книгу Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick - Sabria David - Страница 5
Glück in einer digitalen Welt
ОглавлениеWas macht uns glücklich? Das ist eine Urfrage der Menschheit. Sie verlangt eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft und eine Vorstellung von uns selbst, also die Fähigkeit zur Reflexion. Wir können uns keine Tiere vorstellen, die sich die Frage nach dem Glück stellen. Das Glück – und vor allem das Streben nach Glück – ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit. »Denn glücklich zu sein, das ist ja der erste aller unserer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und jeder Nerve unseres Wesens spricht.« So schreibt Heinrich von Kleist in seinem »Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen«.
Zugleich ist die Frage nach dem Glück auch ein großer Luxus, denn erst, wenn das nackte Überleben gesichert ist, kümmert uns das Glück. Unsere Grund- und Sicherheitsbedürfnisse stehen an erster Stelle der sogenannten Bedürfnispyramide. Erst wenn sie gesichert sind, regen sich unsere Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Glück.
Interessanterweise ist es leichter zu benennen, was einen unglücklich macht, was einen ärgert, wie etwas nicht sein soll. Dieses Buch aber verschreibt sich entschieden einem positiven Blick. Also machen wir uns die Mühe zu benennen, wie wir es haben wollen.
Geht es uns gut? Wir können diese Frage nicht mit Geschäftsklimaindexen und Bruttonationaleinkommen beantworten. Was hat es – jenseits der Grenze, ab der sich die Frage nach Glück überhaupt stellt – mit Einkommen und Kaufkraft zu tun, ob es uns gut geht? Hans im Glück erreicht im Märchen sein Glück gerade im schrittweisen Loslassen all seiner Besitztümer. Ist das Dummheit oder Glück? Versagen oder Gelassenheit? Nach Albert Camus haben wir uns sogar Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Gerade die Schwere und Unlösbarkeit seiner Aufgabe anzunehmen, ist für ihn ein Zeichen seines freien Willens.
Einen eigenen Weg geht das asiatische Königreich Bhutan mit seinem viel zitierten Bruttonationalglück. Mit diesem Konzept sieht sich Bhutan in einer eigenen langen Tradition: »Bhutan belongs to a stream of civilization where the explicit purpose of the government is to create happiness among its citizens.«5 Schon in einem Kodex aus dem 18. Jahrhundert heißt es strikt: Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.6 Dabei soll das Glück nicht per Verordnung vom Himmel fallen, sondern die Verantwortung der Regierung liegt darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ihren Bürgern ermöglichen, ihr Glück zu verfolgen. Die Verantwortung liegt also auf beiden Seiten: bei den Bürgern selbst und der Regierung.
Auch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776 verankert in ihrer Präambel das Recht auf ein Streben nach dem Glück. »Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit« werden dort als unveräußerliche Rechte eines jeden Menschen genannt (»Life, Liberty and the pursuit of Happiness«). »Unveräußerlich« heißt dabei wie bei allen Menschenrechten, dass diese Rechte fest mit unserem Menschsein verbunden sind. Selbst wenn wir unser Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück loswerden und verkaufen wollten, könnten wir das nicht – und keiner kann es uns nehmen. Auch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung nimmt die Regierung in die Pflicht, für geeignete Rahmenbedingungen zu sorgen: Das Volk hat das Recht, eine Regierung abzusetzen, wenn diese ihrer Aufgabe nicht nachkommt. Das Volk darf sie durch eine Regierung ersetzen, die ihnen »zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit« geeigneter erscheint.
Bhutans Ansatz des Bruttonationalglücks geht einen Schritt weiter und versucht, dieses Ziel zu konkretisieren und messbar zu machen. Sowohl Wohlstand als auch Glück erscheinen in Bhutan als Ziel einer Gesellschaft. Das Glück wird nicht nur als eine Aufgabe und Herausforderung für den Einzelnen gesehen, sondern als Verantwortung und Herausforderung für die gesamte Gesellschaft und Regierungsordnung.
Interessant sind die vier Säulen, auf denen das Konzept ruht: Eine sozial-gerechte Entwicklung, Wahrung und Förderung kultureller Werte, Schutz der Umwelt und »Good Governance«, gute Regierungsführung. Das bedeutet, dass Entwicklung und Wachstum nicht Selbstzweck sind, sondern an eine Weiterentwicklung der Gesellschaft gekoppelt werden. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz von Wachstum, in dem Wirtschaft nicht isoliert betrachten wird, sondern in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen eingebettet ist. Der Versuch, ein Bruttonationalglück zu definieren, wirkt wie eine Antwort auf die Ergebnisse der Studie »Die Grenzen des Wachstums«, die der Club of Rome 1972 vorlegte. Auch darin wird die Entkoppelung von Wachstum und gesellschaftlichem und ökologischem Wohlergehen (»societal and environmental wellbeing«) kritisiert.
Müssen wir uns im digitalen Zeitalter die alte Frage nach dem Glück neu stellen? Was macht uns hier und heute glücklich? Wie können wir in einer digitalen Welt glücklich sein und uns zu Hause fühlen? Und was hat digitaler Wandel mit Glück zu tun?
Die Digitalisierung wird in der Regel als ein technisches Thema angesehen. Es geht um Automatisierung, die ständige Verdoppelung der Speicherkapazitäten, fahrerloses Fahren und Künstliche Intelligenz. Aber um die Effekte und Folgen der Digitalisierung zu verstehen, also den digitalen Wandel in seiner Tiefe zu erfassen, müssen wir den Blick nicht auf die Technik und die Maschinen richten. Im Gegenteil: Wir müssen uns den Menschen zuwenden. Den Menschen mit ihren Befindlichkeiten, ihren Bedürfnissen, Kümmernissen und Sehnsüchten. Denn es sind menschliche Sehnsüchte, die den digitalen Wandel antreiben. Es sind Menschen, die die Technik erfinden. Und es sollten auch Menschen sein, die sie sich sinnvoll zunutze machen.
Also schauen wir mutig auf das Gute, auch wenn das ungewohnt ist. Was ist es, was uns guttut? Was erfüllt uns mit Freude? Was sind die Quellen unserer Kraft?
Diese Fragen stellt sich auch ein Bereich der Medizin, der sich mit den menschlichen Kraftquellen und Ressourcen befasst. Die Salutogenese ist ein präventiver Ansatz. Ihr Ziel ist es, Krankheiten zu verhindern. Der Fokus liegt auf Prävention, nicht auf Heilung. Das bedeutet, ihre Zuständigkeit beginnt früher, noch vor dem Ausbrechen eventueller Krankheiten. Die Salutogenese lenkt den Blick auf die Faktoren, die uns stark und lebensfähig machen. Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky, der den Begriff »Salutogenese« prägte, benennt als den Hauptfaktor für ein gutes und gelingendes Leben das »Kohärenzgefühl«. Das meint das Gefühl, dass alles Sinn und Zusammenhang hat. Das Kohärenzgefühl speist sich aus drei Elementen: Erstens der Verstehbarkeit der Welt, zweitens dem Gefühl, selbst etwas bewirken zu können und Einfluss auf die Dinge des Lebens zu haben (Selbstwirksamkeit), und drittens dem Gefühl der Sinnhaftigkeit des Ganzen.
Davon können wir lernen. Und wir können es übertragen auf die gesellschaftliche Lage, einer Zeit starken Wandels – nicht nur des digitalen Wandels. Auch gesellschaftlich scheint es mir sinnvoll, den Blick auf die nährenden und stärkenden Faktoren unseres Zusammenlebens zu lenken, um das Aufreißen von Brüchen und Rissen in unserer Gesellschaft zu verhindern. Was ist der Kitt unserer Gesellschaft, was hält uns zusammen, was macht uns stabil genug, um Brüche und Reorganisationen gelingen zu lassen? Was gibt uns die Kraft, uns immer wieder neu zu erfinden, ohne uns selbst zu verlieren?
Bei Menschen spricht man von Resilienz – also von der Fähigkeit, mit Belastungen und Herausforderungen so umzugehen, dass wir uns als Handelnde in unserem eigenen Leben verstehen und auf die Wirksamkeit unseres Handelns in unserer Umwelt vertrauen können. Auch eine Gesellschaft kann resilient sein, wenn sie sich – statt nur Feuer zu löschen – aktiv um die schützenden und stärkenden Faktoren kümmert, Ressourcen aufbaut und nährt, bevor alles auseinanderdriftet.
Aus der Resilienzforschung gilt die Faustregel, dass ein Schutzfaktor zwei bis drei Risikofaktoren aufhebt. Das Fehlen von Schutzfaktoren wiegt also schwerer als das Vorhandensein von Risikofaktoren – die wir ohnehin selten ändern können. Auf die Gesellschaft übertragen bedeutet dies, dass wir mit dem Aufbau von Schutzfaktoren eine Gesellschaft stabilisieren können und ihr für Zeiten des Wandels den Rücken stärken.