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Kapitel 1
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AMANDA
Zwei Jahre später
Ich fühlte mich furchtbar ... schwach und ausgelaugt. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag geschlafen, doch es gab Regeln.
»Amy, ich bin mir sicher, Matt versteht es, wenn du liegen bleiben möchtest.« Abby sank neben mir auf die Matratze, die zwischen Schutt, abgebröckelter Farbe und dem Müll der anderen lag.
»Wir wissen beide, Matt hasst mich. Ich könnte im Sterben liegen, er würde mich losschicken«, brachte ich leise hervor und hustete.
Es war Mitte Oktober und bereits fürchterlich kalt in Berlin. Nachts kamen die Temperaturen dem Gefrierpunkt schon ziemlich nahe. Auch wenn das alte Abbruchhaus in Mitte, das wir vor einigen Monaten gefunden hatten, uns bedeutend mehr Schutz vor dem Wetter bot als ein Platz unter der Brücke, war es dennoch eiskalt. Die beiden dünnen Decken, die ich besaß, hielten mich nur selten wirklich warm.
»Ich kann mit Matt sprechen, wenn du möchtest«, sagte meine beste Freundin und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie ließ ihre Finger über meine Stirn gleiten und seufzte leise. »Du hast Fieber. Ich werde dich auf keinen Fall mit rausnehmen.«
»Das hast du nicht zu bestimmten, Abby«, donnerte Matt plötzlich und kam auf uns zu. »Steh auf!«
Abby tat sofort, was er sagte, und trat zur Seite, während ich mich vorsichtig aufrichtete. Alles drehte sich, mir war warm und kalt zugleich und mein Kopf drohte zu explodieren. Matt, der sich zunächst bedrohlich vor mir aufbaute, beugte sich plötzlich zu mir und zog mich grob am Arm nach oben. Er gehörte zu den Menschen, der nichts auf die Gefühle anderer gab. Schon als ich ihn kennengelernt hatte, waren seine Augen tot gewesen. Die einzige Nuance, die man gelegentlich in ihnen erkannte, war Unberechenbarkeit ... vor allem, wenn er wieder etwas genommen hatte.
»Matt, du tust mir weh«, stöhnte ich auf, doch das interessierte ihn nicht. Das tat es nie.
Matt war mindestens drei Köpfe größer als ich und bedeutend stärker. Er trainierte regelmäßig mit den anderen Jungs, unter dem Vorwand, dass sie uns beschützen könnten, sollte es einmal ungemütlich werden. Er war so etwas wie der Anführer unserer kleinen Gruppe, was kein Wunder war, schließlich lebte er bereits auf der Straße, seit er mit dreizehn Jahren von zu Hause weggelaufen war. Das war nun zwölf Jahre her. Er machte uns immer wieder klar, dass er die meiste Erfahrung hatte und dass wir einfach nur zu gehorchen hätten.
Matt und ich waren schon kurz nach unserem Kennenlernen aneinandergeraten. Ich war nie ein Mensch gewesen, der den Mund hielt, wenn ihm etwas nicht passte. Zumindest früher nicht. Heute sah das ein bisschen anders aus. Ich legte mich nicht mehr mit Matt an. Nicht, weil ich sein Verhalten plötzlich tolerierte, sondern weil ich nur die Tage hinter mich bringen wollte. Das Leben auf der Straße hatte an meinen Nerven gezerrt und ich hatte einfach keine Kraft mehr, mich gegen alles und jeden aufzulehnen.
Wie bereits erwähnt, es gab Regeln – Matts Regeln – und ich akzeptierte sie, weil ich es einfach musste.
»Also Prinzessin Amanda, welches Wehwehchen haben wir, dass wir unsere Aufgabe heute nicht erfüllen wollen?«, spottete Matt und schob mich an die Wand, seine Hand fest um meinen Arm gelegt.
»Keins, Matt, überhaupt keins«, erwiderte ich leise und verzog mein Gesicht vor Schmerz, da er seinen Griff verstärkte.
»Matt, ich werde sie nicht mitnehmen«, schaltete sich nun Abby ein. Sie und Matt kannten sich länger und verstanden sich auch besser. Manchmal kam es sogar vor, dass er auf sie hörte. »Sie ist erkältet und mir absolut keine Hilfe.«
»Erkältet also«, grummelte er und sah von mir zu Abby und wieder zu mir. Mit der freien Hand umschloss Matt mein Gesicht und drückte meinen Kiefer zusammen. Er zwang mich, ihn anzusehen. Der Blick in seine Augen verriet mir, dass er erst vor Kurzem etwas genommen haben musste. Drogen und Alkohol waren eine sichere Zuflucht für Straßenkinder. Auch ich hatte mich anfangs oft betrunken, genauso wie ich das Zeug probiert hatte, dass die anderen so nahmen.
Es machte mich kaputt, das hatte ich schnell bemerkt und doch ... manchmal blieb es einfach die Garantie für einen guten Tag.
»Matt, komm schon. Ich kann allein Kohle und Essen besorgen. Amy soll sich ausruhen.« Abbys Stimme nahm einen panischen Unterton an, der mir nicht entging, Matt aber sehr wohl. Er war wieder in dieser Phase, in der man nicht wusste, was die Drogen als Nächstes mit ihm anstellten.
»Einen Scheiß wirst du, Abby. Seit diese Göre hier aufgetaucht ist, macht sie nur Probleme«, schrie Matt, löste seine Hand von meinem Arm und schlug gegen die Wand neben meinem Kopf. Ich zuckte instinktiv zusammen, doch das ermutigte ihn nur, den Druck auf meinen Kiefer zu erhöhen. »Verpiss dich, Amy, und krepier an deiner Scheißerkältung!«
Unsanft schob er mich von sich weg und ich stolperte in Abbys Arme. In meinem Kopf drehte sich alles und ich brauchte einen Moment, um wieder zu mir zu finden.
»Verschwindet! Alle beide!«, brüllte Matt und Abby zog mich schnell weg von ihm.
»Amy, komm«, flüsterte sie und ich folgte ihr wie in Trance. Wir eilten die Treppenstufen nach unten und aus dem Haus heraus. Hätte Abby mich nicht mit sich gezogen, ich hätte keinen Schritt allein gehen können. Mir war schwindlig, schlecht und kalt ... so schrecklich kalt.
»Wir gehen zum Alex, dort gibt es ein kleines, nicht so teures Café. Ich ... ich habe noch ein bisschen Geld, das ich vor Matt versteckt habe.«
»Ich will nicht, dass du dein Geld für mich ausgibst«, flüsterte ich schwach, doch meine beste Freundin schüttelte nur den Kopf. »Du hast es sicher aus einem bestimmten Grund zurückgehalten.«
»Das ist jetzt überhaupt nicht wichtig.« Abby schenkte mir ein besorgtes Lächeln.
Als wir einige Minuten später an dem Café am Alexanderplatz ankamen, brachte Amy mich hinein. Sie schob mich behutsam auf einen bequemen Sessel an der Heizung, drückte mir das Geld in die Hand und bestellte einen Pfefferminztee für mich.
»Du bleibst hier, bis ich dich holen komme, okay? Ich beeile mich.«
»Danke!«
»Nicht dafür«, sagte meine beste Freundin und lächelte sanft. Sie verschwand aus dem Café und kurze Zeit später brachte die Kellnerin mir meinen Tee.
Ich spürte ihren abschätzigen Blick, doch dieser prallte schon lange an mir ab.
»Danke«, flüsterte ich dennoch freundlich, nachdem sie die Tasse abgestellt hatte. Ich wusste genau, was sie dachte, doch offenbar hatte sie zu viel Anstand, es auszusprechen.
Seufzend nahm ich die Tasse in die Hand, um mich zu wärmen. Ich kugelte mich in dem riesigen Sessel zusammen, in der Hoffnung, dass niemand mich bemerken würde.
Doch wieder einmal sollte ich mich täuschen.