Читать книгу AMANDA - Sabrina Heilmann - Страница 9
Kapitel 2
ОглавлениеLUCA
Wie jeden Abend, wenn ich aus dem Büro kam, holte ich mir in Melindas Café noch einen Kaffee. Es war der Beste in ganz Mitte und ich brauchte ihn, um runterzukommen, so seltsam das klingen mochte.
Nach meinem Architekturstudium in meiner eigentlichen Heimat Italien kam ich nach Berlin, wo ich direkt den Auftrag für einen neuen Bürokomplex bekam. Ein Jahr arbeitete ich als Architekt, bevor ich ein Immobilienbüro gründete. Durch den Abschluss geschickter Deals machte ich mir schnell einen Namen und gehörte mittlerweile zu Berlins erfolgreichsten Jungmillionären.
Meine Eltern, die nach wie vor in Italien lebten, führten ein millionenschweres Modelabel. Auch wenn ich wusste, dass ich es eines Tages erben würde, hatte ich mich nie auf dem Erfolg meiner Familie ausgeruht. So war ich auch nicht erzogen worden. Ich wollte es immer allein schaffen, und das gelang mir.
Ich öffnete die Tür des kleinen Cafés und sah mich kurz um. Einen Moment streifte mein Blick ein junges Mädchen in der Ecke, das zusammengekauert in einem Sessel saß und verloren aus dem Fenster sah. Doch ich schenkte der Situation nicht mehr Bedeutung als nötig.
»Hey.«
»Hey Luca«, begrüßte mich Melinda und bereitete mir, ohne zu fragen, einen großen Kaffee zu. »Du siehst gestresst aus.« Sie sah einen Moment von ihrer Kaffeemaschine nach oben.
»Frag nicht, mein Buchhaltungssystem ist heute komplett zusammengebrochen. Die Mädels aus der Abteilung sind beinahe durchgedreht und ich durfte den Spaß ausbaden.«
Sie lachte leise und reichte mir den Kaffeebecher über den Tresen. Ich gab ihr das Geld und öffnete mir eine Tüte Zucker, die ich mit etwas Milch in den Kaffee gab.
»Und? Habt ihr es wieder hinbekommen?«
»Ja, zehn Minuten vor Feierabend. Eigentlich bräuchte ich nach diesem Tag zehn von deinen wunderbaren Kaffees.«
Melinda schenkte mir ein zufriedenes Lächeln. Sie war hübsch, wenn sie lachte. Und obwohl ich schon seit Jahren hierherkam und sie ungefähr in meinem Alter war, hatte ich sie bisher nie nach einem Date gefragt. Warum eigentlich nic...
Die Tür wurde mit einem lauten Knall aufgeschlagen und alle Augen flogen zu einem großen, trainierten Typen in Springerstiefeln.
»Ist das dein Verständnis von Zusammenhalt?«, brüllte er durch den Laden und ging auf das Mädchen zu, das nach wie vor zusammengerollt in dem Sessel saß. Erschrocken sah sie ihn an, als er sie grob am Arm packte und nach oben zog.
»Ich wusste, dass sie Probleme machen würde«, grummelte Melinda und wollte gerade hinter dem Tresen hervorgehen.
»Lass mich das machen«, sagte ich schnell und Melinda nickte dankbar. Ich ging auf den Typen zu, der gerade dabei war, das Mädchen, das ihm eindeutig unterlegen war, aggressiv aus dem Laden zu schleifen.
»Lass sie los«, sagte ich erstaunlich ruhig, doch er ließ sich nicht von mir beirren.
Das Mädchen blickte mich hilflos an. Ihr schmales, herzförmiges Gesicht war blass, ihre braunen Augen wirkten leer und durch die dunklen Ringe kraftlos. Sie trug eine schwarze, verschlissene Jeans, einen weiten Pulli mit einem Aufdruck und eine ausgeblichene rote College-Jacke. Die langen Strähnen ihres hellbraunen Haares fielen ihr ins Gesicht, als der Typ sie herumwirbelte und aus dem Laden schubste.
»Sie hat noch nicht bezahlt«, rief Melinda mir nach, doch das war gerade meine geringste Sorge. Dieser Typ schien, als wäre er zu allem fähig.
»Ich habe gesagt, du sollst sie loslassen!«, sagte ich etwas lauter und bekam endlich seine Aufmerksamkeit.
»Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, du Spinner«, beleidigte er mich.
Als mich der hilflose Blick des Mädchens traf, durchzog mich ein Gefühl von Vertrautheit. Wo hatte ich sie nur schon einmal gesehen?
»Komm her«, flüsterte ich und streckte ihr die Hand entgegen. Sie wirkte ängstlich und traute sich kaum, einen Schritt auf mich zuzumachen.
»Amanda, mach keinen Fehler«, knurrte der Typ, doch sie reagierte nicht auf ihn. Sie sah mir starr in die Augen und wandte ihren Blick nicht ab.
Ihr Name hallte wieder durch meinen Kopf und löste ebenfalls Vertrautheit aus.
Amanda.
Und plötzlich wusste ich es. Es war der jährliche Dezemberball vor zwei Jahren gewesen, als ich sie kennengelernt hatte.
Amanda Thiel, die Tochter des bekannten Berliner Architekten John Thiel. Wir hatten uns an diesem Abend kurz unterhalten, damals war sie gerade sechzehn Jahre alt gewesen. Obwohl sie zehn Jahre jünger als ich selbst war, hatte an diesem Abend dennoch eine Reife an den Tag gelegt, die mich beeindruckt hatte.
Doch dieses Mädchen, das nun vor mir stand, hatte kaum mehr etwas mit ihr gemeinsam. Sie wirkte kränklich und kraftlos, sie strahlte nicht mehr, ging stattdessen unter wie ein Schatten.
Ich dachte an unsere letzte Begegnung, als sie mir beinahe vor das Auto gelaufen war und mich mit diesem toten Blick angesehen hatte. Das komplette Gegenteil zu dem strahlend schönen und glücklichen Mädchen, von dem ich mich zuvor verabschiedet hatte.
»Amanda, komm her«, sagte ich mit Nachdruck und ging einen Schritt auf sie und den Typen zu. Plötzlich wollte ich noch mehr, dass sie Abstand zwischen sich und diesen Idioten brachte.
Als sie wieder nicht reagierte, löste ich meinen Blick von ihr und sah drohend zu dem Typen, der sich wie ein Pitbull vor ihr aufgebaut hatte.
»Wenn du nicht in den nächsten Sekunden verschwindest und das Mädchen in Ruhe lässt, rufe ich die Polizei.« Meine Stimme war ruhig, ließ aber keinen Widerspruch zu. Einige Sekunden hielt er meinem Blick stand, wandte sich aber schnell ab und packte Amandas Kiefer.
»Ich kann nur für dich hoffen, dass du dich nie wieder in meiner Nähe blicken lässt«, raunte er ihr zu. »Ansonsten bringe ich dich um.«
Mit einer schnellen Handbewegung schleuderte er ihren Kopf zur Seite, stieß sie an und verschwand. Amanda taumelte, doch ich war schnell bei ihr und zog sie an mich. Kaum dass ich bemerkte, wie ihre Augen flatterten, sank sie in sich zusammen und zog mich mit zu Boden.
»Amanda, hey.« Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und berührte ihre Stirn. Sie war kochend heiß.
»Luca, soll ich einen Arzt rufen?« Melinda war aus dem Café gekommen und schaute besorgt zu uns.
»Kein ... keinen Arzt ... bi.. bitte«, sagte Amanda mit kratziger Stimme und klammerte sich schwach an mich. Vorsichtig öffnete sie die Augen.
»Dann lass mich dich nach Hause bringen«, flüsterte ich.
»Nicht nach Hause ...« Vorsichtig richtete sie sich auf und stützte ihren Kopf. »Bitte, ich muss ... ich muss Abby Bescheid sa...«
Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und ich spürte, wie ihr Körper erneut in sich zusammensackte.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Melinda wissen, während ich mit Amanda auf dem Arm vorsichtig aufstand.
»Ich nehme sie mit zu mir nach Hause. Ich kenne sie ... und ihre Eltern. Was schuldet sie dir noch?«
Melinda machte eine abwinkende Handbewegung. »Bring sie einfach nur aus der Kälte raus.«
Ich nickte. »Bis morgen, Melinda.« Sie schenkte mir ein Lächeln und ich steuerte direkt auf ein Taxi zu. Auch wenn ich in einem Haus hier in Mitte wohnte, und deswegen oft zu Fuß zur Arbeit ging, würde ich mit Amanda auf dem Arm zu lange brauchen. Sie musste dringend in ein Bett.
Der Taxifahrer hatte beobachtet, was passiert war, und stellte deswegen keine Fragen. Die Fahrt dauerte nur drei Minuten. Ich bezahlte den Mann und stieg mit Amanda aus, die langsam wieder zu sich kam.
»Es ist alles gut«, flüsterte ich und drückte sie fester an mich. Es war eine Kunst, meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche zu bekommen und die Tür aufzuschließen, doch es gelang mir. Mit dem Ellbogen betätigte ich den Knopf des Fahrstuhls, der uns in die vierte Etage brachte.
Kaum dass ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, legte ich sie auf meine große, weiße Eckcouch, zog ihr die Schuhe von den Füßen und deckte sie zu.
Seufzend betrachtete ich Amanda und musste wieder an den Abend vor fast zwei Jahren denken. In der vergangenen Zeit hatte ich mir oft die Frage gestellt, ob ich in dieser Situation richtig gehandelt hatte. War es schlau gewesen, sie einfach gehen zu lassen, ohne zu wissen, was eigentlich passiert war?
Ich weiß nicht warum, aber an diesem Abend hatte Amanda ein Gefühl bei mir ausgelöst, das ich nicht beschreiben konnte. Ich wollte sie beschützen, auf sie aufpassen und für sie da sein ... wie ein großer Bruder für seine kleine Schwester.
»Was ist dir nur passiert, Amanda?«, fragte ich leise in den Raum hinein und wusste bereits in diesem Moment, dass ich sie nicht mehr aus den Augen lassen würde. Nie wieder.